Chupol - Code P 13/P 14

GUATEMALA Massengräber aus der Zeit des Bürgerkriegs werden freigelegt

Als die guatemaltekische Wahrheitskommission im März 1999 ihren Bericht über Menschenrechtsverletzungen während des 36 Jahre dauernden Bürgerkrieges (1960-1996) veröffentlichte, war ihr zuvor auch ein "interner Report" der Armee zugespielt worden. Er stellte alles in den Schatten, was bis dahin über den Genozid an der indianischen Maya-Bevölkerung bekannt war. Minutiös wurden Massaker und Vertreibungen aufgelistet, die es während der achtziger Jahre in den Regionen gegeben hatte, die mutmaßlich unter dem Einfluss der linksgerichteten Guerilla von der National-Revolutionären Einheit Guatemalas (UNRG) standen. Das Dokument sprach von 440 ausgelöschten Dörfern und Weilern. In der Regel wurden die Opfer derartiger Mordaktionen in Massengräbern verscharrt oder verbrannt.

In diesem Jahr nun begannen Gerichtsmediziner und Anthropologen unter Aufsicht der Menschenrechtskommission und der Katholischen Kirche Guatemalas mit einer teilweisen Exhumierung der Getöteten. Soweit möglich sollen sie von Familienangehörigen identifiziert werden, um so schrittweise das Schicksal von 40.000 Verschwundenen aufzuklären.

Verlorene Stille liegt über dem nebligen Hochland der Region von El Quiché. In den Hütten des kleinen Mayadorfs Chupol formen Frauen in ihren traditionellen Trachten Tortillas aus Maisteig. Auf den ersten Blick erinnert nichts mehr an die Schrecken des Bürgerkriegs, dem hier Anfang der achtziger Jahre über 200 Dorfbewohner zum Opfer fielen.

Diego Lares war gerade zehn, als ein Kommando der guatemaltekischen Armee seine gesamte Familie massakriert hat. "Sie sperrten uns in das Haus meines Vaters, dann trieben sie die Frauen zusammen. Wir konnten sehen, wie sie sich vor dem Brunnen aufstellen mussten, ein Soldat ging die Reihe entlang und tötete jede mit einem Schuss in die Stirn. Als das vorbei war, wurden die Leichen in den Brunnen geworfen, eine nach der anderen ..."

Seit dem Tag dieses Verbrechens im Juni 1982 stottert Diego Lares. Das Entsetzen hat sich in seine Träume eingegraben. "Meine jüngere Schwester war sechs. Als ein Soldat sie packte, schrie sie noch: ›Ich will bei euch bleiben.‹ Aber was konnten wir tun? Die Soldaten trugen sie einfach weg. Ein Schuss krachte. Danach war alles still ..."

Ein hoch interessantes Experimentierfeld

18 Jahre nach dem Massaker ist eine internationales Team aus Pathologen und Anthropologen nach Chupol gekommen, um die Überreste der Opfer zu bergen. Dazu muss der vor Jahren abgedeckte, teilweise zugeschüttete Brunnen wieder geöffnet werden, bevor der Abstieg in einen zwölf Meter tiefen Schacht beginnen kann. Mit Spitzhacke, Schaufel und Sonde Suche nach Spuren des Grauens. Gleißendes Sonnenlicht fällt auf übereinander liegende Skelette, verrottete Kleidungsstücke, vermodertes Spielzeug. Jedes Fundstück wird nach oben befördert und fotografiert. Verwesungsgeruch liegt in der Luft.

Als der Lokaltermin von Chupol nach einer Woche zu Ende geht, hat das Grabungsteam - das ergeben erste Untersuchungen - Leichenteile von 23 Menschen geborgen. Im Protokoll steht etwas über Kinderhirne, Schädelknochen und Frauenbecken. Die Medizinstudentin Rita Estrada aus Guatemala-Stadt säubert ein Fundstück vorsichtig mit dem Pinsel: "Das ist der Kieferknochen eines Kindes. Es muss gerade die ersten Zähne bekommen haben, als es passierte ...". Sie will das Massaker nicht beim Namen nennen. Was in dieser Maya-Gemeinde 1982 geschah, übersteigt jedes menschliche Vorstellungsvermögen - und es steht in einem absurden Kontrast zu jener Akribie, mit der 18 Jahre später bei der Exhumierung gearbeitet wird. Für den Laien ist nicht zu erkennen, ob ein Pathologe grauen Schlamm von den Knochenteilen streicht oder Fleisch, Haut und Gehirnmasse. Der Brunnenschlamm hat die meisten Leichen bis zu einem bestimmten Grad konserviert. Haare und Fingernägel kommen zum Vorschein. Rita Estrada legt zwei kleine Knochen in eine Papiertüte und beschriftet sie mit dem Code "P 13/P 14". "Es ist nun einmal eine sehr technische Arbeit. Den Luxus von Gefühlen können wir uns nicht leisten ...". In den Jahrzehnten des Bürgerkrieges hat die guatemaltekische Armee bei der Jagd auf Guerilla-Einheiten ganze Maya-Dörfer ausgelöscht - sie wurden als "kollektiver Feind des Staates" bekämpft. Die meisten der ausländischen Anthropologen wissen erstaunlich wenig über diesen Teil der Geschichte Guatemalas. Die Teams ziehen wie Globetrotter von einem Schauplatz zum nächsten - ob nun in Ruanda, auf Haiti oder im Kosovo. Gordon Martin - der einzige Amerikaner in der Gruppe von Chupol - trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Sarajevo survived!". Für ihn sind die Exhumierungen "ein hoch interessantes Experimentierfeld" angewandter Anthropologie. "Die Geschichten dieses Krieges muss erzählt werden, zweifellos ... Aber für mich persönlich ist das hier zuerst einmal ein Abenteuer. Ich lerne Menschen kennen, denen furchtbare Dinge geschehen sind. Und ich sehe, wie sie mit dem, was sie erlebt haben, fertig werden ..."

