Kinsey kommt nicht

IM KINO Bill Condons Film über den Sexualforscher "Kinsey" ist so verklemmt wie sein Held

Die Zeiten, in denen Aufklärung die Domäne steifer Professoren gewesen ist, gehören der Vergangenheit an. Im Amerika der Gegenwart untersteht diese Wissens-Distribution einem vorsintflutlichen Regime aus Fernsehpredigern, religiösen Fundamentalisten und puritanischen Neocons; eine gewaltige anti-aufklärerische Grassroots-Bewegung mit enormer medialer Reichweite. Vielleicht ist Bill Condons Film Kinsey über Amerikas exzentrischen Sexualforscher Alfred Kinsey (1894-1956) gerade deshalb wieder von Relevanz, auch wenn er so altbacken und bieder daherkommt, dass man sich dazu den Sex, der ja eigentlich auch Spaß machen soll, lieber erst gar nicht vorstellen möchte. Außerhalb Amerikas muss Condons Film fast wie ein historisches Boulevardstück wirken - ohne hier den Aufklärungsgrad der Gesellschaften von Old Europe überschätzen zu wollen.

Die Forschungsergebnisse, die Kinseys Institute for Sex Research Ende der vierziger Jahren veröffentliche, würden selbst heute noch so manchen sexuellen Konsens sprengen. Bemerkenswert an Condons Film ist vor allem, in welchem Maß er die Rolle des im öffentlichen Ansehen zuallererst heterosexuellen Aufklärers Kinsey in der Geschichte der schwulen Emanzipation würdigt. Dessen Vorstellung des "menschlichen Tiers" (eine seiner Standardformulierungen; wissenschaftlich-neutral gehalten, und im Grunde doch so schweinisch) als pansexuelle Kreatur, die sich auf einer Skala von 0 (heterosexuell) bis 6 (homosexuell) von Natur aus im gesicherten Mittelfeld (bisexuell) bewegt, gehört zu den zentralen Erkenntnissen von Kinsey. Indem Condon gemeinsam mit Kinsey eine sexuelle Orientierung als bloßen Ausdruck gesellschaftlicher Disziplinierung kritisiert, erklärt sein Film Sex kurzerhand zum Politikum. Zurecht, wie die letzte amerikanische Präsidentschaftswahl gezeigt hat.

Das plötzliche Kinsey-Revival mit Condons Film und T.C. Boyles im April erscheinendem Roman Dr. Sex kommt also nicht von ungefähr. Doch Kinsey ist nicht nur die Geschichte der ersten sexuellen Revolution (damit wäre Kinseys Biografie tatsächlich allenfalls von historischem Wert), sondern auch eine menschliche Tragödie. Der Film handelt von einem fundamentalen Missverständnis über Sexualität, welche der Empiriker Kinsey anhand von Statistiken und Tabellen zu verstehen versuchte. Liam Neeson spielt diesen Kinsey als obsessiven Zwangscharakter: Sympathisch genug, um ihm abnehmen zu können, dass die Studenten ihn öffentlich "Prok" nannten, aber auch befähigt zu einer schier übermenschlichen Abstraktionsgabe. Wenn sich im Film seine Mitarbeiter zu Demonstrationszwecken irgendwann sogar eine Prostituierte ins Institut holen, beobachtet er die Kopulationspraktiken der jungen Frau mit derselben Sachlichkeit wie die Paarungsrituale der Gallwespe, dem Steckenpferd des Zoologen Kinsey.

Manchmal wünschte man sich regelrecht, dass dieser Kinsey, der sich mit Bürzel-Crew Cut und komischer Fliege vom restlichen Lehrkörper äußerlich nicht im Geringsten unterscheidet, nur einmal die Contenance verlieren würde und einfach nur "vögeln" will. Doch Neesons Kinsey bleibt uns in seiner hypersexualisierten Wissenschaftlichkeit als Mensch größtenteils fremd - auch wenn er den Größten hat, wie seine Frau Clara (Laura Linney hat es wieder einmal nicht leicht mit ihren Männern) stolz am Lineal ihres Sex-Therapeuten demonstriert. Die generelle Schwächen von Biopics, es mit ihren Biografien letztlich nicht allzu genau zu nehmen, hätte Condon in eine Stärke verwandeln müssen. Doch Kinsey mangelt es an Fantasie, dieses Leben, das wie kaum ein zweites mit der - nicht zuletzt auch praktischen - Erforschung von Sex synonym geworden ist, in etwas originell Lustvolles (oder warum nicht gleich: Stimulierendes) zu verwandeln.

Vielleicht aber liegt gerade in Kinseys Unverständnis für die menschliche Sexualität auch das Problem von Condons Film. Condon, so sehr er mit Kinsey sympathisiert, ist sich der Ambivalenz dieser Figur natürlich voll bewusst. Es gibt seltene Momente in seiner Filmbiographie, in denen die Schwächen von Kinseys selbsterrichtetem Regime durchschimmern. Sein Assistent Clyde (Peter Sarsgaard) bringt es einmal auf den Punkt: Kinsey kalkuliert den menschlichen Faktor einfach nicht ein. Als sich das Forschungsteam im Dienste der empirischen Wissenschaften langsam in einen Swinger-Club verwandelt, droht auch die Konstruktion der unerschütterlichen Kinsey-Lehren ins Wanken zu geraten. Das wachsende Interesse der McCarthy-Kommission an der Arbeit des Institute for Sex Research scheint letztlich symbolisch für das Scheitern von Kinseys kühner Befreiungsrhetorik zu stehen.

Wie sexy ein Film über Sex aussehen darf, daran lässt Condon keinen Zweifel. Auf dem Höhepunkt seiner aufklärerischen Raserei, als schon lange kein Amerikaner und keine Amerikanerin mehr zuhören will, wirft Kinsey die hypothetische Frage auf, wie Amerika heute wohl aussehe, wenn sich nicht die Puritaner, sondern die Libertären einst von England nach Amerika aufgemacht hätten. Wohl wahr, möchte man hinzufügen. Und fragen, wie dann ein Film über Alfred Kinsey erst ausgesehen hätte ...


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