Im September 1995 gab die linksanarchistische Gruppe „Das Komitee“ ihre Selbstauflösung bekannt. Ein Jahr zuvor hatte sie einen Brandanschlag auf ein Kreiswehrersatzamt verübt und danach vergeblich versucht, das Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau in die Luft zu jagen. Nach ihrer Selbstauflösung tauchten die drei Mitglieder unter, sie konnten nie gefasst werden. Ihre Straftaten, bei denen niemand verletzt wurde, sind längst verjährt. Dennoch wurde erst vor zwei Wochen wieder eine Berlinerin von der Bundesanwaltschaft für eine Zeugenaussage nach Karlsruhe zitiert, unter Androhung von Beugehaft. Sie hatte einen der Untergetauchten 1995 kennengelernt und ihm damals kurz eine EC-Karte überlassen. Über diesen, mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegenden Vorgang sollte sie jetzt Auskunft geben.
Die Verve, mit der deutsche Ermittlungsbehörden und insbesondere die Bundesanwaltschaft linksterroristischen Strukturen nachjagen, auch wenn deren Straftaten lang zurückliegen oder sogar schon verjährt sind, verblüfft immer wieder. Vor allem deshalb, weil sich eine solche Hartnäckigkeit gegen Täter aus dem rechtsextremen Spektrum nicht beobachten lässt.
Natürlich wird ermittelt und angeklagt, wenn es zu schweren Straftaten von Neonazis kommt. Und auch die Bundesanwaltschaft ist inzwischen eher bereit, Verfahren gegen rechte Gruppen an sich zu ziehen. So geschehen etwa bei der im vergangenen Frühjahr ausgehobenen mutmaßlichen sächsischen Terrorzelle „Gruppe Freital“, der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte vorgeworfen werden. Dennoch fällt auf, dass die Behörden im rechtsextremistischen Deliktbereich oftmals eher dazu neigen, auf halbem Weg stehen zu bleiben, um einen schnellen Ermittlungsabschluss zu erreichen. Eine Aufklärung länderübergreifender Strukturen und Strategien im militanten Rechtsextremismus überlässt man bis heute noch lieber dem Verfassungsschutz – obwohl der Geheimdienst auf diesem Terrain seit Jahrzehnten spektakulär versagt hat.
In keinem Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte bündelt sich dieses Versagen so sehr wie im Fall der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Mindestens 13 Jahre lang konnte die Bande unerkannt raubend und mordend durch die Bundesrepublik ziehen. Dabei war das in Zwickau untergetauchte NSU-Kerntrio aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt über all die Jahre hinweg von insgesamt vier Dutzend V-Leuten des Verfassungsschutzes umringt. Der Geheimdienst will aber angeblich nichts mitbekommen haben.
Nur ausgesuchte Aktenteile
Nichts gehört, nichts gesehen, nichts gewusst – so lautet das Mantra des Verfassungsschutzes, seit vor fünf Jahren in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach die durch Kopfschüsse getöteten Mundlos und Böhnhardt aufgefunden und wenig später die Tatwaffe der Ceska-Mordserie und die NSU-Bekennervideos im Brandschutt der Zwickauer Wohnung des NSU-Trios sichergestellt wurden. Ob das aber stimmt, lässt sich kaum mehr nachprüfen: Kurz nach der Selbstenttarnung der Terrorgruppe begann der Verfassungsschutz damit, gezielt V-Mann-Akten aus dem Umfeld des NSU zu vernichten.
Einer der dafür verantwortlichen Referatsleiter aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) räumte später ganz offen seine Vertuschungsabsicht ein: Es habe eine Rolle gespielt, „dass nach vernichteten Akten in der Zukunft nicht mehr gefragt werden kann“. Schließlich sei doch „völlig klar gewesen, dass sich die Öffentlichkeit sehr für die Quellenlage des BfV in Thüringen interessieren“ werde.
