Die erste Reaktion von Stanleys Mutter, als sie ihren Sohn nach Jahren wiedersieht, ist ein beherzter Griff zwischen seine Beine. Mit Erleichterung stellt sie fest, dass noch alles dran ist. Stanleys Antwort besteht darin, die Hand seiner Mutter mit unterdrückter Wut an seinen Brustkorb zu zerren. Erschrocken zieht sie ihre Hand zurück. Die Berührung seiner Brüste kommt für sie zwar nicht überraschend, ist aber trotzdem ein Schock. Und dann stehen sie sich kurz sprachlos gegenüber, ein angespannter Moment zwischen rührender Tragikomik und kreischender Hysterie.
Duncan Tuckers Transamerica wartet mit einer der seltsamsten Coming Out-Szenen auf, die das amerikanische Kino bisher hervorgebracht hat. Entgeistert versammelt sich Stanleys Familie um den verlorenen Sohn, der eines Tages - in einem fliederfarbenen Kleid und seinerseits mit einem 17-jährigen Sohn im Schlepptau - wie aus heiterem Himmel in das spießige Vorort-Eigenheim platzt. Und wir ahnen bald, dass Stanley, beziehungsweise Bree, wie er sich inzwischen nennt, in diesem sympathisch-durchgeknallten Haufen noch mit Abstand der Normalste ist.
In einem Kinofrühjahr, das wie nie zuvor sexuelle Diversität beworben hat, ist Felicity Huffmans Bree die bislang faszinierendste Figur. Sie ist ein weiterer Beleg dafür, dass Abweichungen von der gesellschaftlich sanktionierten sexuellen Norm von Hollywood nicht mehr automatisch nur in Form von sozial marginalisierten Lifestyles gesehen wird. (Naturgemäß war das Fernsehen mit Serien wie Will and Grace oder Six Feet Under Hollywood hier um einige Jahre voraus). Soll heißen: Das bürgerliche Lebenskonzept steht nicht mehr in ausschließlicher Opposition zum Selbstverständnis von Queerness oder Transsexualität, sondern darf plötzlich durchaus auch als erstrebenswert angesehen werden. Huffmans Bree hegt wie Jake Gyllenhaals Cowboy-Figur in Brokeback Mountain die große Sehnsucht nach einem ganz "normalen" Leben.
Doch dahin ist es in Transamerica noch ein langer Weg. Eine Woche vor der Operation, die ihre körperliche Verwandlung in eine Frau besiegeln soll, bekommt Bree einen Anruf aus New York. Ein Junge, ihr vermeintlicher Sohn, ist von der Polizei mit Drogen aufgegriffen worden. Sie hält den Anruf zunächst für einen Streich, aber ihre Therapeutin Margeret (Elizabeth Peña) rät ihr zu einem "sauberen" Start ins neue Leben und deshalb zum Aufräumen des Psychoballasts. Mehr zur Beruhigung Margerets als aus eigenem Antrieb fährt Bree nach New York, um sich - als vorgebliche Mitarbeiterin eines christlichen Werks - Toby (Kevin Zegers) einmal anzusehen. Ganz so reibungslos verläuft das Treffen jedoch nicht. Denn Toby, der sein Geld als Stricher verdient, hat sich in den Kopf gesetzt, nach Los Angeles zu trampen, um dort seinen leiblichen Vater zu finden - und nebenbei eine Karriere als Pornodarsteller zu starten. So landen Bree und Toby zusammen in einem klapprigen Kombi, auf dem Weg nach Kalifornien.
Huffman und Zegers sind ein selten anrührendes "ungleiches Paar". Tucker ist allerdings weniger daran interessiert, die Gegensätze der beiden auszuspielen als vielmehr ihre verborgenen Gemeinsamkeiten aufzuspüren. Einer ihrer ersten Zwischenstopps ist eine Art transsexuelle Teeparty einer alten Freundin Brees; die Szene ist ein Höhepunkt des Films. Tobys ungezwungener Umgang mit den Frauen (und Männern) lässt erahnen, dass Brees Freundeskreis bei weitem nicht das Verstörendste ist, was er in seinem bisherigen Leben gesehen hat. (Ein kurzer Besuch bei Tobys Stiefeltern ist zuvor bereits eskaliert). Ein stilles Einverständnis, das lange unartikuliert bleibt, scheint zwischen Bree und Toby zu bestehen. Und irgendwann spielt auch das Geheimnis von Brees sexueller Identität keine Rolle mehr. Die Souveränität, mit der Tucker in Transamerica die offensichtlichen Konfliktsituationen und Klischees umgeht, ist erfrischend. Er kann sich dabei ganz auf die Chemie zwischen Huffman und Zegers verlassen.
Tuckers Entscheidung, die Rolle Brees mit Huffman zu besetzen, sorgt auch für einen schönen Effekt: Wir sehen einer Frau dabei zu, wie sie einen Mann spielt, der versucht, eine Frau zu werden. Es ist ein schwieriger Prozess für Bree, und Huffman gelingt es, ein Gefühl von Unzulänglichkeit in ihrem Spiel zum Ausdruck zu bringen. Brees ungeschickte Versuche, ihr Mehr an Männlichkeit mit übertriebener Weiblichkeit zu kompensieren - ihr geziertes Stöckeln, ihre unbehagliche Steifheit, die damenhaften Kostüme -, lassen den Zuschauer schmerzlich spüren, wie unwohl Bree sich in ihrer Haut fühlen muss. "Was für ein Verhältnis haben sie zu ihrem Penis?" fragt ihr Arzt sie zu Anfang, und Bree entgegnet voller Abscheu: "Er ekelt mich an." Tuckers Wahl, für die Darstellung eines Mannes, der eine Frau sein will, eine Frau zu besetzen erscheint letztlich weder als dekonstruktivistischer Effekt noch Zugeständnis an den Mainstream, sondern als eine im Rahmen seiner Geschichte sehr einfühlsame Lösung. In einem Interview hat er Transamerica als seine Hommage an transsexuelle Frauen bezeichnet. Es sei ihm darum gegangen, ihnen für das, was sie sind, Respekt zu erweisen, und nicht dafür, woher sie kommen.
Für diesen Prozess ist die klassische Form des Roadmovies nahezu perfekt. Der Titel Transamerica, reichlich blöd für einen Film über Transsexualität, impliziert dabei auch eine Berührung mit sehr unterschiedlichen demografischen Schichten, die Brees Lebensweise nicht immer offen gegenüberstehen. So entwickelt sich ihre Reise nicht nur zu einem den Genrekonventionen entsprechenden Selbstfindungstrip, sondern wird auch zur definitiven Prüfung ihrer Strategie des, wie sie es nennt, "Untertauchens": bloß nicht auffallen, ein Leben führen wie alle anderen auch. Transamerica ist aufrichtig genug, hier ein Lebensmodell anzubieten, das nicht zwangsläufig im Selbstbetrug endet. Denn letztlich ist Brees sexuelle Identität nicht ihr Problem. Allenfalls das ihrer Mitmenschen.
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