Vertrau, schau wem

Sündenfall Der Nitrofen-Skandal erschüttert die Kultur der Bioläden - ein bisschen

Ich rufe meinen Vater jetzt nicht an. Er ist einer von denen, die polemisch sagen, Ökobauern seien genau so korrupt wie alle anderen, der Aufdruck Bio sei Nepp, um teuer zu bezahlen, was letztlich genauso gut oder schlecht wie Konventionelles sei. Er hält "Öko" für den reinen Schein, eine Schimäre, ein Placebo, Geldschneiderei. Sturzbäche von Wasser muss der Skandal der letzten zwei Wochen auf seine Mühlen sein. Das hat er immer schon gewusst, wird er sagen. Ich rufe ihn nicht an.

Sein Geruch ist eine Mischung aus Korn, Holz und Duftessenzen, seine Farbe ist freundlich, er liebt den Regenbogen, gedecktes Bunt, die Sonnenfarben, warmes Orange und Gelb herrschen vor und das mitteldunkle Ocker von naturbelassenem Holz. Schwarz ist tabu. Seine Geräusche sind gedämpft, sein Rhythmus ist gelassen. Die Menschen streichen hier und dort, nehmen Waren in die Hand, die Verkäufer dürfen unfreundlich sein oder unausgeschlafen, denn sie sind keine wirklichen Verkäufer, je nach Stadtteil redet man sie mit Du an. Der Bioladen ist ein Kramladen und es gibt hier vieles von dem zu kaufen, was auch sonstwo erhältlich ist, nur anders - das Brot ist dunkler und schwerer, das Gemüse ungewaschener, die Äpfel sind kleiner und schrumpeliger, die Haarwaschmittel dickflüssiger. Alles hat seine Entsprechung, Nutella heißt hier Samba, Nivea heißt Weleda, Zucker ist Rapadura und Schokolade Caroblade, Kinderspielzeuge sind aus Holz, die Damenschals aus Hanf. Aus Märchen und Mythos stammen die Markenbezeichnungen, Demeter (Göttin der Fruchtbarkeit), Rapunzel (die zarte Prinzessin, die ihr Haar zur Leiter macht), Gäa (die mütterliche Erdgöttin). Der Bioladen ist kinderfreundlich, natürlich, und er hat seinen Preis. Teuer verkauft er uns die Erzählung von der Natur, die uns ihre Gaben schenkt, "Rosengarten", "Zwergenwiese", "Sonnentraum". Die Armen können hier nicht kaufen und die Reichen wollen nicht - es ist eine Frage der Ästhetik. Der Bioladen aber ist ein Hort des Guten.
"Natürlich" haben sich die Bioläden seit ihrer Entstehung Mitte der siebziger Jahre gewandelt. Das Angebot ist größer geworden und vor allem verpackter. Schleichend begann es, doch irgendwann war vom Jutesack keine Rede mehr, und es lag der Demeter-Seidentofu in Plastikfolie verschweißt in der Kühlung. Das war noch vor der Zustimmung der Grünen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
Milch wird mittlerweile nicht mehr nur in Pfandflaschen, sondern auch im Tetrapack verkauft, in den Bio-Kühltheken liegen haltbar verschweißt Falafel-Taler, Tofu-Puszta-Wiener, und Bruno Fischers vegetarische Brotaufstriche, immer noch mit Bibelspruch und immer noch sechs Tage nach dem Öffnen schimmelig, bleiben im Gläschen - aber ohne Pfand.
Der Öko-Gedanke hatte immer zwei Seiten. Wir müssen gut mit der Natur umgehen, damit sie gut zu uns ist. Umweltschutz und Müllvermeidung waren eng verwoben mit dem Gedanken der gesunden Nahrung. Von den zwei Aspekten ist der eine deutlich in der Bewertung geschrumpft, die ideologisch motivierte Ernährung (wir essen vegan!) geht vor und beugt sich einem gewissen Pragmatismus bei der Verpackung und der Befriedigung sekundärer Bedürfnisse. Die Natur-Branche produziert mittlerweile von Zedernholzherzen gegen Motten bis zum Kerzenhalter "mit dekorativen Flusssteinen" jeden nur erdenklichen Kitsch fürs gemütlich veranlagte Kleinbürgertum. Öko ist Lifestyle und ein absolutes Mittelschichtsphänomen.
