Mit einiger Verzögerung kommt diese Woche Errol Morris´ heftig diskutierter Dokumentarfilm Fog of War aus dem Jahr 2003 in die deutschen Kinos. Der Starttermin ist klug gewählt, verdankt der Dokumentarfilm dem großen Erfolg von Michael Moores Fahrenheit 9/11 doch eine Aufmerksamkeit wie selten zuvor. Fog of War ist ein komplex angelegtes Porträt von Robert S. McNamara, dem amerikanischen Verteidigungsminister unter Kennedy und Johnson, und gleichzeitig der ambitionierte Versuch, das Wesen der Geschichtsschreibung mit der Frage politischer Verantwortung zu verknüpfen. McNamara scheint dafür der richtige Mann zu sein: Bekannt als "Architekt des Vietnam-Krieges", gilt er bis heute als eine der zwiespältigsten Figuren der amerikanischen Außenpolitik nach 1945. Aus zwanzig Stunden Interviewmaterial, angereichert mit seltenen Archivaufnahmen aus Militärbeständen und erst kürzlich veröffentlichten Tondokumenten aus dem Weißen Haus, hat Morris einen Film geschaffen, der seiner Figur gerecht werden will, ohne historisch über sie zu urteilen.
Die größtenteils positiven Reaktionen auf Morris´ filmisches Porträt lassen einige Rückschlüsse auf die aktuelle Rezeption des Dokumentarfilms zu. Es gilt heute, klassische Konzepte wie Objektivität oder die Forderung nach einer dokumentarischen Ethik auf ihre Wirksamkeit zu untersuchen. Die Kritik an Michael Moores zweifelhaften filmischen Praktiken in Fahrenheit 9/11 wirft ein ungünstiges Licht auf das allenthalben vernommene Lob für Fog of War, zeigt Morris doch, wie leicht "Objektivität", die er für seine Art des Filmemachens reklamiert, mit Hilfe formaler und technischer Mittel außer Kraft gesetzt werden kann. Man kann Morris nicht nur kritiklose Distanz vorwerfen, sondern ihn unterschwelliger Parteilichkeit, zumindest jedoch der Voreingenommenheit verdächtigen.
"Elf Lektionen aus dem Leben des Robert S. McNamara" hat Morris seinen Film untertitelt und damit McNamaras Leben zum politischen Bildungsroman erhoben. Einen Nachweis dafür bleibt Fog of War bis zum Ende schuldig. McNamara spricht einen Großteil des Films direkt in die Kamera, seine sonore Stimme legt sich zeitweise aber auch wie die eines allwissenden Erzählers über die Archivbilder "seiner" Kriege. Er steht für einen politischen Typus, der die Auswirkungen des eigenen Tuns nicht völlig reflektiert, gerne aber auf lebensphilosophische Gemeinplätze zurückgreift. Morris dienen die Floskeln als willkommene Lehrsätze aus der großen Welt der Politik, gesprochen von einem eiskalten Strategen, der sich immer dann hinter dem Schutzschild einer mangelhaften Erinnerung versteckt, wenn es ihm nützlich erscheint. So hat man am Ende der 107 Minuten langen Meditation über Macht, Krieg und das menschliche Wesen den Eindruck gewonnen, dass der Segen des Vergessens noch immer den dichtesten Nebel über die ehemaligen Schlachtfelder legt. Die Aphorismen, die Morris aus Worten destilliert, die im Grunde nichts zu sagen haben, klingen immerhin recht kernig.
"Fühle dich in deinen Gegner ein", ist McNamaras Lektion aus der Kuba-Krise, die nur durch großes Glück abgewendet werden konnte. Dass McNamara jedoch nicht fähig ist, die eigenen Einsichten zu befolgen, beweist er nur wenige Jahre später. Ab 1965 befehligte er eine Reihe von militärischen Operationen, die Teile Vietnams dem Erdboden gleichmachten. Von Feingefühl für die Situation des Gegners zeugt das nicht unbedingt. Erst 1995 wurde McNamara von tiefer Erkenntnis übermannt. In jenem Jahr erklärte ihm im Rahmen eines diplomatischen Empfangs einer seiner ehemaligen Gegner die historischen Allianzen in der Region Südost-Asien. Nie habe Gefahr bestanden, dass Vietnam, dem Domino-Prinzip zum Opfer fallend, an China gegangen wäre. Die Vietnamesen hätten den Konflikt stets als lokalen Unabhängigkeitskampf verstanden und nicht als ein Stück im Puzzle des Kalten Kriegs. Schon seit tausend Jahren hätten sie sich gegen China - kommunistisch oder nicht - zur Wehr gesetzt. "Lesen Sie keine Geschichtsbücher?", fragte der vietnamesische Politiker einen verblüfften McNamara.
