Werwolf an der Leine

1924 In Hannover wird Fritz Haarmann gefasst, der Mörder von mindestens 24 Kindern und jungen Männern. Populär- und Hochkultur haben jahrzehntelang ein Thema
Ausgabe 26/2014

Sollten noch Zweifel bestanden haben, dass der Serienmörder Fritz Haarmann seinen Platz in der deutschen Populärkultur gefunden hatte, wurden die im November 1961 endgültig ausgeräumt. Zu jener Zeit kletterte der renommierte Jazzmusiker Hawe Schneider mit seiner Dixieland-Tanznummer Warte, warte nur ein Weilchen auf Platz zehn der deutschen Hitparade. 20 Wochen hielt sich Schneider mit dem Stück, das bald jedes Kind mitsingen konnte, in den Charts. „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir / mit dem kleinen Hackebeilchen, macht er Hackefleisch aus dir. / Aus den Augen macht er Sülze, aus dem Hintern macht er Speck, aus den Därmen macht er Würste / und den Rest, den schmeißt er weg.“

Das Stück, eine Parodie des Schlagers Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir von Walter Kollo, avancierte schon in den 20er Jahren zum Gassenhauer im Rotlichtmilieu der Hannoveraner Altstadt, wo der homosexuelle Haarmann nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sein Unwesen getrieben hatte. Mindestens 24 Kinder und junge Männer, meist obdachlose Waisen und jugendliche Herumtreiber, hatte der gelernte Schlachter umgebracht, urteilte im Dezember 1924 das Schwurgericht Hannover. Gefasst worden war Haarmann vor 90 Jahren, am 22. Juni 1924, eher zufällig. Die Mutter eines Opfers hatte auf der Polizeiwache die Kleidung ihres verschwundenen Sohnes an Haarmanns Begleiter, seinem Liebhaber und möglichen Komplizen Hans Grans, erkannt und die Beamten informiert.

Der Werwolf

Der kleinkriminelle Haarmann, der einen Großteil seines Lebens in Gefängnissen und Nervenkliniken verbracht hatte, ging auf seinen Beutezügen stets nach dem gleichen Muster vor. Er lockte die Opfer in seine kleine Dachwohnung, wo er sie vermutlich mit einem Biss in die Halsschlagader tötete. Ihre zerstückelten Leichen warf er später in die Leine. Als das Haarmann-Lied 1961 in der Hitparade einschlug, war der Werwolf, wie ihn der Publizist Theodor Lessing in seiner Fallstudie Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs nannte, bereits über 35 Jahre tot. Dass er der Nachwelt dennoch in Erinnerung blieb, lag weniger an Schneiders flottem Dixieland-Rhythmus, als vielmehr an der aufgeregten Berichterstattung in der zeitgenössischen Presse, die den Kindermörderprozess mit immer neuen Spekulationen begleitet hatte. So hielt sich hartnäckig das Gerücht, Haarmann habe die Überreste seiner Opfer zu Fleischkonserven verarbeitet – was die Lynchstimmung anheizte. Der (Populär-)Mythos Haarmann verdankte sich der brisanten Mischung aus Sensationsgier, Angstlust und eskalierter Volksempörung.

Diese Faszination ist bis in die Gegenwart ungebrochen. Anfang der 90er sorgte der österreichische Bildhauer Alfred Hrdlicka mit einer Bronzeskulptur des nackten Haarmann, der sich über ein Opfer gebeugt an dessen Eingeweiden zu schaffen macht, in Hannover für einen Skandal. Die Monstrosität befindet sich dort heute im Sprengel-Museum für moderne Kunst. Fans des Fußballclubs Hannover 96 zogen noch bis vor wenigen Jahren zu Heimspielen eine Fahne mit dem Konterfei Haarmanns auf. Der gehört längst zur Folklore der niedersächsischen Landeshauptstadt.