Doch trotz aller Mutationen bleibt der Bioladen der absolute Gegensatz zum Supermarkt. Er bedient ein Lebensgefühl, das nur im Kleinen und Überschaubaren funktioniert. Bio im Supermarkt ist daher nicht dasselbe wie Supermarkt im Bioladen. Naturkost-Kunden waren seit jeher Idylliker.
Der sogenannte Nitrofen-Skandal bringt es ans Licht: Wir, die in aller Regel westdeutschen, postmodernen Menschen zwischen dreißig und fünfzig, haben kein wirkliches Vertrauen, nicht in Religion und nicht in Politik, wir sind kritisch, skeptisch und haben vorab schon alles mit Verdacht belegt. Aber an Naturkost haben wir geglaubt, mehr noch, sie war der Boden, von dem aus alles andere in Zweifel gezogen werden konnte. Selbst wenn wir - zur Schonung des Portemonnaies und aus Bequemlichkeit - im Supermarkt einkaufen, tun wir das, weil es den Bioladen gibt, so wie wir die FAZ nur lesen können, weil es die taz gibt. Naturkost gilt nicht als Reales, sie gilt als Prinzip, und der Bioladen - entstanden als Kritik an Massenproduktion und an entfremdeter Arbeit - wird zur Bedingung der Möglichkeit einer generellen Weltskepsis. Er ist mentales Zuhause, eine Restidee des guten Lebens.
Mit dem Nitrofen-Skandal hat der Bioladen seinen Status der Unschuld, der Reinheit verloren. Von "vergiftetem" Futtermittel-Weizen war die Rede, von "verseuchten" Bio-Eiern, der Notschlachtung von mehr als zehntausend Hühnern. Zusätzlich droht ein EU-weites Verkaufsverbot, was deutsche Bio-Erzeugnisse in bedenkliche Nähe zum Image britischen Rindfleisches rückt. Nun hat man - das Aufatmen war zu spüren - den Schuldigen, die Lagerhalle in Malchin, schnell gefunden. Müssen wir es als eine Ironie des Schicksals sehen, dass die Verunreinigung - vorerst - aus dem Osten kam?
Der Bioladen hat seine Unschuld verloren. Doch ändert das wirklich etwas? Meine These wäre: nein, nicht wirklich. Unser Verhältnis zum Bioladen - wie zu vielen anderen Institutionen des Lebens - ist eines, das man mit Vilém Flusser ein "magisch rituelles" nennen könnte. In seiner kleinen Schrift Für eine Philosophie der Fotografie hatFlusser behauptet, dass in einer Bildkultur wie der unseren, die Fähigkeit Nein zu sagen, die Fähigkeit zur Kritik (auch zur Ideologiekritik) verloren gehe, weil sich Bilder schlichtweg nicht negieren lassen. Sie bleiben für uns magisch aufgeladen, wir werden zu Funktionären in ihrem Dienst.
In eine ähnliche Richtung gehen auch die Thesen der kanadischen Journalistin Naomi Klein, die in dem viel besprochenen Buch No Logo! untersucht, wie Markenprodukte sich ausschließlich über ihr Image verkaufen. Nicht der Gegenstand, der Schuh, das T-Shirt, die Hose, ist das eigentliche Verkaufsprodukt, sondern das mit dem Logo verknüpfte Lebensgefühl. Das Interessanteste an Kleins Analyse ist, dass sie auf eine Art "Wirkt-trotzdem-Mechanismus" aufmerksam macht, auf eine Immunität der Marke, des Images, also des Bildes. Man kann einen Markennamen kritisieren, analysieren, verfremden, beschmutzen oder wer weiß was mit ihm anstellen: er wirkt trotzdem. Implizit beschreibt Klein in ihrer Markenanalyse auch jene eigenartig ambivalente Einstellung - ob sie spezifisch modern ist, sei einmal dahingestellt - in der Glauben und Vertrauen auseinander treten. Wir wissen, dass die Werbung lügt, und kaufen trotzdem, wir glauben nicht und vertrauen dennoch. In der modernen Warenwelt ist das Konsumverhalten notwendigerweise inkonsequent, die Schizophrenie gehört zum System.
