Grenzenlose Hingabe, unbedingte Fürsorge. Festhalten, umhüllen, umschließen, tragen, bergen, wiegen. Gefühl, reines Gefühl. "Es hat", sagt Pit, "viel mit Leidenschaft zu tun."
Die beiden öffnen mir gemeinsam die Tür. Pit ist schmächtig, er trägt Jogginghosen. An Gerd, untersetzt und kräftiger, fallen die hellen blaugrauen Augen auf - kurzgeschorene Haare haben sie beide. Im Wohnzimmer hängt ein Stalin im goldenen Rahmen über dem Schrank, im Flur eine Collage aus DDR-Fahne, einem alten Hammer und einer Sichel an deren Spitze ein kleines Christuskind hängt: wie ein Emblem der Biografien von Pit, 32, aus dem Unterallgäu, und Gerd, 35, aus der Oberlausitz. So finden sich Ost und West in Berlins ehemaliger Stalinallee.
Dass ich komme, hat einen ganz bestimmten Grund. Zum Beispiel, dass diese Wohnung nicht nur vier Zimmer hat, sondern ein fünftes, das man nicht sofort sieht; den Grund, dass in zwei der offen sichtbaren Zimmer Käfige stehen. Der eine ist blau und könnte auch ein Tischfuß sein, über ihm ist eine große Holzplatte angebracht, der andere Käfig aus kaltem Grau steht neben dem Bett im Schlafzimmer, er ist genau so bemessen, dass Stiefel durch die Gitterstäbe passen.
Gerd ist der Meister, Pit der Sklave - eine Liebesbeziehung. Wir trinken Tee am Wohnzimmertisch, ich sitze mit Blick auf den Stalin. Sadomasochismus (SM) ist ein Spiel mit festen Regeln und "spielen" ist auch der Begriff, der gebraucht wird, um zu beschreiben, was geschieht bei einer "Session", dem Drama von begrenzter Dauer mit fest verteilten Rollen. Gerd und Pit sind seit vier Jahren zusammen, kennen gelernt haben sie sich über das Internet, diese Maschine, die Phantasien wahr macht, und lieben gelernt haben sie sich, als Gerd Pit den ersten Katheter setzte. Viel hatten sie vorher gechattet, kannten ihre Wünsche, Vorstellungen, im Netz redet man mehr. Mehr und über andere Dinge als gewöhnlich. Als sie sich dann in Wirklichkeit trafen, waren sie hochstaplerisch, erzählt Gerd, "wir sagten: wir machen mal ohne alle Limits los, und ich hab ihm fix einen Katheter reingeschoben. Da ist er regelrecht zusammengebrochen. Er hat sich an meine Stiefel gekuschelt und mir ist das Herz aufgegangen."
Pit sucht nicht den Schmerz in erster Linie - einen Katheter gesetzt zu bekommen, tut nicht besonders weh - ihn erregt die Überwältigung, ihn erregt, wenn er die Kontrolle über seine Körpergrenzen verliert an einen anderen, der ihn fesselt, per Maske seine Atmung regelt oder seinen Urin. Dann, sagt Pit, "fühle ich mich total schwach", hingegeben, lustvoll. Wenn er einmal im "mentalen Slavespace" sei, könne er auch Schmerz erotisieren. Slavespace - als wäre dieser Zustand ein Raum, den man betritt und wieder verlässt, ein Raum, in dem andere Regeln und vor allem andere Gefühle herrschen, starke Gefühle, reine Gefühle, kindlich-tabulose und sexuelle. Gerd wird es im Verlauf des Gesprächs auch so ausdrücken: SM sei "ein Paralleluniversum."
Den eigenen Urin nicht halten können ist ein Extremzustand. "Ich schäme mich dann auch sehr", sagt Pit, doch es gehe darum, die Scham zu überwinden. Sich überlassen, sich auflösen, sich angenommen fühlen. Ganz. Eingesperrt in einen Käfig fühlt Pit sich, wenn´s gut geht, geborgen. Dabei ist er ein Kopfmensch, ein rationaler Typ mit klarem, scharfen Verstand, und - wie er sagt - mit einem Hang zum Gemein-Sein. Gerd, der in jedem dritten Satz das Wort "genüsslich" unterbringen kann, wirkt dagegen wie ein gütiger Brumm-Bär. Was die beiden voneinander erzählen, hört sich nicht gewaltsam an, eher als spielten sie ein Spiel um Bitten und Erlauben, um Grenzen, Schmutz und um Regression. Das geht bis in die Sprache hinein, die kindlich wird oder ganz aussetzt. Ein Hund, der mit der Schnauze sein Halsband apportiert, auch das kann Pit sein. Oder ein kleiner Bruder. SM lebt von der Hierarchie, dem klaren Rollenunterschied top oder bottom, oben oder unten. Die Künstlichkeit der Situation macht die Dominanz zum erotischen Genuss. In letzter Zeit habe sich das Meister/Sklave-Spiel eher zu einem von großer Bruder/kleiner Bruder hin verschoben, erzählen die beiden, denn darin sei der Grad des Machtgefälles flexibel veränderbar - je nach phantasiertem Altersunterschied. Wenig groß war der, als sie in diesem Abbruchhaus im Berliner Osten herumkletterten und ein Pissoir mitnahmen. "Wie die Schatzgräber", sagt Gerd. "Im Sonnenuntergang trugen wir das Pissbecken nach Hause, und da hat Pit mich ganz glücklich angeguckt und gesagt: Welch schöne Dreckschweine wir doch sind. Das liebe ich."
