Sie hatte einst eine Antwort auf die institutionelle Gewalt geben wollen, der die Masse der Bevölkerung in den Staaten Lateinamerikas ausgesetzt war, und als "Theologie der Befreiung" die soziale Mission der Kirche in den Vordergrund gestellt. Ihre Sprecher wie der Brasilianer Leonardo Boff und der Peruaner Gustavo Gutierrez suchten in den siebziger und achtziger Jahren den konfessionsübergreifenden Kontakt auch mit Marxisten. Die sandinistische Revolution in Nikaragua (1979) wie die bewaffnete Befreiungsfront El Salvadors wurden seinerzeit entscheidend durch diese "Kirche von unten" und ihre Tausenden von Basisgemeinden inspiriert.
Nur zweimal am Tag fährt ein Güterzug über die Gleise im Osten der salvadorianischen Hauptstadt. Die Bahntrasse wird an einigen Stellen von ehemaligen Bürgerkriegsflüchtlingen bewohnt, deren ärmliche Behausungen aus Holzplatten, Wellblech und Abfällen keine zwei Meter vom Gleisschotter entfernt stehen. Das Gelände gehört der staatlichen Bahngesellschaft, die jederzeit eine Räumung veranlassen könnte. Aber wohin sollten die Menschen dann?
Wenn der Lokomotivführer die Durchfahrt eines Zuges durch ein schrilles Signal ankündigt, laufen barfüßige Kinder durch den Schlamm provisorischer Abwasserrinnen zu ihren Müttern, während sich die Ratten in ihre Löcher unter den Betten der Familien verkriechen. Modesto Lopéz, der Generalvikar des Erzbistums von San Salvador, hat sich an die soziale Not in diesen Refugien aus Jammer und Trostlosigkeit gewöhnt: "Die Armen hier wird es immer geben, das ist nun einmal von Gott so gewollt ..." Eine solche Auffassung lehnt der deutsche Dominikaner-Pater Gerhard Pöter, der seit 20 Jahren in El Salvador lebt, vehement ab: "Die Kirche sollte sie nicht trösten, sondern ihnen dabei helfen, an sich selbst und ihren Wert zu glauben. Die Botschaft des Evangeliums richtet sich an die Benachteiligten, an die Randexistenzen, die Erniedrigten. Die Frohe Botschaft lautet, ihr seid Gottes geliebte Kinder und keine Schlacke. Wenn man hier lebt, kann man beobachten, wie die Leute immer mehr abrutschen, weil sie sich selber abwerten und durch das System, in dem sie leben müssen, abgewertet werden."
Drogen vor dem Einsatz
Eine salvadorianische Gesellschaft, die den Armen keinen Ausweg aus ihren Elend bieten konnte, war die Ursache für zwölf Jahre Bürgerkrieg (1980-1992), der 80.000 Menschen des Leben gekostet hat. Die Armee reagierte mit Hunderten von Todesschwadronen auf eine bewaffnete Guerilla im Maquis zwischen Chalatenango und San Miguel. Die Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) hatte zeitweise bis zu 10.000 Kämpfer unter Waffen und der Armee ein militärisches Patt abringen können.
"Die Guerilla hat Krieg gesät und Krieg geerntet", glaubt Modesto Lopéz, "die Armee hat damals nichts anderes getan, als die Nation zu verteidigen." Die meisten Opfer dieser Zeit des Schreckens wollen diese Sicht der Dinge auch zehn Jahre nach dem Ende der Kämpfe nicht bestätigen. Hilda Certerón, ein Mitglied der Basisgemeinde von Gerhard Pöter, hat während des Krieges ständig auf der Flucht in den Bergen gelebt. "Zum Schluss schauten die Soldaten nicht einmal mehr hin, ob sie Kinder oder Erwachsene erschossen. Sie nahmen Drogen vor ihren Einsätzen, um nicht zu wissen, was sie taten. Außerdem hörten sie von ihren Vorgesetzten ständig, sie würden Verräter und Kollaborateure der Guerilla töten und die Söhne und Töchter von Kommunisten ..."
