Es gab keinen Feind

Vor zehn Jahren brannte die Lübecker Synagoge War unter dem Deckmantel des Bürgerlichen das Verbrecherische gediehen? Ähnlich wie seinerzeit in Mölln oder Solingen?

Der 24. März 1994 war kalt und verregnet. Bisweilen verwandelte sich der Regen in Schnee. Die Lübecker Bühnen legten ihren neuen Spielplan vor. Für die kommende Spielzeit waren Bernsteins West Side Story und Wagners Tannhäuser geplant. Bremen verlor gegen Schalke 0:1. Am Abend trafen sich im Lübecker Stadtteil Buntekuh, dessen Tristesse den Namen karikiert, vier junge Männer auf einem Parkplatz und wussten nicht, was sie dort sollten. Sie betranken sich, sie fuhren in die Lübecker Innenstadt. Um 2.15 Uhr schlugen die Glocken von St. Marien einmal durch leere Straßen, in den Pfützen verschwand ihr Ton. Um 2.20 Uhr in der Nacht zündeten die vier mit Molotowcocktails den linken Gebäudeflügel der Lübecker Synagoge in der St.-Annen-Straße an.

Jahrestage haben etwas Zwanghaftes. Der Rückblick will eine Moral. Ist der Anlass ein schrecklicher, soll sie tröstlich und hoffnungsfroh sein. Zehn Jahre nach dem Synagogenbrand hat die jüdische Gemeinschaft in Lübeck 800 Mitglieder. Vor 1994 hatte sie keine 100, nicht einmal vor 1933 war sie so groß. Die heute in der Synagoge beten, sind Kontingentflüchtlinge aus Russland - deutsche Juden sind nur zwei darunter.

"Die Anklage hätte auf Mord lauten müssen", sagt Chaim Kornblum

Der Bewahrer des neuen lübschen Judentums, das aus der Fremde kam, heißt Chaim Kornblum. Als die Synagoge brannte, war er gerade Kantor geworden, das Geräusch der Flammen und der Schein des Feuers rissen ihn aus dem Schlaf in seiner Wohnung im ersten Stock. All die Jahre über blieben ihm Erinnerungen und düstere Visionen, denen er mit einem Anflug von alttestamentarischer Strenge begegnete.

Das Strafmaß für die Täter scheint ihm bis heute zu gering. Allein anhand der Klingelknöpfe hätten die Brandstifter sehen müssen, dass in der Synagoge auch Menschen wohnen. "Sie haben deren Tod billigend in Kauf genommen. Die Anklage hätte auf versuchten Mord lauten müssen."

Im ersten Erschrecken war 1994 die Vermutung des Schlimmsten sofort zur Gewissheit erklärt worden. Das Wort Rechtsradikalismus überschwemmte wie ein Bekenntnis die Medienlandschaft, gerade als verlöre es, einmal laut ausgesprochen, seinen Schrecken. Und fiel der Brand nicht in eine dunkle Zeit? Zehn Monate waren seit dem Anschlag in Solingen vergangen, der Brand im nahen Mölln, bei dem drei türkische Frauen und Kinder in ihrem Haus starben, lag keine zwei Jahre zurück. Die DVU saß bräsig im Kieler Landtag, und in den sozialen Brennpunkten von Lübeck - in Moisling, Kücknitz und Buntekuh - lag der Stimmenanteil für die Rechtsradikalen bei 20 Prozent. Trotz gegenteiliger Aussagen des Verfassungsschutzes geriet die Stadt in Verruf. Eine rechte Hochburg im Norden. In Moisling und Kücknitz marschierten die Braunen im Stechschritt an Mietshäusern vorbei, an Billigmärkten und Spielplätzen, die so wenig heil waren wie die Welt zwischen den Betonblöcken.

Chaim Kornblum wurde 1960 in Deutschland geboren. Seine Eltern dachten immer an eine Ausreise nach Amerika, aber für eine Schiffspassage fehlte das Geld. So studierte der Sohn in Israel und kam als Kantor nach Deutschland zurück. "Mein Vater sagt immer, früher sei er ein deutscher Jude gewesen. Heute sei er ein Jude in Deutschland."