Auch die Liebe zu den Bioläden hatte genau genommen einen doppelten Boden. Niemand hat ernsthaft gedacht, dass hundertausende Eier, zahllose Hektoliter Milch täglich dem beschaulichen Frieden einzelner Miniatur-Bauernhöfe entspringen können, niemand hat ernsthaft gedacht, dass im ökologischen Landbau nur Profit-Asketen und Greenpeace-Aktivisten arbeiten. Und wir alle wussten um die Logik der Marktabläufe: je erfolgreicher Bio wird, desto weniger kann Bio bio sein. Unsere Liebe zu den Naturkost-Läden lebte von der strategischen Annahme einer Reinheit, an die wir nicht geglaubt, aber der wir vertraut haben oder umgekehrt: der wir geglaubt, aber niemals ganz getraut haben. Insofern funktioniert das "bio" wie ein Logo, und jeder sucht sich die Marke, die ihm ins Lebensgefühl passt.
Keine Ideologie funktioniert ohne zumindest Spurenelemente eines materiellen Substrats. Natürlich sind weniger Gifte in den nach Öko-Richtlinien hergestellten Lebensmitteln als in denen des konventionellen Anbaus, natürlich schmeckt Bio-Brot besser. Und Renate Künasts "Task-Force" zum Aufspüren von Nitrofen hat neben dem Effekt ritueller Beruhigung des Verbrauchervertrauens möglicherweise auch eine tatsächliche Wirkung. Es mag auch sein, dass es Menschen gibt, die die geplante Registriernummer auf Eiern dazu nutzen werden, Herstellernachweise anzufordern, es mag sein, dass es Menschen gibt, die die Angaben der Inhaltsstoffe auf Nahrungspackungen nicht nur lesen, sondern auch deuten können, es mag sein, dass es Menschen gibt, die sich wie kritische Konsumenten verhalten und fühlen. Für die meisten gilt das nicht. In dem Spalt, der sich zwischen Glauben und Vertrauen auftut, bleibt eine diffuse Zone: es wird schon gut gehen.
Kritik ist heute unendlich schwer, wir leben in einer "nachideologischen Zeit", die Machtstrukturen sind komplexer geworden, es sind nicht mehr Personen, es sind komplexe Mechanismen, die herrschen; Informationen sind kaum mehr versteckt, verschwiegen, sie stehen irgendwo, wir müssen sie nur finden; es gibt keine klar bipolar organisierten Seiten mehr, und eigenartigerweise verhalten wir uns gerade in der Welt multipler Möglichkeiten, als gäbe es keine Alternativen.
Der wohl meist zitierte und revolutionärste Satz Immanuel Kants war, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Der Mensch solle statt den Popen zu glauben, sich gefälligst seines eigenen Verstandes bedienen. Unter gegenwärtigen Bedingungen will es scheinen, dass uns Kants Rat nur unwesentlich weiterbringt. Wir werden erschlagen vom Wissen, doch es bleibt nichts anderes als Vertrauen. Der Weg der guten alten Aufklärung ist versperrt, der Weg zurück ins bedenkenlose Gottvertrauen auch.
Ich betrete den eo-Biosupermarkt - eo, eat organic, was bedeutet das eigentlich? Ich kann nichts dagegen tun, ich fühle mich wohl. Angenehm sauber ist es hier, braun die Regale. An der Käsetheke frage ich die Verkäuferin: Haben Sie Waren aus den Regalen entfernen müssen? Sie: Nein, nichts, unsere Hersteller sind gut. Sie hält mir einen Stapel Papier vors Gesicht: das sind die Nachweise unserer Lieferfirmen. Nichts von dem, was die verkaufen, ist belastet. Ich glaube ihr nicht, ich sehe die Papiere nicht an, ich kaufe alles, was das Herz begehrt, Eier, Hühnchen, Milch. Und ich werde meinen Vater nicht anrufen.

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