Religion: Mutter

OFT GEHÖRTE ARGUMENTE Barbara Vinkens Kulturgeschichte der deutschen Mütter

Die heilige Dorothea von Montau, Mutter von neun Kindern, soll Nächte hindurch träumend am offenen Fenster gesessen haben, "entzückt in großer hitziger Liebe zum himmlischen Bräutigam". Die brutalen Misshandlungen ihres irdischen Gatten erduldete Dorothea fröhlich, trotz der Schwangerschaften fastete sie streng und kasteite ihren Leib. Abgelenkt von himmlischen Entrückungen vergaß sie es bisweilen, ihre Kinder zu stillen oder die Hausarbeit zu verrichten. Dorothea von Montau war eine Auserwählte, fälschlicherweise in irdischer Ehe gefangen. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie in ein Kloster, sie lies sich später gar dort einmauern in der glücklichen Gewissheit, dass sie die Braut Christi geworden sei.

Solche Geschichten waren in vierzehnten Jahrhundert noch möglich. Seit der Reformation aber - so argumentiert Barbara Vinken in ihrem neuen Buch - war Schluss mit dem himmlischen Bräutigam. Luther holte die mystische Verzückung, die mit Sinnlichkeit durchsetzte geistliche Keuschheit, auf die profane Erde nieder und versperrte damit für etliche Frauen eine Existenzweise jenseits von Ehe und Mutterschaft. "Mit der Keuschheit als religiösem Ideal und der Möglichkeit zu geistlicher Liebe verschwanden auch die Frauen aus dem öffentlichen Leben." Die patriarchale Familie wurde zur einzig möglichen Option.

Der Protestantismus, so lautet Vinkens These, ist die Wiege des "Dogmas der deutschen Mutter", das uns heute noch - und ganz im Gegensatz zu unseren europäischen Nachbarn - fest in seinem Bann hält und Fortschritte in der Gleichstellungspolitik nachhaltig verhindert. Vinken will wissen warum. Warum deutsche Familienpolitik eher auf bezahlte Hausarbeit als auf staatlich unterstützte Kinderbetreuung setzt, warum emanzipierte Frauen sich freiwillig in Teilzeitarbeit und lange Erziehungsurlaube fügen, warum für deutsche Frauen Beruf und Familie immer noch zu einer Entweder/ Oder-Entscheidung werden und warum sich hierzulande hartnäckig das Bild der Karrierefrau nicht mit dem der Mutter vereinbaren lassen will.

Der Verdacht, dass bei unserer Vorstellung von Mütterlichkeit kulturelle Erblasten im Spiel sind, dass eine historische Tiefenstruktur die öffentliche Kindergartenbedarfsplanung lenkt, treibt Vinken in ihre archäologische Untersuchung. Über die Reformation, Rousseaus Hymnus der stillenden Mutter, Pestalozzis pädagogische Unterweisung zur Herzensbildung der Frauen, den "Luisenmythos" um die preußische Königin, die bürgerliches Idyll bei Hofe einführte, leitet Vinken uns zur Politik der frühen Frauenbewegung und zeigt deren Kontinuitäten mit dem nationalsozialistischen Fruchtbarkeitskult. Vinken liest das Ideal der Mutter jeweils in seiner politischen Funktion, und sie liest es immer im Rahmen einer religiösen Ikonographie. Das Bild der Mutter ist krypotreligiös besetzt und "deutsche Mutter zu sein ist eine moderne Form von Religiosität."

Interessant ist das Argument, mit dem Vinken ausgerechnet in der Reformation die Wurzel des Mutterkultes entdeckt. Immerhin hatten die Protestanten einiges für die Bildung der Frauen getan und gemeinhin ist es eher der Gegenspieler Katholizismus, der in Sachen Frauenrechte als finsteres Mittelalter gilt.