Und Chaim selbst? Kiefernmahlen. Schulterzucken. "Nach dem Anschlag habe ich mich gefragt, willst du hier bleiben? Kannst du hier bleiben? Ich habe als Jude nie Schwierigkeiten gehabt. Dennoch ist beides da: Der deutsche Antisemitismus und die jüdische Angst. In unserer Gesellschaft herrscht ein Klima, in dem die falschen Gesinnungen gedeihen."

"Viel gibt es nicht mehr zu erzählen", sagt Benjamin Gruszka

Vor dem Anschlag wird jüdisches Leben in Lübeck wenig wahrgenommen. Danach überschlägt sich die Aufmerksamkeit. Die Betroffenheit ist tief, das Mitleid groß, der Schrecken nah. Die Lokalpresse übersät ihre Seiten mit den Wörtern "Scham" und "Schande". Wie ein dicker Guss werden sie um das Synagogenfeuer gelegt, als könnte es damit nachträglich erstickt werden. "Lübeck ist erschüttert", "Lübeck trauert", "Wir alle schämen uns."

Nach dem Anschlag wird die Synagoge rund um die Uhr polizeilich bewacht. Fünf Jahre lang gibt es runde Tische und Gesprächskreise. Besonderes Engagement zeigen Schüler einer Gesamtschule - sie ist nach den Geschwistern Prenski benannt, Lübecker Kinder, die von den Nazis ermordet wurden. Die historischen Forschungsprojekte der Schüler führen schließlich zu einem kleinen Wunder. Jürgen Jaschek - er gehört zu der Handvoll Überlebender aus der Lübecker Altgemeinde - kommt 1997 aus seiner Heimat Amerika zu Besuch. Richard Yashek, wie er nun heißt, hat die Sprache seiner Kindheit nie wieder gesprochen. Seine Frau vermutet, er habe sie vergessen. Was der Schrecken getötet hat, erwecken die Schüler zu neuem Leben. Yashek wechselt im Gespräch mit ihnen von Englisch zu Deutsch.

Verlust und Hoffnung - in Kornblums jüdischer Gemeinschaft ist beides so nah, dass es sich gegenseitig auf die Füße tritt. Die Erben der Gründer, die Bewahrer der Gemeinde gibt es nicht mehr. Erschossen, in Riga vernichtet, in die Welt geflohen, der Vaterstadt abgeschworen, die geistige Lebensform, die Thomas Mann in Lübeck entdeckte, aus ihren Köpfen, ihren Herzen gerissen. Ausradiert wie ein misslungenes Bild. Nur zwei kommen zurück und liegen nun auf dem jüdischen Friedhof in Moisling.

Die Tragik der Geschichte mildern jene, die hier Neuanfang und religiöse Freiheit wollen. Kornblums Frau ist Russin, Kornblums Sekretärin ist Russin. Die Aushänge am Schwarzen Brett sind auf Russisch verfasst. Deutschkurse für Russen werden angeboten, universitäre Kurse, damit die in der Heimat erworbenen Qualifikationen als Arzt oder Rechtsanwalt in Deutschland anerkannt werden. "Einen Russenclub", nennt Kornblum seine Gemeinde. Um zu verhindern, dass sie am Ende nur das sei, bleibe er in Lübeck. "Irgendwann werden wir vielleicht das Leben in der Stadt ganz selbstverständlich mitprägen."

Ein Anspruch, wie ihn auch Benjamin Gruszka teilt, der in Lübeck als "Bolek" bekannt ist, eine multiple Persönlichkeit im positiven Sinne. Er wurde in Warschau geboren, lebte im Ghetto, sah den Abtransport seiner Eltern und fünf Geschwister, überlebte als Einziger aus der Familie, weil er als Totengräber arbeitete. Nach dem Krieg trieb es ihn nach Norddeutschland, er wurde Automatenaufsteller, Tretroller-Verleiher, eröffnete Lübecks erste Diskothek. Tausendsassa und Tänzer auf allen Hochzeiten, dessen Leben in Büchern beschrieben, sogar verfilmt wurde.