Der BfV-Referatsleiter lag mit seiner Ahnung richtig. Zwölf Untersuchungsausschüsse in Bundestag und Landesparlamenten versuchen seit fünf Jahren herauszufinden, ob der Verfassungsschutz nicht vielleicht doch Hinweise auf den NSU und seine Taten übersehen hat. Oder sogar übersehen wollte. Ein vergebliches Unterfangen, denn der Geheimdienst setzt bislang erfolgreich alles daran, seine eigene Rolle im NSU-Komplex zu verschleiern. Und das nicht nur Parlamentariern und Medien gegenüber, auch die Ermittlungsbehörden – Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt – werden nur eingeschränkt mit Informationen versorgt.
Anfang August etwa gab das BfV in einem Schreiben an den NSU-Ausschuss des Bundestages selbst zu, den Ermittlern „lediglich markierte Bestandteile“ von Akten vorzulegen. Wenige Wochen zuvor hatte ein Vertreter der Bundesanwaltschaft noch im Ausschuss erklärt, seine Behörde gehe davon aus, stets vollständige Akteneinsicht beim BfV erhalten zu haben.
Sorgen um mögliche Konsequenzen aus seinem Eingeständnis muss sich der Verfassungsschutz jedoch nicht machen. Denn die strafrechtliche Aufklärung der NSU-Taten hatte von Beginn an unter einer zu großen Zaghaftigkeit der Ermittler gelitten. Frühzeitig legte sich die Bundesanwaltschaft auf die These einer abgeschottet agierenden dreiköpfigen Terrorzelle fest, von der weder Freund noch Feind wussten. Auch wenn die Bundeskanzlerin auf der Trauerfeier für die NSU-Opfer im Februar 2012 noch versprochen hatte, nach allen Helfershelfern und Hintermännern der Taten zu suchen, geschah genau dies nicht in der notwendigen Weise.
Was vor allem auch daran lag, dass der politische Druck seinerzeit immens war, in möglichst kurzer Zeit eine belastbare Anklage gegen die einzige Überlebende des NSU-Kerntrios, Beate Zschäpe, zu zimmern. Eine Anklage zudem, die eine Mitverantwortung staatlicher Behörden für die NSU-Mordserie ausspart. Vielen Spuren und Hinweisen, die tiefer in das Geflecht aus militanten Neonazis, zwielichtigen Verfassungsschutzspitzeln und Geheimdiensten führen, gingen die Ermittler lange Zeit gar nicht und später nur halbherzig nach. In der Anklageschrift sind diese Hinweise gänzlich ausgespart.
Wenn Vertreter der Bundesanwaltschaft dazu befragt werden, etwa wie jüngst im Berliner NSU-Untersuchungsausschuss, dann winden sie sich um klare Aussagen herum. Wie Bundesanwalt Jochen Weingarten, der am 9. Juni als Zeuge geladen war. Weingarten leitete den NSU-Ermittlungskomplex und sitzt jetzt als Ankläger im Münchner Prozess gegen Beate Zschäpe und vier ihrer mutmaßlichen Helfer. Die Abgeordneten fragten Weingarten, warum seine Behörde so wenig unternimmt, um das Netzwerk rings um das NSU-Trio aufzuklären. Netzwerk sei keine strafrechtliche Kategorie, antwortete der Bundesanwalt darauf. Man müsse Unterstützungsleistungen von dritter Seite nachweisen. „Ich brauche halbwegs valide Anfasser, aber da sehe ich keine konkreten Anhaltspunkte für eine Unterstützung etwa durch regionale Kräfte“, sagte Weingarten.
Im Fall der linken Terrorzelle „Das Komitee“, um noch einmal auf den eingangs geschilderten Fall zurückzukommen, reichte der Bundesanwaltschaft eine vor 21 Jahren ausgeliehene EC-Karte als „valider Anfasser“, um heute noch eine Frau als mögliche Terrorhelferin vorzuladen. Beim NSU dagegen sind die mehr als 40 nicht identifizierten DNA-Spuren, die sich an Tatwaffen und anderen Beweismitteln finden, offenbar keine „validen Anfasser“, um auf mögliche Mittäter und Mitwisser zu schließen.
