Am Bahnhof schlüpft Mutter aus ihrem Mantel, hält ihn Sonja hin: "Nimm schon!" und springt in den Zug. "Ich rufe dich abends an", schreit sie durch das schnell heruntergerissene Abteilfenster, "ich will dann nichts wegen des Mantels hören!"
Drei Tage später fallen die ersten Blätter. Die Sonne schält einen herbstlichen Dunst vom Pflaster. Sonja legt Mutters Wollmantel neben sich auf die Parkbank.
"Ich spreche Sie jetzt einfach an", sagt die schwarz gekleidete Frau, die plötzlich, wie aus dem Nichts, vor Sonja steht.
Was wird die schon wollen? denkt Sonja.
"Es ist warm", sagt die und setzt sich.
"Fast zu", sagt Sonja.
"Meine Mutter ist daran gestorben. An der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze, hat der Arzt gesagt."
"Das tut mir Leid", sagt Sonja.
"Das muß ihnen nicht Leid tun. Mir tut es auch nicht Leid."
"Vielleicht stehen Sie noch unter Schock."
"Vielleicht", sagt die. "Es ist schrecklich, dass es mir nicht Leid tut, nicht wahr?"
"Es könnte aber tatsächlich so sein, dass es Ihnen nicht Leid tut", sagt Sonja.
"Sie starb im Schlaf. Der Arzt sagt, alle wünschen sich so einen Tod", sagt die. "Wünschen Sie sich auch so einen Tod? Ohne es zu bemerken?"
"Nein, man kann nicht sterben, ohne es zu bemerken. Man wacht auf und merkt, dass man stirbt", sagt Sonja, "man ist froh, wenn man stirbt, dass man stirbt."
"Auch wenn man Angst vor dem Sterben hat?"
"Dann auch."
Die nimmt das Papier von den Blumen, die sie auf dem Schoß hält. "Wie gefallen sie Ihnen?"
"Es ist wohl eine Art Astern", sagt Sonja.
"Sie passen zu meiner Mutter", sagt die. "Das Begräbnis beginnt in einer halben Stunde. Man wird es mir ansehen, dass es mir nicht Leid tut."
"Können Sie nicht so tun als ob?".
"Vielleicht kommt es ja, wenn ich erst einmal dort bin."
Zwei Tage später. Sonja trägt eine beige Übergangsjacke.
"Da sind Sie ja", sagt die, "kommen Sie oft hierher?"
Die hat lange Finger, etwas knöchern.
"Fast jeden Tag."
"Haben Sie nichts Wichtigeres zu tun?"
"Nein", sagt Sonja.
"Das ist selten", sagt die, "dass jemand zugibt, dass er nichts zu tun hat."
Sonja schließt die Augen. "Denken Sie noch an Ihre Mutter?"
"Sie fällt mir manchmal ein, aber ich denke nicht an sie."
"Ich denke oft an sie", sagt Sonja.
"Warum denn das?" fragt die erstaunt.
"Hatte sie so schöne Hände wie Sie?"
Die schaut auf ihre Hände.
"Ich war gestern sogar an ihrem Grab."
"Warum denn das?" fragt die.
"Ich habe ja nichts zu tun."
"Ich werde da jetzt lange nicht hingehen."
Diese Finger. Das volle Gesicht. Wie Teile unterschiedlicher Körper.
"Sie sollten sich eine Beschäftigung suchen."
"Niemand braucht mich."
"Unsinn", sagt die heftig, "jeder wird gebraucht. Was können Sie denn?"
"Ich habe in einem Chor gesungen. Jemand hat vor dem Theater gebrüllt: Kultureller Kahlschlag! - Man fällt gesunde Bäume." Sonja lacht. "Jetzt rede ich auch schon dieses Gewerkschaftszeug."
"Was wollen Sie jetzt tun?" fragt die.
"Sie fragen, auch schon wie meine Mutter!"
"Verzeihen Sie -."
"Schon gut", sagt Sonja, "ich bin müde."
Die Temperaturen sind gefallen. Sonja trägt einen dünnen grünen Pullover und eine gelbe Windjacke. Draußen ist es für die Mütze noch zu warm. Sie schließt sie in ihren Briefkasten ein, wo sich Briefe der letzten Wochen stauen.
"Ich wusste, dass Sie da sind", sagt die, setzt sich. "Ich war heute beim Grab."
"Haben Sie nicht gesagt - ?"
"Muss man sich denn immer an das halten, was man sagt?"
"Nein", sagt Sonja leise.
Die knöchernen Hände liegen auf ihrem Schoß.
Plötzlich fragt Sonja: "Darf ich Ihre Hand halten?"
"Die rechte oder die linke", fragt die, als hätte sie längst auf diese Frage gewartet.
Die Hand ist kalt und hart.
"Ich werde nicht mehr lange hier sein", sagt Sonja.
"Haben Sie Arbeit gefunden?"
"Chorsängerin - braucht niemand", sagt Sonja. "Ich werde eine kleinere Wohnung nehmen."
"Suchen Sie in der Gegend?"
"Ich bin zu müde, um zu suchen. Wenn ich nichts finde, werde ich noch müder werden. Manchmal spüre ich meine Glieder nicht mehr."
"Waren Sie schon bei einem Arzt?"
"Was sollte der machen können?"
"Ich will Sie malen. Kommen Sie in mein Atelier! Ich kann Ihnen sogar eine Kleinigkeit bezahlen."
"Nicht vor nächstem Montag!" sagt Sonja erschrocken.
"Gut. Dienstag. Um Ihnen meine Adresse aufzuschreiben, müssen Sie mir aber meine Hand zurückgeben!" Die notiert Adresse und Telefonnummer auf eine alte Quittung.
"Was soll ich anziehen?" fragt Sonja.
"Egal", sagt die, "bloß nicht diesen grünen Pullover."
"Ich hätte es mir ja denken können, dass Sie nicht kommen", sagt die wütend, "wenigstens anrufen hätten Sie können!"
"Ich fühlte mich außerstande", sagt Sonja.
"Sie wollten von Anfang an nicht!"
"Das ist nicht wahr. Ich hatte es mir fest vorgenommen. Aber ich hatte nichts Passendes anzuziehen", sagt Sonja hilflos.
"Das ist doch lächerlich!"
"Nicht weggehen!" fleht Sonja.
Die bleibt.
"In letzter Zeit", sagt Sonja, "habe ich den Eindruck, alles hängt zusammen, nichts passiert zufällig. Nicht nur mein Körper, auch mein Geist ist müde. Eines Tages werde ich an Kräfte glauben, denen wir hilflos ausgeliefert sind. Heute würde ich diesen Zustand als den Bankrott meines Verstandes ansehen, aber ich werde zu keiner kritischen Stimme mehr fähig sein. Ich werde Sie nur noch mit leuchtenden Augen von diesen Zusammenhängen überzeugen wollen. Sie werden keine Lust mehr haben, mich zu treffen."
"Ich werde die Zeit bis dahin ausnutzen", sagt die lachend.
"Viel Zeit ist vielleicht nicht mehr", sagt Sonja, "ich werde fortgehen, fort aus dieser Stadt."
"Um die Auflösung ihres Geistes hinauszuzögern?" fragt die.
"Um ihn möglichst schnell herbeizuführen. Dieser Zustand ist nur aus heutiger Sicht schrecklich. Ich werde dann glücklicher sein."
"Sie sind verrückt", sagt die, "ich mag das an Ihnen."
"Danke", sagt Sonja.
"Wenn Sie mir nicht als Modell sitzen wollen, dann singen Sie etwas für mich!"
"Nein - auf keinen Fall!" wehrt Sonja erschrocken ab.
"Bitte", sagt die, "ich würde sogar dafür bezahlen."
"Warum wollen Sie mir unbedingt Geld geben?" fragt Sonja.
"Seit meine Mutter tot ist, geht es voran. Ich habe in den letzten zwei Wochen mehr Bilder verkauft, als in den letzten zwei Jahren. Ich habe eine kleine Erbschaft gemacht -"
"Der Tod Ihrer Mutter war ein Glück für Sie?"
"Ich kann es mir also leisten, Sie für mich singen zu lassen", sagt die lachend, "und Sie können Ihre Wohnung behalten - "
"Kommt nicht in Frage!" sagt Sonja entschieden.
"Mein Angebot steht!" Die geht.
Sonja sieht ihr hinterher.
Zwei Tage später trägt Sonja eine Cordhose und einen weißen Pullover mit Zopfmuster. Die sitzt auf der Bank.
"Guten Morgen!" sagt Sonja überrascht.
"Guten Morgen! Wie geht es Ihnen?" fragt die.
"Gut", sagt Sonja ohne Überzeugung.
"Nein, tut es nicht", sagt die.
"Nicht wirklich. Ich bin müde. Jeden Tag schlimmer."
"Suchen Sie nach Arbeit?"
"Diese Woche werde ich wieder suchen."
"Sie lehnen mein Angebot weiterhin ab?"
"Ja", sagt Sonja, "das geht nicht. Sie haben ja nichts davon und - "
"Natürlich habe ich etwas -", unterbricht die Sonja.
"Nein", sagt Sonja, "das steht in keinem Verhältnis. Ich nehme keine Almosen."
"Erlauben Sie", sagt die, "aber Sie in Ihrer Lage - ich weiß nicht, ob Sie sich das leisten können."
Sonja hat das Bedürfnis die knöcherne Hand zu halten. Diesmal, um sie so fest zu drücken, dass die vor Schmerz schreien würde. Sonja holt tief Luft. "Ich muß gehen."
"Sie müssen nicht", sagt die, "Sie haben ja nichts zu tun. Sie wollen."
"Ja", sagt Sonja leise.
"Dann sagen Sie wenigstens die Wahrheit!"
Drei Wochen später. Es ist kalt. Unter Mutters Mantel trägt Sonja einen dicken roten Pullover. Ihre Mütze konnte sie nicht finden.
"Ich dachte schon, wir hören nie wieder etwas voneinander", sagt die.
"Wenn Sie mir damals nicht Ihre Telefonnummer aufgeschrieben hätten -", sagt Sonja.
"Warum haben Sie angerufen?" fragt die.
"Ich will mich von Ihnen verabschieden."
"Haben Sie Arbeit gefunden?"
"Ich gehe heim zu meiner Mutter. Da kann ich billiger leben", sagt Sonja.
"Sie kommen also nicht auf mein Angebot zurück."
"Nein."
"Sie haben aufgegeben", sagt die, ohne ihre Verachtung zu verbergen.
"Ich habe eine Entscheidung getroffen", sagt Sonja.
"Sie haben sich entschieden aufzugeben!"
"Ich habe mich entschieden, das Schrecklichste zu tun, was ich mir vorstellen konnte. Ich werde wieder mit meiner Mutter unter einem Dach leben."
"Und was werden Sie dort tun?"
"Ich werde mich erst einmal ausruhen", sagt Sonja.
"Aber ..."
"Morgen geht es los", sagt Sonja schnell.
"Dann - ", sagt die.
"Ich möchte Ihre Hände noch einmal sehen."
Die wendet die Handflächen nach oben und wieder nach unten. Sonja starrt auf die langen, knochigen Finger. Rot vor Kälte. Hässliche Hände. Die macht eine Bewegung, als wolle sie Sonja zum Abschied an sich zu drücken. Sonja zuckt zurück: "Fassen Sie mich nicht an!"
In den Koffer legt Sonja die beige Übergangsjacke, den roten Pullover, das blaue Kostüm, die Cordhose, den weißen Pullover mit Zopfmuster. Was werde ich morgen anziehen? Nicht zu Warmes. In der Fahrkabine eines LKWs kommt man leicht ins Schwitzen. Vielleicht den grünen Pullover, den die nicht mochte. Mutters Mantel werde ich in der Kabine brauchen, wenn wir uns die Füße vertreten. Und die Mütze? Habe ich unlängst schon gesucht. Im Koffer? Nein. Wo habe ich bloß die Mütze hingetan?
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