Notfalls auch die eigene Familie töten

Die Ausgrabungen in Chupol werden von Soldaten überwacht. Scheinbar teilnahmslos beobachten sie, was geschieht. Tatortsicherung, Objektschutz, Routineangelegenheit. Niemand wurde und niemand wird je für das Verbrechen von Chupol zur Verantwortung gezogen. Die Soldaten wissen das. Ihr oberster Dienstherr, Verteidigungsminister Juan de Dios Estrada, macht kein Hehl daraus, dass es auch künftig so bleiben wird: "Man muss sich fragen, was wichtiger ist, die Fehler der Vergangenheit aufzuklären oder eine nationale Versöhnung anzustreben. Seit 1996 haben wir uns für Letzteres entschieden, um die Entwicklung des Landes voranzutreiben."Unter der Obhut der "impunidad" (Straflosigkeit) können sich die Täter von einst vollkommen sicher fühlen. Wahrheitskommission hin oder her - in dieser Hinsicht ist Guatemala anders als Nikaragua nach Somoza, Argentinien nach Videla oder das heutige Chile. Reicht das als Erklärung dafür, dass junge, kaum zwanzigjährige Soldaten wehrlose Kinder mit einem Schuss in die Stirn töteten? Glaubten sie wirklich, gefährliche Subversive "auszuschalten"? War der Korpsgeist der Armee so stark? Der Anthropologe Fred Peccerelli stellt sich diese Fragen immer wieder: "Es gibt keine Erklärung für diesen Mordrausch . Wir haben schwangere Frauen ausgegraben, mit dem Fötus in ihrem Bauch. Kinder jeden Alters. Acht Tage alt, acht Monate, acht Jahre. In der Region von El Quiché wurde auf Geheiß einer Ideologie gemordet. Und die besagte, die Mayas sympathisieren mit der Guerilla, sie haben es verdient zu sterben. So dachten die Militärs, von denen die Befehle kamen. So denken sie noch immer ..." Der Handwerker Edvin Corona - er lebt heute mit seiner Familie in der Nähe von Chupol - war zu der Zeit Soldat, als die Armee Hunderte Massaker an der Zivilbevölkerung verübte. Er ist noch immer überzeugt, seine Vorgesetzten hatten recht damals: "Wir haben die Dörfer zerstört, weil sie kommunistisch waren. Den Kommunismus wollten wir in Guatemala nicht. Die Armee hat dafür gesorgt, dass unser Vaterland frei und unabhängig blieb ..."


    Das Friedensabkommen von 1996

    Am 29. Dezember 1996 wurde mit dem "Vertrag von Mexiko-Stadt" zwischen der Regierung des Präsidenten Alvaro Arzu und der National-Revolutionären Einheit Guatemalas (URNG) ein unbefristeter Waffenstillstand vereinbart. Nach fünfjährigen Verhandlungen sah das Abkommen eine Eingliederung der Guerilla in die Gesellschaft des mittelamerikanischen Landes vor sowie Parlamentswahlen und die Verkleinerung der Armee. Ein Absatz versprach, künftig die Rechte der indianischen Minderheit zu respektieren sowie ein ökonomisches Entwicklungsprogramm für die von den Maya bewohnten Gebiete.

    Im Laufe des bewaffneten Konflikts wurden über 200.000 Menschen getötet - davon waren schätzungsweise 80 Prozent unbewaffnete Mayas. Etwa 40.000 Menschen gelten bis heute als vermisst. Ihr Schicksal aufzuklären, sollte vor allem Mission der 1999 gebildeten "Wahrheitskommission" sein, die unter der Leitung des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat stand.