Am Anfang des Films sinniert McNamara, dass er mit 85 Jahren endlich ein Alter erreicht habe, das es ihm erlaube, zurückzublicken und Schlüsse aus seinem Leben zu ziehen. Nur wird in Fog of War sehr bald deutlich, dass McNamara gerade so viel an moralischer Verantwortung eingesteht, wie für seinen Seelenfrieden verträglich ist. Morris, zweifellos ein technisch hervorragender Filmemacher, degradiert sich dabei zum Erfüllungsgehilfen. Gemeinsam mit McNamaras Autobiographie In Retrospect fungiert Fog of War als Lebenszeugnis eines Mannes, dem es angesichts der politischen Reichweite seiner Entscheidungen entschieden an kritischer Distanz mangelt. Er ringt sich schwerwiegende Selbsteinschätzungen ab wie die, dass, hätten die USA den Zweiten Weltkrieg verloren, er und General Curtis E. LeMay ganz sicher der Kriegsverbrechen angeklagt worden wären - um etwas später im Film, bei der Frage der Verantwortung für die Napalmteppiche, wieder in den Nebel des Vergessens abzutauchen. Die Antwort auf Morris´ Frage, wer denn letztendlich die politische Verantwortung für den Vietnam-Krieg getragen habe, fällt eindeutig aus: "Der Präsident".
In Momenten wie diesen zeigt sich, dass Morris´ Prinzip der Objektivität zum Scheitern verurteilt ist, weil er es für nötig hält, McNamaras Antworten mit Nachdruck zu begegnen. Morris ist dem Irrtum aufgesessen, dass sich Geschichte, reichlich bebildert und von kompetenter Seite kommentiert ("re-examined"), von selbst erklärt. Der Erkenntnis steht jedoch immer die Uneinsichtigkeit McNamaras im Weg, der - mag er während des Vietnamkrieges, wie jüngst veröffentlichte Tonbandaufnahmen in Fog of War nahe legen, noch so sehr von persönlichen Zweifeln über die Richtigkeit des Einsatzes von Napalm und Agent Orange geplagt worden sein - im Jahre 2003 immer noch von einer "Proportionalität der Mittel" im Kriegsfall sprechen kann.
Morris´ dokumentarische Haltung erweist sich als schwammige Schein-Objektivität, wenn seine auffälligsten journalistischen Eingriffe in affirmativen Zurufen aus dem Kamera-Off bestehen. Aber nicht nur verbal gibt Morris seinem Gegenüber moralische Steilpässe. Die gesamte Bildmontage zielt darauf ab, McNamara zur historischen Autorität zu erheben. Ein Anspruch, der moralisch nicht gerechtfertigt ist. Geschickt setzt Morris filmische Mittel ein, um Sätze McNamaras zu unterstreichen oder zu isolieren. Bestimmte Aussagen werden durch eingefügte Schwarzbilder - im Gegensatz zur Abblende - dramatisch interpunktiert. Und einmal, nachdem McNamara von sich als Kriegsverbrecher gesprochen hat, bleibt die Kamera für eine halbe Minute auf seinem ausdrucksstarken Gesicht ruhen, während die Stimme aus dem Off bereits weiter erzählt. Solche subtil eingesetzten Mittel der Dramatisierung verfügen zweifellos über ein weitaus höheres manipulatives Potenzial als die marktschreierischen Montagetechniken Michael Moores. Mit einer dokumentarischen Objektivität haben beide nichts am Hut.
Die Selbstsicherheit, mit der McNamara vor die Kamera tritt, ist von der ersten Sekunde an frappierend. Selbst wenn er von Brandbombenteppichen auf Tokio und schwerwiegenden militärischen Entscheidungen zu Zeiten des Vietnamkriegs spricht, nimmt er vor der Kamera jene autoritäre Haltung ein, die ihm schon in den fünfziger Jahren den Ruf eines arroganten Machtmenschen eingebracht hat. Der Zeigefinger, immer wieder in Richtung Zuschauer erhoben, unterstreicht McNamaras Selbstverständnis als lebendiges Geschichtsbuch. "Sei darauf vorbereitet, deine Erfahrung stets neu zu hinterfragen" lautet die achte Lehre aus dem Leben des Robert S. McNamara. Einem Mann jedoch, der den Krieg als Schicksalsgebilde versteht, als eine Art Naturphänomen und nicht als einen von Menschenhand geschaffenen Umstand, will man solche Einsichten nicht so recht abkaufen.
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