Ebenso wenig der Umstand, dass bei einigen der NSU-Taten auf Zeugenaussagen beruhende Phantomzeichnungen mutmaßlicher Täter vorliegen, die keine Ähnlichkeit mit den beiden Jenaer Nazis aufweisen. Das NSU-Verfahren habe „eine Vielzahl von merkwürdigen Zufällen zutage gefördert“, sagte dazu Weingartens Kollegin und Mitanklägerin im Münchner Prozess, Anette Greger, vor dem Berliner NSU-Untersuchungsausschuss. Allerdings seien diese Zufälle für ihre Behörde „ohne Relevanz“, da sie ja nicht das Ermittlungsergebnis in Frage stellen würden, wonach ausschließlich Mundlos und Böhnhardt die Morde und Bombenanschläge begangen hätten.
Der Fall NSU offenbart einmal mehr die Nachteile, die sich daraus ergeben, dass die oberste Anklagebehörde der Republik kein politisch unabhängiges Strafverfolgungsorgan ist. Der Generalbundesanwalt ist ein politischer Beamter, der jederzeit ohne Angabe von Gründen vom Bundesjustizminister abgesetzt werden kann. Sein Entscheidungsspielraum ist somit erheblich eingeschränkt, insbesondere bei politisch heiklen Verfahren. Im NSU-Komplex etwa hat dieser Umstand verhindert, dass sich die Behörde deutlich mehr Zeit für umfassendere Ermittlungen nehmen und einen stärkeren Druck auf den Verfassungsschutz zur Aufklärung ausüben konnte.
So viele offene Fragen
Die Folgen dieser Versäumnisse werden in dem nun mehr als 40 Monate währenden NSU-Prozess offenbar. Nicht zuletzt durch die zahllosen Beweisanträge der hartnäckigen Nebenkläger, die auf die vielen offenen Fragen im NSU-Komplex zielen. Dem Gericht ist anzurechnen, dass es über weite Strecken des Prozesses versucht hatte, Hintergründe und Zusammenhänge aufzuklären, die in der Anklageschrift fehlen. Etwa, warum sich die angeblich so eiskalten Killer Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 plötzlich das Leben genommen haben sollen, und wie Beate Zschäpe vom Tod ihrer Freunde erfuhr. Oder warum der Polizistenmord von Heilbronn nur Mundlos und Böhnhardt zugeschrieben wird, wenn doch so viele Zeugenaussagen auch aus Sicht der Ermittler auf einen größeren Täterkreis hindeuten.
Und war es wirklich Zufall, dass ein Verfassungsschützer – wie in Kassel geschehen – zur Tatzeit am Ort eines Mordes ist, von dem er nichts mitbekommen haben will? Wie kann es sein, dass V-Leute mit finanzieller und logistischer Unterstützung staatlicher Behörden den Aufbau extremistischer Strukturen in der rechten Szene fördern? Warum endet 2006 plötzlich die Ceska-Mordserie, und wieso verüben ein Jahr später die NSU-Täter in Heilbronn einen Mordanschlag auf Polizisten? Weshalb verändern sie danach so auffällig ihren Lebensstil, indem sie in eine bürgerliche Gegend ziehen und im Urlaub bewusst Kontakt zu fremden Familien suchen?
Zu diesen Fragen hatte Manfred Götzl, Vorsitzender Richter im NSU-Prozess, auch gegen den erbitterten Widerstand der Bundesanwaltschaft zunächst eine ganze Reihe von Beweisanträgen der Nebenklage zugelassen und Zeugen gehört. Möglicherweise ahnte auch er, dass die Geschichte um den NSU viel komplexer, weitreichender und verstörender sein könnte, als es die Bundesanwaltschaft ihm und der Öffentlichkeit in ihrer Anklageschrift weismachen will. Mit seiner anfänglichen Bereitschaft aber ist Götzl letztlich gescheitert – am Widerstand und der Blockadehaltung von Ermittlern und Behörden, vor allem am Widerstand des Verfassungsschutzes.
Im vergangenen Frühjahr gab der Richter seine Bemühungen faktisch auf und erklärte, das Gericht sei nicht zu „ausufernder Aufklärung“ verpflichtet und müsse nicht jedes „Randgeschehen“ untersuchen. Der überraschende Sinneswandel war nicht weniger als eine Kapitulation des Rechtsstaats – vor einer staatlichen Mauer des Schweigens und Vertuschens.
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