Sommernacht

Berliner Abende Kolumne

Es ist weit nach Mitternacht. Über die Oranienstraße tanzt ein Typ, der im siebten Himmel zu schweben scheint. Ein Golf Cabrio mit ein paar johlenden Mädels fährt ihn fast um. Der Typ nimmt dankbar den Fahrtwind auf, dreht sich um die eigene Achse, kreischt, als wäre das Leben tatsächlich eine Achterbahn mit Risiken und Nebenwirkung.

Das war verdammt knapp, sage ich, als er sich neben mich auf die Bank vor dem Roses hockt. Er zuckt gleichgültig mit den Schultern. I´m Maurice. Listen! Ich drücke mir die Kopfhörer an die Ohren. Maurice wippt weiter im Rhythmus, hat die Musik im Kopf. Möglich, diese Kopfhörer sind nicht an einen iPod angeschlossen, sondern haben einen direkten Draht zu seinen Gehirnzellen, wo dieser psychodelische Sound abgeht.

Ein Blonder kommt aus dem Roses, gafft Maurice an. Der schaut hilflos zu mir, was will der? Der Blonde: Weißt du, dass du wunderschöne Augen hast? What? Dasselbe nochmals auf Englisch. Maurice legt seinen Kopf an meine Schulter. This is my husband. Lacht. Dann springt er auf, reißt mir dabei achtlos die Kopfhörer aus den Ohren und tanzt die Straße hinunter.

Der Blonde singt Maurice hinterher, deine Augen machen mich so sentimental - und verschwindet wieder in der Bar.

Rolf und Ralf kommen vorbeispaziert. Ich kenne sie von einer anderen Nacht auf dieser Bank. Sie trinken zusammen ein Becks. Ralf ist Lehrer in einem Problemkiez. Er hat die Schnauze voll. Nicht von den Kids, von den Schulbehörden. Er will Entwicklungshelfer werden. Ich lache: Immer wenn man eine Krise hat, will man ab in das aktuelle Krisengebiet. Libanon steht gerade an. Ralf gibt mir Recht. Außerdem fahren sie morgen ohnehin mit einem alten VW Bus los. Am liebsten bis nach Lissabon, aber der Bus ist alt und vielleicht schaffen sie es nur bis zum Bodensee. Selbst im Brandenburgischen kann es schön sein. Abenteuerurlaub in no go areas, witzelt Rolf usw. Und du? Ich bleibe diesen Sommer in Berlin. Auch nicht schlecht, sagen sie etwas mitleidig. Dann gehen sie Hand in Hand nach Hause. Den Bus packen. Schöne Zeit! Ebenso!

Philipp hält mit dem Fahrrad. Hi! Er war gerade in Kanada und ist total aufgekratzt. Er spielt mir auf seinem Handy die Stimme eines Indianers vor. Cool, oder? Und was heißt das? Keine Ahnung. Es gibt nur noch 3000 Leute, die das sprechen. Die Stimme gehört dem Fahrer eines Buicks, der mich bei sich im Reservat schlafen ließ. Wir haben auch miteinander gepennt. Zumindest haben wir es versucht. Meine erste Rothaut. Ich kenne Phillip gut genug, dass ich weiß, irgendwas hat ihn an der Geschichte verletzt. Ich frage nicht weiter, höre mir noch weitere Indianergeschichten an. Jeder Mensch glaubt, alle Indianer haben irgendwo einen Federschmuck, aber das sind vielleicht zwanzig Prozent, alle anderen haben mit Federschmuck überhaupt nichts am Hut.

Der Blonde kommt wieder aus der Bar getorkelt, glotzt Phillip an: Weißt du, dass du wunderschöne Augen hast? Phillip zischt, lass mich in Frieden! Der Blonde verkrümelt sich. Kennst du den? Das ist Mars. So nennen ihn zumindest alle. Ich finde Mars sexy, sagt Philipp, aber er ist immer sternhagelvoll. Auf so was habe ich keinen Bock. Weiß auch nicht warum, aber das geht mir ständig mit Typen so. Mir ist klar, Phillip denkt jetzt wieder an seinen Indianer. Vermutlich war der auch besoffen und Philip verliebt usw. Phillip zieht noch in den Bierhimmel weiter, dann noch ins Möbel Olfe. Die übliche Tour. Mal sehen, vielleicht komme ich nach.

Frei? Ein Inder, Journalist und soll einen Artikel über die Berliner Schwulenszene für eine indische Internetplattform schreiben. Kommst du mit ins Triebwerk, fragt er. Ehe ich antworten kann, klingelt mein Handy. Es ist Christof. Wo bist du? Ich sitze vorm Roses. Passt! Der Inder: Dein Freund? Ich lüge der Einfachheit halber: Ja. Er bettelt, kommst du trotzdem mit ins Triebwerk? Ich geh nirgendwohin mit einem fremden Mann. Oh my God, baby! - Zischt ab.

Zwei Minuten später steht Christof vor mir. Hi! Ein junger Mann tippt Christof auf die Schulter, Johannes. Christof fragt ihn, bist du noch nicht im Tibet? Nächste Woche. Wollte nur Hallo sagen. Und ciao.

Habe ich mir so meine Sommernächte in Berlin vorgestellt? Ja und nein. Eigentlich habe ich mir gar nichts vorgestellt. Für heute ist es genug. Ich überlasse die Bank anderen, die mögen sich andere Geschichten erzählen.

Zuhause mache ich meinen Computer an, spiele noch ein wenig mit Google Earth. Tibet, Kanada, Lissabon, Bodensee, Indien. Brandenburger Dörfer. Alles da. Plötzlich bin ich neidisch. War vielleicht doch falsch, diesen Sommer hier zu bleiben. Oranienstraße. Ich zoome mich so weit es geht ran. Sitz da nicht ich auf der Bank? Und das da, sind das nicht Ralf und Rolf usw.? Ich gähne. Über der Stadt geht langsam die Sonne auf. Wieder kommt ein heißer Tag, auf den eine laue Sommernacht folgen wird.


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