Ein wenig hat ihn das Interesse eitel gemacht, vielleicht hätte er mit der Biografie ganz groß rauskommen können, wenn ihm der Holocaust nicht so gegenwärtig wäre - wenn die tiefen Seufzer zwischen Gruszkas Sätzen nicht echt wären, aus der Atemnot eines tiefen Entsetzens geboren. Schwer trägt er an den schwarzen Brandflecken auf der Mauer, schwer trägt er an den Fotos jener Lübecker Juden, die ermordet wurden. Hier die Rabbiner, dort die Vorbeter, dort ein Bild der alten Synagoge im maurischen Stil mit großer Kuppel. Im Gebetsraum, von den Nazis für Theaterrequisiten genutzt, zeigt er auf alles, was nicht mehr ist. "Dort war..." beginnen seine Sätze, seine Gedanken und Arme strecken sich zu Dingen, die sein könnten, wenn die Geschichte anders gewesen wäre, die Arme sind noch in Bewegung, als ihm die Worte ausgehen. Der letzte Baum aus einem versunkenen Wald.

In der leeren Synagoge wedelt eine russische Putzfrau mit dem Staubtuch, aus der Küche riecht es nach frischen Krapfen, über einer Balustrade hängen die Kostüme eines Kindertheaterstücks, jemand hat Konfetti auf den Boden gestreut. "Viel gibt es nicht mehr zu erzählen", sagt Gruszka.

"Wir können nichts gegen die seelische Verwahrlosung tun", sagt die Lehrerin

Im Prozess gegen die Brandstifter vom März 1994 fiel die Theorie vom judenhassenden Rechtsradikalen in sich zusammen - dem unverfälschten Bösen hätte man sich mit heroischem Eifer und wortgewaltigen Kommentaren entgegen stemmen können. Die vier Figuren aber, die man einen Monat nach dem Brand als Täter verhaftete, waren so banal, dass sie verunsicherten. Es gab keinen Feind. Es gab nur vier verwahrloste, gescheiterte Jungen, die rechtsradikale Sprüche von sich gaben, aber für eine politische Einstellung zu dumm waren. Vier, die betrunken ihre Wut herausgelassen hatten, die vermutlich anderen galt. Ob sie vorsätzlich zum leichtesten, gegenwärtigsten aller Feindbilder gegriffen hatten, nicht einmal das konnte bewiesen werden. Nur einer der Täter wusste um die Bedeutung des Gebäudes in der St. Annen-Straße.

Der Verdacht, unter dem Deckmantel des Bürgerlichen sei das Verbrecherische gediehen, war von Lübeck genommen, die Rückkehr zum Alltag möglich. Die Chronologie der Stadt hielt jedoch weitere Tragik bereit. Ein Jahr später brannte ein Nebengebäude der Synagoge, die Suche nach dem Brandstifter blieb erfolglos. 1996 starben zehn Menschen, als in der Lübecker Hafenstraße ein Asylbewerberheim in Flammen aufging. Mutmaßliche Täter: Entweder vier junge Männer aus dem mecklenburgischen Grevesmühlen oder der Libanese Safwan Eid, selber Heimbewohner, aus dessen Mund ein Sanitäter die Worte gehört haben wollte: "Wir waren es." Obwohl einer der Mecklenburger ein Geständnis ablegte, wurde Eid angeklagt, dann mangels Beweisen freigesprochen. Täter und Opfer waren längst aus den öffentlichen Gesprächen verschwunden, nur die Ereignisse blieben wie hässliche Narben auf dem gediegenen Antlitz der Stadt.

Lübeck im März 2004 trägt die Lasten einer hohen Arbeitslosigkeit, des Niedergangs der Schwerindustrie, der Schließung der Werften, - die Betroffenen wohnen in Moisling, Kücknitz und Buntekuh.

Rechtsradikalismus als politische Einstellung, sagt Inge Eicke, Lehrerin an einer Schule in Buntekuh, sei kein Thema, Gewalt sehr wohl. Wer den Unterricht störe, werde in die "Insel" geschickt, einen Extraraum, in dem man sich wieder beruhigen könne. Und das Engagement der Eltern? Davon spürt die Lehrerin kaum etwas, viele Schüler würden vor der Schule nicht einmal ein Frühstück bekommen. "Wir können etwas gegen die Wut tun", sagt Inge Eicke, "nichts gegen die seelische Verwahrlosung. Und wir können nicht wissen, wozu die führen kann."


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