Die Crux sieht Vinken in der Keuschheit. Da der Protestantismus hierin kein Zeichen von Heiligkeit mehr sah, verbaute er den Weg zu transzendenter, spiritueller Sinnlichkeit und unterband symbolische Vielfalt. "Es gibt keine protestantische Spiritualität, in der Jesus etwa die stillende Mutter oder die männliche Seele Braut Christi wäre", schreibt Vinken, "alles Weiblich-Sinnliche, wurde nicht mehr symbolisch verstanden, sondern verwies jetzt umstandslos auf Sex. Luthers Religion war eine erotikfreie männliche Angelegenheit, die am Buchstaben klebte." Mütterlichkeit - die als "geistliche" durchaus auch Männern hätte zukommen können - war so auf das platte physische Gebären reduziert. Das Imaginäre aufs Reale zu reduzieren, bringt nicht immer nur Gutes.

Die "geistliche Mütterlichkeit" wird später freilich wieder auferstehen. An Pestalozzi, der Romantik aber auch an präfaschistoiden Mutterapologeten wie die Autorin Ina Seidel, zeigt Vinken, wie katholische Elemente des Marienkultes protestantisch gereinigt im Bild der herzgeleiteten Mutter aufgehen.

Vinkes Abhandlung liest sich leicht und flüssig, doch einen Nachteil hat das Buch: Es ist zu locker gestrickt. Alle hier ausgebreiteten Versatzstücke glaubt man schon irgendwo einmal gelesen zu haben, den patriarchalen Luther, den fatalen Naturglauben Rousseaus, den Mutterkult der frühen Frauenbewegung, die Mütterideologie als arbeitsmarktpolitisches Regulans und die Mutter als historisches Konstrukt. Stark ist Vinken in ihren ikonographischen Lektüren, doch die politischen Thesen, die aus all dem folgen sollen, bleiben eigentümlich blass.

Die Rede vom "deutschen Sonderweg" in Sachen Mutterschaft, mag radikal gemeint sein, allein sie hätte nur Sinn gemacht, wenn Vinken sie auch für die Zeit nach 1945 differenziert nachgewiesen hätte. Der lapidare Hinweis, dass "seit Kriegsende viel Wasser den Rhein heruntergeflossen" sei, sich in Sachen Kinderbetreuung aber hierzulande seit zweihundert Jahren nichts getan habe, taugt wenig. Gewünscht hätte man sich eine Analyse der Mutterbilder gerade für die Gegenwart. Stattdessen präsentiert uns Vinken oft gelesenes Zahlenwerk zum weiblichen Anteil an Teilzeitarbeit und ein holzschnittartiges, fast dualistisches Weltbild: In der DDR war man schon weiter und in Frankreich leben Mütter freier.

Vinken baut sich den Popanz einer (west-) deutschen Mutter und einer deutschen feministischen Bewegung, die reiner Mütterfeminismus sei. Es gibt solche Strömungen. Allerdings sind sie bei weitem nicht die einzigen.

In der Verengung des Blicks lesen sich die Einwürfe wie die Klage einer gestressten Frau, die endlich Ruhe vom schlechten Mütter-Gewissen haben will. Das ist ein berechtigtes Anliegen. Vinken hat Recht. Sie hat Recht mit der Forderung nach der Gleichheit der Geschlechter, sie hat Recht, wenn sie die fatale Verwechslung von Mütterlichkeit mit Dauerpräsenz, Mutter-Kind Symbiose und Selbstaufopferung denunziert, sie hat Recht mit der Warnung vor einer Familienpolitik, die mit bezahlter Hausarbeit nur die Mütter-Reservate stützt und sie hat Recht mit der Forderung nach Ganztagskrippen und Ganztagsschulen. Alles d'accord. Allein den Aufwand von 330 Seiten Text rechtfertigt dieses Fazit nicht. Die Analyse der "historischen Tiefenstruktur" und der politische Impuls zu Gleichberechtigung klaffen unmotiviert auseinander. Das eine wäre für das andere nicht nötig gewesen. Wenn zum Schluss herauskommt "mehr Kitas für alle", dann ist das schlicht zu wenig.

Barbara Vinken: Die Deutsche Mutter. Piper-Verlag, München 2001, 330 S., 44,- DM.

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