Zu den bekanntesten Opfern dieses Bürgerkrieges gehörten die sechs Pater der Jesuiten-Universität UCA, die am 16. November 1989 auf dem Campus regelrecht hingerichtet wurden. In Armee- und Geheimdienstkreisen galten sie als intellektuelle Köpfe der FMLN. Das Massaker hatte der Generalstab beschlossen und den Befehl dazu der Eliteeinheit Atlacatl erteilt, von der jeder wusste, dass sie teilweise von US-Militärberatern geführt wurde. Auch wenn in El Salvador nach dem Bürgerkrieg 1992 ein von der UNO vermitteltes Friedensabkommen unterzeichnet und - ähnlich wie in Guatemala - zu nationaler Versöhnung aufgerufen wurde, eine Sühne oder gar Strafverfolgung für Verbrechen wie das vom November 1989 gab es nicht.
Das Misstrauen der Kurie
In der freundlichen Atmosphäre des UCA-Campus studieren heute etwa 8.000 Studenten, vorwiegend Kinder aus der wohlhabenden Schicht des Landes. Etwas abseits von den Hörsälen liegt das Pastorale Zentrum der Universität, in dessen Vorgarten die sechs Professoren seinerzeit erschossen wurden. Der Theologe Jon Sobrino (s. Interview) lebt noch immer in den gleichen Wohnräumen wie vor 14 Jahren. Er hat das Massaker überlebt, weil er kurz zuvor zu einer Vortragsreise nach Thailand abgereist war. "Natürlich war das ein fürchterlicher Schock", erinnert er sich. "In Thailand haben wir sofort eine Messe gehalten, in der ich nur von dieser traurigen Nachricht aus El Salvador gesprochen habe. Diese sechs Menschen werden uns immer ein Vorbild bleiben, sie haben nicht für Geld gelebt oder für Ruhm, sondern auf der Seite der Armen gestanden ..."
Die Ermordeten gehörten zu den prominentesten Vertretern der Befreiungstheologie, die alle Christen dazu aufruft, die Realität aus der Sicht der benachteiligten Bevölkerungsschichten zu betrachten, sie zu unterstützen und als Seelsorger zu betreuen - dieses Credo galt sehr zum Unwillen des Vatikans. Der brasilianische Theologe Leonardo Boff - er war einst der entscheidende Mentor der Befreiungstheologen - hatte dabei in besonderen Maße das Misstrauen der Kurie herausgefordert, als er im Namen von 150.000 Basisgemeinden in seinem Land die Katholische Soziallehre als wenig hilfreich bezeichnete. Sie ignoriere die realen Lebensverhältnisse in Lateinamerika, so Boff, und sei einer traditionellen Kirchenhierarchie verpflichtet, die ihren seelsorgerischen Pflichten nur ungenügend nachkomme, wenn es um das Schicksal der Armen gehe.
Die Befreiungstheologie identifiziert bis heute die reichen Länder des Nordens als Komplizen der ausbeutenden Eliten des Südens. Nicht nur Amtsträger der Katholischen Kirche verteidigen in El Salvador derartige Positionen, auch Medardo Goméz, Bischof der salvadorianischen Lutheraner, orientiert sein pastorales Handeln an den Bedürfnissen der Armen. "Die Befreiungstheologie hat stets nach einer Antwort für die Opfer gesucht, denn Gott sagt eindeutig: Ich stehe auf eurer Seite, ich höre eure Rufe. " Doch mit einer solchen Haltung meldet sich inzwischen nur noch eine Minderheit der Geistlichen zu Wort.
Die meisten Würdenträger des Hohen Klerus in Mittelamerika halten nicht mehr sonderlich viel von einer Bewahrung der befreiungstheologischen Botschaft. Der jetzige Bischof von San Salvador, Monseñor Sáenz Lacalle, hat die Lehre "als Relikt der Vergangenheit" abgeschrieben. "Ich würde sagen, sie ist aus der Mode gekommen, jedenfalls kenne ich zur Zeit nicht mehr sehr viele Priester, die sie verteidigen." Der deutsche Pater Gerhard Pöter bedauert diesen Eindruck: "Wir können nicht von Gott sprechen und gleichzeitig einverstanden sein mit dieser Welt, in der jeden Tag 20.000 Kinder verhungern. Jemand, der damit einverstanden ist und einem Wirtschaftssystem, das diese Situation produziert, oder der einfach nicht darüber redet oder nichts über die Ursachen dieser Misere in El Salvador, Guatemala oder Nikaragua wissen will, der leugnet die Existenz Gottes."
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