Genau dieses Pissoir hängt jetzt in dem besagten fünften Zimmer der Wohnung, einer umgebauten Kammer ohne Fenster und zugänglich nur durch eine Schranktür. Es ist ein Raum für Sex. An seinem Ende hängt an Ketten ein "Sling", Dildos in diversen Formen und Größen stehen herum, Stöcke, Stiefel, allerlei Werkzeug. Es ist ein "Spielzimmer" im wahrsten Sinne des Wortes, ein Zimmer für Bedürfnisse, die jenseits sind von Erwachsenwerden. Vielleicht führt SM ja den Sex in die archaischen Schichten zurück, aus denen er kommt: die frühesten Bindungen, die Familie mit ihrer maßlosen Abhängigkeit, mit ihrem ungeschiedenen Gefühl von Liebe und Hass, von Nähren und Begehren.
Eines der aufregendsten "Spielzeuge" ist der Keuschheitsgürtel, den Pit hin und wieder trägt, manchmal zwei bis drei Tage und Nächte am Stück. Der Gürtel, maßangefertigt, sieht aus wie ein schön geformter Tanga aus Metall, eine Röhre umfasst den Penis, nicht aber die Hoden. Pit trägt ihn so selbstverständlich wie einen Slip, und die beiden erzählen, wie lange sie darauf gewartet haben, auf diese Spezialanfertigung. "Es gibt den auch auf rustikal gemacht", sagt Gerd, der Connaisseur - er hat den Schlüssel. Ein zweiter Schlüssel ist hinten am Gürtel angebracht, zur Sicherheit, für alle Fälle. SM ist eben kontrollierter Kontrollverlust.
Der Keuschheitsgürtel unterbindet die Erektion. Pit, ganz der Intellektuelle, denkt an Foucault: SM entthrone den König Sex und setze an seine Stelle "Plaisir". Beim Tragen des Keuschheitsgürtels geht die erotische Empfänglichkeit vom Genitale weg, sagt Pit, sie geht auf den ganzen Körper über, der Aufschub macht unglaubliche Lust. "Man muss ihn dann nur umarmen und er ist auf 180", sagt Gerd. Für ihn besteht der Reiz in der absoluten, auch analen Verfügbarkeit seines Geliebten, für Pit besteht er in dem Spiel von Verbot und Entlastung. Er, der sehr streng körperfeindlich und mit dem Verbot der Selbstbefriedigung aufgewachsen ist, wiederholt das Szenario seiner Kindheit mit umgekehrten Vorzeichen: Der Meister des Verbots ist zugleich der Meister seiner Lust. Gerd wird ihn fesseln, Gerd wird ihn befreien, Gerd wird ihn befriedigen. Eine von Pits frühesten SM-Phantasien war, dass er von einer Jungenbande gekidnappt und sexuell traktiert werde. "Die machen genau das mit mir, was ich gern machen würde, aber nicht darf. Da kann ich sagen: ich bin nicht schuld." - "Und", fügt Gerd ein, "im Prinzip kannst du sogar zu Mama gehen und sagen: Guck mal, was die mit mir gemacht haben. Dann nimmt die Mama dich dafür in Schutz und es war trotzdem geil." Dem Über-Ich ein Schnippchen schlagen, wenn das nicht katholisch ist. Und doppelter Lustgewinn. Lust, diese anarchische Krake, kann siedeln wo sie will, kann das Verbot aufheben, indem sie es in Genuss verwandelt. Das ES, wusste schon Freud, kennt keine Negation.
"Ich mag es feucht, heiß und eng", sagt Pit, wenn er seine Lüste beschreibt, Gerd formuliert: "Ich mag alles, was invasiv ist." Auf SM-Partys trägt er gerne eine Metzgerschürze und stellt einen Werkzeugkasten vor sich hin, der Spritzen, Nadeln und Handwerkszeug für Piercing enthält. Er schneidet gerne, möchte am liebsten unter Pits Haut und sich gleichzeitig ganz um ihn herumwinden, alles in seinen schützenden Besitz nehmen. "Sehr mütterlich", lacht Pit. Und Gerd erklärt: "Eigentlich ist jede SM-Session darauf ausgelegt, eine bestimmte Art von Orgasmus zu produzieren, egal ob das übers Schlagen, Schneiden, Fisten (Penetration mit der Faust) oder sonst was passiert: man muss den Schmerz so dosieren, dass er sich langsam steigert wie ein Rausch." Das Finale liegt darin, dass man abbricht und den Sklaven befreit. "Dann kommt dieses Zusammenbrechen. Als wenn der Marathon gelaufen wäre, man ist am Ziel und es ist Feierabend, die Erlösung. Es ist immer derselbe Ablauf." Hier liegt Gerds Lust, er ist hingerissen von seinem Geliebten, wenn er schwach ist und dankbar: "Man kann das vielleicht mit so nem kleinen Hundewelpen vergleichen das sich so zusammenringelt in einem warmen Nestchen, nah an der Mutter dran."
Wie viel hat SM überhaupt mit Sex zu tun? Es sei nicht zu trennen, sagen die beiden. Sie jedenfalls hätten viel Sex, ungewöhnlich viel für eine schwule Beziehung von vier Jahren. "Monogam" leben sie nicht, aber alles geschieht nach Absprache, und SM nimmt einen guten Teil ihres Lebens ein. 30 bis 40 Prozent rät Gerd, "spontan würde ich mal sagen, es ist ein Hobby". Es ist aber nicht so, als wäre das das ganze Leben, Pit will nicht darauf reduziert werden. SM sei viel intimer als das Schwulsein, das für ihn gleichzeitig Politik bedeutet. Eine Zeit lang hatten Pit und Gerd die Vorstellung, sie könnten eine so genannte 24/7-Beziehung führen, was heißt, dass der eine Teil immer Meister, der andere immer Sklave ist, rund um die Uhr. Doch das geht über die Grenzen, die privaten, die beruflichen und die politischen. Immerhin hat das Paar normalerweise "eher diese modernen oder postmodernen Ansprüche an Gleichberechtigung. Und 24/7 entspricht ja eher dem klassischen heterosexuellen Modell". Dennoch lässt sie die Idee nicht los. Vielleicht, überlegt Pit, müsste er eine Art Sabbatical nehmen, um das Denken, das seine Profession ist, abschalten zu können. Vielleicht sollte er in diesem Sklaven-Jahr einen handwerklichen Beruf erlernen, Metzger zum Beispiel, das fände Gerd prima: "Pit wäre dann quasi sein eigener Fetisch." Da sitzen sie also, zwei arrivierte Akademiker mit ihrer lustvoll besetzten Idee vom Proletariat.
Über Pit und Gerd gibt es bereits ein Radio-Feature, eine Freundin der beiden hat es gemacht, um sich an die Sache zu gewöhnen. Treat me like a dog ist ein gutes Hörspiel, ohne Wertung, in tolerantem Gestus. Doch lässt es das schwule Paar auch ratlos zurück: "Wenn unterm Strich herauskommt: Ich bin ein Perverser, aber ein netter Perverser, dann ist irgendwas nicht richtig gelaufen", sinniert Pit. Das ist die Tücke der gut gemeinten Aufklärung, an deren Ende es so aussieht, als unterscheide sich SM im Grunde nicht von der Mitgliedschaft in einem Kleingartenverein. Was nicht falsch ist. Aber eben auch nicht ganz richtig. Perversion ist kein Kuscheltier. Wie also darüber schreiben?
Fassen wir zusammen: Gerd schließt Pit in den Käfig, er macht ihm Einläufe, er spickt ihn mit Nadeln, er traktiert ihn mit Strom, er hat ihm das Genitale an der empfindlichsten Stelle gepierct - Prinz Albert nennt sich der Ring an dieser Stelle -, er lässt ihn wie einen Hund neben sich sitzen, er besitzt den Schlüssel für das Schloss an der Kette, die um Pits Hals liegt. Pervers heißt "umgekehrt" mit Lust belegen, was tabu ist, was angst und verzweifeln macht, immer noch. "Mein Masochismus", sagt Pit, "ist wie das Kind in mir. Die Sehnsucht nach Hingabe an Autorität, die Faszination von Tod und Selbstauslöschung."
SM ist Überwindung, ein Exorzismus, ist reines Gefühl als gemischtes. Pit schämt sich, auch in seiner Sklavenrolle. Sie ist das Schwache, das Verachtete, und er provoziert diese Scham. "SM kann die Dinge widersprüchlich ausdrücken, weil er Geborgenheit in das Bild vom Käfig packt. SM ist eben Hassliebe. Es ist der Hass auf den eigenen Körper und der Wunsch, diesen Körper zu lieben." Es ging sehr plötzlich. Pit weint. Und ehe ich noch aufblicken kann, ist Gerd bei ihm, umfängt ihn fest mit diesen Armen, die stark aussehen, schützend und kräftig.
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