Vladi hat aus Kanada geschrieben

Rumänien Protokoll eines Regentags in Transsylvanien, als Ion Senchea in seinem Laden schon am Mittag das Brot ausging

In einem Dorf am Rande der Karpaten, dessen Namen ich mir zu merken vergaß, erhielt ich die Antwort auf eine für Weltreisende recht bedeutende Frage. Was unterscheidet Transsylvanien von Ohio? Nichts, ist die richtige Antwort. »Absolut nichts«, sagt Ion Senchea und haut dabei so energisch die Nudeltüte in ein Regal, dass alle anderen Tüten umfallen und seine Frau ihm einen bösen Blick zuwirft.

Ion Senchea ist Kaufmann. Der einzige im Umkreis von zehn, vielleicht sogar fünfzehn Kilometern. »Glaub mir«, sagt er - nicht zu mir, sondern zu seiner Frau und der Dicken im Laden -, »glaub mir, Ohio ist genau wie Transsylvanien...«

Das war kurz, bevor die Dicke ging und Ions Frau mit dem Handfeger das seit dem Mittag leere Brotregal ausfegte. Vielleicht hatte er diese Bemerkung fallen lassen, um die Dicke loszuwerden. Oder aus Ärger darüber, dass der Vladi in Kanada ist und die Kaufmannsfrau zu wenig Brote gebacken hatte.

Ohio in Transsylvanien - mir gefällt der Vergleich. Und sei es nur, um nicht wieder die abgegriffene Geschichte vom Grafen Dracula und seinen langen Zähnen zu erzählen. Alte Mythen sterben bekanntlich nicht. Demnächst wird es in Transsylvanien einen Dracula-Erlebnispark geben, der auf dem Mist profilierungssüchtiger Politiker in Bukarest gewachsen ist. Auch über diese osteuropäischen Politiker ist schon vieles geschrieben und vieles gesagt worden. Zum Beispiel, dass sie sich kaum von Dracula unterscheiden. Und wohl auch nicht von den Politikern in Ohio.

»Die Korruption saugt das Leben aus dem Land, wie die Schäfer auf den karpatischen Weiden das Wasser aus dem Käse drücken.« - Auch das hat Ion Senchea gesagt, an jenem Vormittag, als der Regen wie eine Wand vom Himmel fiel, sich die Straße in ein Schlammfeld verwandelte, das ganze Dorf in den Laden strömte und bei Bier und Pflaumenschnaps zwangläufig auf das elende Dasein in Transsylvanien zu sprechen kam.

In Transsylvanien gibt es Orte, die aus drei Häusern und 50 Wiesen drum herum bestehen, auf denen Schafe wie angeklebte Wölkchen grasen. Wiesen, die im Sommer nach wildem Thymian, Kamille und Minze riechen. Wilde Orchideen wachsen dort und Enzian zu Hunderten. In den Gärten dieser Dörfer, zwischen Hunden und Ziegenböcken, flattert die Wäsche und duften keine Blumen. Aber Kürbisse wie Wagenräder gibt es und Mangold in dunklem Tannengrün.

Autos fahren dort nie, aber Pferde und Wagen, im hereinbrechenden Frühjahr eine Morastfurche hinter sich herziehend, weil die Straßen keinen Asphalt haben und auch niemals haben werden. Hühner gackern in Weggräben, Kinder schlagen hölzerne Reifen mit Stöckchen vor sich her.

So ein Dorf war es, durch das ich kam, als von der anderen Seite des Gebirges her eine dunkle riesige Wolke aufzog, die Berggipfel völlig einhüllte schließlich genau über dem Dorf niedersank, um sich zu öffnen.

Ions Laden war das einzige Dach, unter das man flüchten konnte. Vielleicht fünfzehn Quadratmeter groß, fünf Meter lang, drei Meter breit, bot der Laden nichts Gemütliches. Die Waren lagen auf selbstgezimmerten Regalen, durch ein winziges Fenster fiel kein Licht. Zwei Frauen vom Friedhof, die Erde noch an den Fingern, die Harke in der Hand, standen um den kalten Ofen neben der Eingangstür. »Wirf Holz rein, Kaufmann!«, aber er tat es nicht. Vorerst nicht, der Regen könnte aufhören

An der gegenüberliegenden Wand saß die Dicke. Vielleicht fünfzig war sie, hatte kreisrote Wangen und ein Tuch wie einen Helm um den Kopf geschnürt. Unter dem Rock schaute ein weiterer Rock und unter dem nächsten Rock eine Jogginghose mit Löchern hervor. Sie versuchte ein Gespräch mit der Kaufmannsfrau, die aber zählte die tellergroßen Brote und antwortete nur einsilbig. Vor langer Zeit mag sie hübsch gewesen sein, jetzt aber hatte sie den schmalen Mund einer Frau, deren Träume nicht erfüllt wurden. »Es ist erst zehn und wir haben nur noch dreißig Brote«, sagte sie mit einem Vorwurf in der Stimme, »zwanzig sind schon weg.«

Ion füllte den Warenbestand auf. Das Angebot war klein: Nudeln, Reis, Mehl, Margarine, Senf, Kakao, Toilettenpapier, imitierte Coca Cola. Jellybeans - vielleicht aus Ohio. Und Kekse, die Jon einzeln verkauft wie die Instant-Cappuccino-Tüten. Wer darum bat, konnte auch vom Toilettenpapier nur ein paar Blätter kaufen.

Bald war der Laden voller Männer und Frauen, denen das Wasser aus den Wollpullovern lief. Man konnte hören, wie der Regen vorsichtig auf das Dach trommelte. Ion schob endlich ein paar Holzstücke in den Ofen. Dann holte er aus dem Hinterzimmer, in dem der Käse und die geräucherten Würste lagern, drei weitere Plastikstühle. »Setzt euch«, raunte er den Leuten zu. »Bald ist es warm, setzt euch nur.« Seine Frau kniff die Lippen zu einem Strich zusammen.

Zwischen Debatten um Schafwollpreise, italienische Konkurrenz und Korruption verging die Zeit wie im Fluge und blieb stehen. Als der Tratsch erschöpft war, hatte der Regen nicht aufgehört. Da die Leute hungrig wurden, fingen sie an, die Brote zu kaufen. Um ein Uhr war kein Brot mehr zu haben. Das sollte helle Empörung unter denen hervorrufen, die später kamen. »Ich hab es ja gesagt«, zischte die Frau zu Ion, als sei dies und das ganze elende Leben seine Schuld. »Es wird nicht reichen.« - Ion nickte kummervoll. »Das Bier ist mir ausgegangen«, sagte er dann zu den Männern. »Bring Schnaps, Ion«, riefen die, und Ion ging ins Hinterzimmer, aus dem er mit einer Flasche und einem Käse zurückkam. Den ersten Schnaps gab es auf Kosten des Hauses. Die Frauen kauften Cappuccino-Tüten, Ion holte aus dem Hinterzimmer Tassen und heißes Wasser. Nur die Dicke wollte auch Schnaps. Bald dampfte der Laden wie eine Sauna, röteten sich die Gesichter. Zwei Frauen schliefen auf ihren Stühlen ein.

Nein, nein, sagte Ion, es sei nicht immer so voll. Nicht einmal an Regentagen. Früher, da habe es ein Café gegeben, doch das sei nun für immer geschlossen. Sein Pech sei es, seinen Laden neben dran zu haben. »Heute sind alle hier, weil es Geld gibt. Jedenfalls für manche.« Geld? »Der Postbote zahlt heute die Rente aus.«

Der Postbote kam um 14 Uhr. Pünktlich. Der Postsack triefte vor Wasser, der Mann ebenfalls. Unter Gejohle wurde ihm Schnaps eingeschenkt. Als er endlich die Umschläge verteilte, waren auch die feucht. Post gab es wenig. Die Dicke erhielt einen Brief mit Luftpostumschlag.

Für die Rentner gab es dicke Bündel Scheine. Mancher, der den Erhalt in einem klammen Notizbuch quittieren musste, hatte Schwierigkeiten mit seiner Unterschrift. Wie viel Rente er bekomme, fragte ich einen alten Mann. 600.0000 Leu. Das sind nicht einmal 50 Mark. Ob er davon leben könne? Er antwortete, was in Rumänien fast jeder sagt: »Nicht gut, aber auch nicht schlecht. Wer arm und geschickt ist, kann ohne Geld leben. Sparen muss ich nur für meine Beerdigung.« Drei Schafe, ein Pferd und eine Kuh habe er, dazu einen Gemüsegarten und eine Frau, die mit Gemüse geschickt sei. »Das ist reich«, lachte er und zeigte die vielen Zahnlücken in seinem Mund. »Reich genug für ein paar Schnäpse.«

»Aber nur für ein paar«, murrte die Kaufmannsfrau. »Du trinkst immer mehr, als du zahlen kannst.«

Lange blieb keinem sein Bündel Rente. Die Kaufmannsfrau trieb Schulden ein. Der Alte, der für seinen Grabstein spart, zählte seufzend die Scheine auf den Tresentisch. Ion schenkte noch einmal Schnaps aus. Draußen hatte der Regen nachgelassen. Nach und nach verließen die Alten den Laden, nur die dicke Frau mit dem Kopftuch und den weiten Röcken blieb sitzen.

»Der Vladi hat aus Kanada geschrieben«, sagte sie zur Kaufmannsfrau. Ion sortierte schon wieder den Warenbestand.

»Was hat er denn geschrieben?«

»Es geht ihm gut.«

»Na.«

»Und, dass es richtig war.«

»Na.«

»Und, dass er Heimweh hat, weil es dort keine Schafe gibt.«

»Na.«

Durch das Fenster krochen ganz unerwartet Sonnenstrahlen. Draußen hörte man das Meckern der Schafe und das Bellen der Hunde. »Die Schäfer kommen«, sagte die Kaufmannsfrau, »ist es schon so spät?«

»Vielleicht kommt der Vladi ja zurück«, sagte die Dicke noch.

Just da stieg dem Kaufmann Ion seine Theorie in den Kopf. »Der Vladi«, sagte er heftig, »hätte lieber nach Ohio auswandern sollen, weil es dort genauso ist, glaub mir, Ohio ist genau wie Transsylvanien. In Ohio haben sie Schafe. Und Hühner. Pferde und Berge. Und uralte Autos, so wie wir.«

»Na«, sagte die Dicke und erhob sich endlich zum Gehen.

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