Als „Mann aus der Hefe des Volkes“ hatte der die Ermittlungen leitende Kriminaloberinspektor Kopp ihn seinerzeit bezeichnet. Was der Kriminaler damit meinte, hat kein Zeitgenosse so genau beschrieben wie Theodor Lessing, der für das Prager Tagblatt über den Prozess schrieb (bis er vom vorsitzenden Richter wegen seiner kritischen Berichterstattung ausgeschlossen wurde). „Vor uns steht eine keineswegs unsympathische Erscheinung. Äußerlich betrachtet: ein schlichter Mann aus dem Volke. Freundlich blickend und gefällig, zuvorkommend, auffallend gepflegt, sauber und ‚tipp-topp‘ (...) Das zwischen braun und grau schillernde Auge ist kalt und seelenlos, aber gerissen und verschlagen und meistens in Bewegung (...) Im allgemeinen scheint er wie ein gar nicht bösartiges, ganz im Augenblick lebendes, völlig eigenbezügliches und durchaus triebhaftes Tier.“ Lessing sah in Haarmann nicht das bösartige Andere der deutschen Nachkriegsgesellschaft; nicht das Monster, als das er immer wieder dargestellt wurde. Zwar war Haarmann kein Kind des Ersten Weltkriegs (den verbrachte er fast komplett im Gefängnis), unbestritten aber der Weimarer Republik. Er wurde 1918 in eine Gesellschaft entlassen, die ihre Lebensmoral verloren hatte. Seinen sexuellen Neigungen kam das lasterhafte Chaos entgegen. Unter den Obdachlosen und jungen Strichern am Bahnhof fand er leichte Beute. Einen sexuellen Kriegsgewinnler hat der Regisseur Alexander Kluge Haarmann genannt.

Ins Kino kam der Fall Haarmann erstmals 1930 mit dem Spielfilm M – Eine Stadt sucht einen Mörder von Fritz Lang. Zu Beginn singen Kinder beim Spielen im Hinterhof das leicht abgewandelte Haarmann-Lied, kurz darauf ist eines von ihnen tot. Ein Spielball rollt eine Böschung hinunter. Langs Werk, das kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten entstand, warnte vor dem latenten Gewaltpotenzial der Weimarer Krisengesellschaft, das sich schon in den öffentlichen Reaktionen auf den Fall Haarmann angedeutet hatte. Die Stimmung in Deutschland kippte unter den Kriegsfolgen und rasanter sozialer Verarmung zusehends. Eine Einschätzung, die Lang und Lessing teilten.

Letzterer zeigte sich in seiner Werwolf-Geschichte kritisch gegenüber den korrupten Honoratioren, die Haarmann aufgrund seiner Spitzeldienste für die Polizei und sexueller Gefälligkeiten – und trotz klarer Verdachtsmomente – jahrelang geschützt hatten. Den Prozess bezeichnete Lessing als „das traurige Kleinstadtschauspiel gekränkten Juristenehrgeizes, medizinischer Selbstgerechtigkeit und amtlichen Machtmissbrauchs“. Besonders beklagte er das Vorgehen der Behörden, die Haarmanns Geständnis unter Einsatz von Gewalt erzwungen hatten, sich aber weigerten, seine offensichtliche geistige Unzurechnungsfähigkeit anzuerkennen. Der aufgewühlten Volksseele musste eben ein Opfer dargebracht werden.

Spätere filmische Versionen konzentrierten sich auf andere Aspekte des Phänomens Haarmann. 1973 drehte Fassbinder-Protegé Ulli Lommel mit Kurt Raab in der Hauptrolle den frivolen Vampirfilm Die Zärtlichkeit der Wölfe, der in erster Linie die Beziehung von Haarmann und Grans behandelte. Lommels Film spielte in den 50er Jahren, beschrieb urbanes Bahnhofs- wie Arbeitermilieu und zeigte, wie ressentimentbehaftet die Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik doch war. Einen anderen Ansatz wählte 1995 Romuald Karmakar mit seinem filmischen Kammerspiel Der Totmacher, das auf den Protokollen der Gespräche beruht, die einst der psychologische Gutachter Ernst Schultze mit dem Täter führte. In Götz Georges beeindruckender Darstellung Haarmanns sind ebenjene Wesenszüge auffällig, die Theodor Lessing in seinem Buch beschrieb.

Interessanterweise hat Haarmann selbst von sich in historischen Größenordnungen gedacht, er war sich der medialen Aufmerksamkeit für seine Person wohl bewusst. Nach seiner Verurteilung verkündete Haarmann, dass er auf dem Hannoveraner Marktplatz vor laufenden Kameras hingerichtet werden möchte: „Dann sehen doch alle Leute, dass ich tot bin. In Amerika – da bin ich auch im Kino. Ich bin doch ganz berühmt.“ Das Gericht kam seinem Wunsch nicht nach. Er starb am 15. April 1925 unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Hof des Gerichtsgefängnisses durch das Fallbeil. Sein präparierter Kopf wurde später zu Forschungszwecken an das Gerichtsmedizinische Institut in Göttingen übergeben. Im offiziellen Adventskalender der Stadt Hannover ist das Gesicht Haarmanns bis heute neben anderen lokalen Persönlichkeiten vertreten.

Andreas Busche schrieb hier zuletzt über den Grimme-Preis für TV Spielfilm im Jahr 1994

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