So wie die meisten seiner ehemaligen Kameraden stammte auch Corona aus einer einfachen Bauernfamilie. Als Soldat war er stolz darauf, dass die Leute Furcht vor ihm hatten: "Früher haben sie uns gesagt, wir müssten notfalls auch die eigene Familie töten, wenn das befohlen wird. Wer nicht gehorcht, ist ein Verräter ..."

Es gibt 20 weitere Massengräber in der Umgebung von Chupol. Aber niemand aus den Maya-Gemeinden wagt es, die Stellen zu zeigen. Auch einige der Täter leben in der Umgebung des Ortes ...

Die Strafe Gott überlassen

Am nächsten Tag um zwölf Uhr mittags soll eine Zeremonie des Maya-Priesters von Chupol stattfinden - 18 Jahre nach ihrer Ermordung sollen 23 Bewohner dieses Ortes ein würdevolles Begräbnis finden. Doch die Holzsärge bleiben leer. Wegen eines Einspruchs der Staatsanwaltschaft werden die sterblichen Überreste der Getöteten erst am nächsten Tag freigegeben. Die Trauer der Hinterbliebenen ist den Behörden egal. Niemand beschwert sich - alle ertragen die Erniedrigung mit ohnmächtiger Geduld.

Der Priester sprüht Alkohol über die Särge und verbrennt Kräuter. Seine Gemeinde kniet auf dem kahlen Zementboden der kleinen Kirche, die von der Armee bis in das Jahr 1989 hinein als Folterzentrum genutzt wurde. Tomas Mendéz, einer der Dorfbewohner, hat als Gefangener sechs Wochen dort zubringen müssen. "Einmal haben sie mir eine Tüte mit Kalk über den Kopf gezogen. Ein anderes Mal wurde ich in eine Plane eingewickelt und fünf Soldaten setzten sich darauf. Andere Gefangene wurden gesteinigt oder mit Messern verletzt, bis sie starben."

24 Stunden später wird die Zeremonie noch einmal wiederholt. Der zuständige Untersuchungsrichter hat die Reste der 23 Ermordeten endlich den Angehörigen übergeben. Pappkartons werden an Marktständen vorbei in die Kirche getragen. Die gleiche Zeremonie wie am Tag zuvor, und doch ist alles anderes. Weihrauch, die Flammen hunderter Kerzen. Diesmal hält Pater Axel Mencos von der katholischen Glaubensgemeinschaft des Ortes die Andacht, mit der er auch vor Worten wie "Folter", "Massaker", "Zorn" und "Rassismus" nicht zurückschreckt: "Wie kann es sein, dass den Kriminellen noch immer applaudiert wird, dass die Täter heute hohe Regierungsämter besetzen, während die Opfer weiterhin diskriminiert werden?"

Nach dem Gottesdienst sagt er: "Ich verstehe in gewisser Weise, wenn die Mayas nicht weiter daran interessiert sind, die Verantwortlichen vor ein weißes Gericht zu bringen. Sie glauben, der Richter wird sich bestechen lassen und den Mördern mehr glauben als den Opfern. Deshalb sagen die Leute, sie würden die Strafe lieber Gott überlassen. Ich kritisiere sie deswegen. So wird es nie zu einer wirklichen Vergebung kommen. Wir wollen Gerechtigkeit, keine Rache. Wir dürfen nicht darauf hoffen, dass Gott die Täter im Jenseits bestraft."

Die Halle der Kirche ist düster. Die Heiligenfiguren an den Wänden sind rußschwarz. Nachdem die Versammelten ihr Gebet gesprochen haben, werden die Kartons geöffnet. Zum Vorschein kommen Knochen, Schädel, alte Kleidungsstücke. Einige Frauen schluchzen, als die Reste der Toten wenig später für immer in den kleinen Holzsärgen verschlossen werden.

Nachdem die Träger mit den Särgen auf dem Kopf durch das Kirchentor getreten sind, wird es still auf dem Marktplatz. Einige Passanten schließen sich dem Marsch zum Friedhof an. Noch einmal Pater Axel Mencos: "Ich weiß, wie wichtig es für die Mayas ist, dass ihre Verstorbenen ein angemessenes Grab bekommen. Sie pflegen einen besonderen Kult für die Toten. Sie geben ihnen Dinge mit ins Jenseits, zum Beispiel einen Teller, einen Becher oder die besten Kleidungsstücke. Für die Mayas ist es schmerzhaft, nicht mit Sicherheit zu wissen, wo ihre Toten liegen. So tragen die Exhumierungen - so furchtbar sie auch sein mögen - viel zur seelischen Ruhe der Hinterbliebenen bei."

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden