Für die 40 Kilometer von Pretoria nach Mamelodi braucht der Bus ungefähr eine Stunde. Nach der Autobahnabfahrt ist die Straße noch geteert, dann jedoch wird sie immer holpriger, überall Schlaglöcher. Der Geruch von brennenden Kohlen, Reifen und Papier hängt in der Luft. Das frühere schwarze Township der Verwaltungshauptstadt Pretoria ist zu riechen, bevor die ersten Häuser in Sicht kommen. Mamelodi war schon, als es 1983 zur selbstständigen Kommune erklärt wurde, für das Gros der Bewohner eine reine Schlafstadt, und bis heute hat sich daran wenig geändert. Eine Menschendeponie für das Industrierevier von Pretoria. Jeden Morgen bricht sich eine Flut völlig überladener Busse und Minitaxen Bahn und bringt die Arbeiter in die nahe Millionenmetropole. Abends dann schlägt das archaische Pendel dieser stupiden Mobilität mit seiner nie versiegenden Wucht wieder zurück.
Und Mamelodi wächst und wuchert unaufhaltsam, in den Village-Schmelztiegel geraten mit jedem Monat Tausende von Neuankömmlingen, vorrangig Zuwanderer aus der Transkei, einem der früheren Homelands, aber auch aus Angola, Botswana, Burundi und Malawi. Eine kleine Agenda der Filialen schwelender Bürgerkriege im südlichen Afrika. Was deren Bataillen an Entwurzelten hinterlassen, treibt stets neue Archen der »Boat People« aus vielen Richtungen an das vermeintlich rettende Ufer von Mamelodi.
Wer vor 15 Jahren in die Siedlung hinein fuhr, landete praktisch direkt im Squattercamp, einem riesigen Elendsquartier aus Bretterbuden, Müllbergen und einigen verlorenen Jacaranda-Bäumen. Heute wählt man die gleiche Route, und der Blick streift Mittelklassehäuser, mitunter auch nackte Betonmauern, gekrönt mit einem Geflecht aus Stacheldraht, hinter denen sich attraktive Villen verbergen können. Vielleicht Refugien smarter schwarzer Geschäftsmänner, die es geschafft haben. Doch auch das Squattercamp Mandela Village existiert noch, und damit ein Leben ohne Kanalisation und Strom, dem ein Großteil der schwarzen Bevölkerung weiterhin ausgesetzt ist. In derartigen Gegensätzen offenbart sich die Metamorphose, die Mamelodi seit einem Jahrzehnt erfasst hat und mitreißt. Mit gut anderthalb Millionen Einwohnern wird das Township bald größer sein als Pretoria und vieles vom Aussatz der Großstadt geerbt haben - Arbeitslosigkeit, Kriminalität, AIDS zuerst.
Vom Enkel vergewaltigt
Der Bus ist am Ziel - beim Verlassen werden die Besucher aus Deutschland von den Kindern mit großen Augen gemustert. Die meisten von ihnen haben Weiße noch nie in Natura gesehen. Obwohl sich seit der neuen südafrikanischen Verfassung in den Townships auch weiße Südafrikaner niederlassen dürfen, wenn sie denn wollen, halten sich laut Umfragen 80 Prozent nach wie vor kategorisch von den Domänen der Schwarzen fern. Ob aus zittriger Furcht oder strikter Abneigung, lässt sich schwer sagen, auf jeden Fall ist das im 13. Jahr nach dem offiziellen Ende der Apartheid immer noch ein Restbestand an praktizierter Apartheid, auch wenn die sich nicht mehr in aggressiver Abgrenzung voneinander entlädt.
In einem einfachen Flachbau nicht weit vom Zentrum Mamelodis entfernt befinden sich die Räume der Tateni Home Care Nursing Services. Die mehrfache Großmutter Veronica Khosa - sie ist Mitte 60 - gründete dieses Zentrum im Jahr 1995 aus »blankem Entsetzen« über die Auswirkungen der AIDS-Katastrophe vor der eigenen Haustür, wie sie sagt. Das sei vor acht Jahren keine Frage der Wahl, sondern eine Berufung gewesen. Sie habe als Krankenschwester immer häufiger erlebt, wie AIDS die Betroffenen gequält, ausgegrenzt und isoliert habe.
Veronica Khosa musste die Erfahrung machen, dass die Hospitäler zahllose AIDS-Patienten für die letzten Tage oder Wochen einfach nach Hause entließen, obwohl allgemein bekannt war, wie die Betroffenen im Schoß der Familie einsam, lautlos, teilweise geächtet sterben mussten. Wachgerüttelt wurde Veronica durch das Schicksal eines Freundes, von dem sie erfuhr, dass er von seinen Angehörigen wie ein Ausgestoßener in einen Raum gesperrt wurde und dort bis zum letzten Atemzug allein vor sich hin vegetieren musste. Seine Familie fühlte sich von der Angst getrieben, der Virus könne durch den »bösen Blick« des Kranken übertragen werden. Schließlich durften auch die Nachbarn von der Schande im Haus nebenan nichts erfahren.
Mittlerweile hat »Mama Khosa«, wie sie respektvoll genannt wird, eine Gruppe von ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeiterinnen um sich geschart, von denen viele längst pensioniert sind. Sie trainieren freiwillige Helferinnen über einen Zeitraum von sechs Monaten ihres Lebens wie das letztes Aufgebot im Kampf gegen die tödliche Krankheit. Das Tateni-Projekt braucht stetig neues Personal, weil die Hospitäler in Mamelodi ringsherum überfüllt sind und immer mehr Todkranke ohne Hilfe nach Hause schicken.
Crashkurs-Schwestern des Tateni-Projekts wie die 33-jährige Kabo Riba müssen auf ihren strapaziösen Patienten-Touren oft kilometerlange Fußmärsche durch Mamelodi auf sich nehmen, denn das Programm von Veronica Khosa leidet unter akuten Transportproblemen. Wer einen Pkw besaß, hat ihn zur Verfügung gestellt. Dann aber wurden die Autos gestohlen oder waren nach pausenlosem Einsatz auf den zerfahrenen Pisten irgendwann schrottreif. Kabo Riba steuert eine Hütte an, in der vier Waisenkinder leben, deren Eltern schon vor Jahren an AIDS gestorben sind. Der Älteste leidet an Tuberkulose und ist zu schwach, um in die Schule zu gehen. Dreimal pro Woche füttert und wäscht Kabo den hilflosen Jungen und bringt ihm Medikamente. Nächste Station, nur eine Straße weiter, ist eine 81-jährige Patientin - die alte Frau wurde von ihrem Enkel vergewaltigt und wird bald an den Folgen von AIDS sterben.
Promiskuität als Motor der Seuche
Das Kondom als »Prinzip Hoffnung« ist unter der schwarzen Bevölkerung in Südafrika kaum populär. Die Männer verweigern den Gebrauch und behaupten, die Gummis seien von weißen Rassisten mit HIV vergiftet. Ohnehin gehört es sich für eine afrikanische Ehefrau nicht, überhaupt nach Safer Sex zu fragen. Durch die offensiven Präventionsbotschaften von Veronica Khosa glauben sich die polygam sozialisierten Männer Mamelodis ohnehin in ihrer Sexualität in Frage gestellt. Die Frauen wiederum wissen, dass sie den Männern nicht trauen können. Viele Familienväter kommen als Arbeitsnomaden nur in größeren Abständen nach Hause und führen nicht selten mehrere Ehen. Promiskuität als Motor der Seuche - aber soll man nur mit den Augen küssen?
Die Frauen von Mamelodi fühlen sich nicht nur von den eigenen Männern verraten, sondern erst recht von den Politikern ihres Landes. Die Regierung erscheint unfähig, das tief sitzende Misstrauen und die sozialen Barrieren zu überwinden, die eine Ausbreitung von AIDS beschleunigen - die eingetretene Katastrophe wurde jahrelang regelrecht totgeschwiegen. Der frühere Präsident Nelson Mandela wollte das Thema AIDS bis 1998 nicht öffentlich ansprechen, was er heute bedauert. 1990 war weniger als ein Prozent der südafrikanischen Bevölkerung HIV-positiv - heute ist jeder Fünfte infiziert. Noch fataler aber sind die starrsinnigen Äußerungen von Mandelas Nachfolger Thabo Mbeki, der den kausalen Zusammenhang von HIV und AIDS grundsätzlich leugnet.
Die desaströse AIDS-Politik der Regierung bringt denn auch die Tateni-Frauen in Rage - »Genug ist genug! Wir werden uns gegen Politiker zu wehren wissen, die uns für dumm verkaufen!« - Veronica Khosa, die Galionsfigur von Tateni, wurde inzwischen zwar mit mehreren nationalen Preisen für ihr Engagement geehrt, aber ihr Pflegeservice erhält trotzdem nur bescheidene Mittel von der Provinzregierung und muss sich ansonsten weitgehend über Spenden finanzieren. Ihre stärksten Verbündeten fanden die Frauen von Tateni übrigens in den Upperclass-Ladys von Soroptimist International in Pretoria, einer Art Rotary Club für Frauen. Die Soroptimistinnen - zumeist Managergattinnen - fahren regelmäßig nach Mamelodi und bringen mit, was gerade benötigt wird: Medikamente, Lebensmittel, Geld.
Frauensolidarität über die alten Grenzen der Apartheid hinweg. »Da draußen herrscht Krieg und es gibt immer mehr zu tun«, seufzt Veronica Khosa, »wie sollen wir müden Großmütter die vielen Waisenkinder großziehen? Allein schaffen wir es nicht, auch wenn die Frauen von Südafrika begonnen haben zu kämpfen.«
»Corporate Social Responsibility« beim DaimlerChrysler-Konzern in Südafrika
Die hohe Aidsrate in Südafrika ist nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern sie entwickelt sich auch zum volkswirtschaftlichen Problem. Schätzungen zufolge wird die Seuche das südafrikanische Bruttoinlandsprodukt bis 2010 um 17 Prozent schrumpfen lassen. Die gesellschaftspolitischen Folgen der Katastrophe sind inzwischen im Alltag kaum mehr zu übersehen: so gut wie alle Wirtschaftszweige spüren die Folgen von HIV und AIDS. Millionen gut ausgebildeter Fachkräfte erkranken in der Mitte ihres aktiven Berufslebens und fallen aus.
Kein Unternehmen kann es sich daher leisten, AIDS zu ignorieren. Jeder infizierte Mitarbeiter kostet eine Firma durchschnittlich 60.000 Euro. Damit sind der Virus und AIDS zu einem Faktor bei den Produktionskosten geworden. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Wirtschaft nun beginnt, eigene Initiativen zu starten. Ein Beispiel ist DaimlerChrysler South Africa (DCSA), dessen Arbeiternehmer derzeit zu neun Prozent mit HIV infiziert sind. Mit dem Slogan »HIV/AIDS is everybody´s business« ging DCSA vor zwei Jahren mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) eine Partnerschaft ein und entwarf eine Strategie, die für das Land beispiellos ist, weil die gesamte DCSA-Belegschaft, alle Betriebsräte und die Gewerkschaften in die konzertierte Aktion einbezogen wurden. Mit Erfolg: Bei den freiwilligen AIDS-Tests vor einem Jahr beteiligten sich über 80 Prozent der Arbeitnehmer. Die Testergebnisse bleiben geheim. Wer seinen HIV-Status kennt, kann sich im Unternehmen aufklären, beraten und gegebenenfalls professionell behandeln lassen.
In der Fabrik in East London leitet ein Arzt den Gesundheitsbereich, im Pretoria-Werk ist eine ausgebildete Krankenschwester dafür zuständig. Die Arbeit des medizinischen Personals basiert auf einem Vertauensverhältnis; HIV-positive Kollegen können selbst ihre Familien zur Behandlung mitbringen. Seit 2001 gibt es ein weiteres Medium der Information: So genannte Peer Educators wurden aus der Belegschaft ausgewählt und zum Thema HIV/AIDS geschult.
Wie bitter nötig Aufklärungskampagnen sind, zeigt allein die Tatsache, dass 18 Prozent der Angestellten von DCSA der Ansicht sind, von einer HIV-Infektion könne man sich durch den Geschlechtverkehr mit einer Jungfrau kurieren. Wegen dieses Irrglaubens werden in Südafrika zunehmend Mädchen bereits im Säuglingsalter vergewaltigt.
Für sein AIDS-Engagement wurde Daimler Chrysler im Juni durch UN-Generalsekretär Kofi Annan mit dem Award for Business Excellence in the Workplace 2002 des Global Business Council on HIV/AIDS ausgezeichnet.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.