TAUSCHBÖRSEN IM INTERNET Ein kleines Programm erschüttert die Gepflogenheiten der Musikbranche. Es verwandelt die Hoffnung auf globalen Umsatz in die Furcht vor globaler Piraterie
Geht es nach den Apologeten der Informationsgesellschaft, stehen wir nicht nur an der Schwelle einer neuen Zeit- und Kulturepoche, sondern sind bereits mittendrin. Über die Frage, was dies allerdings konkret bedeutet, wird noch heftig gestritten. Die Einen sehen im Internet, dem zentralen Medium des neuen Zeitalters, ein Archiv von noch nie dagewesener Größe und Zugänglichkeit. Ihr Ziel ist ein möglichst freier Fluss der darin enthaltenen Informationen, an dem prinzipiell alle Menschen partizipieren sollten. Die Anderen hingegen betonen eher die Möglichkeit, auf höchst effektive Weise Waren global produzieren und vertreiben zu können.
Auch wenn wir von einer wirklich globalen Ausbreitung des Netzes noch ein ganzes Stück entfernt sind (in Afrika n
n Afrika nutzen nur ca. 0,4 Prozent der Bevölkerung das Internet, in Spanien lediglich circa 12 Prozent, in Dänemark dagegen 54 Prozent), hat die Diskussion in manchen Bereichen die akademische Ebene bereits verlassen und sehr konkrete Formen angenommen. Speziell auf dem Gebiet der Kulturproduktion ist vieles in Bewegung gekommen. Am stärksten hat es dabei wohl die Musikbranche erwischt.Noch bis vor kurzem sahen die Musikverlage im Internet ungeahnte Möglichkeiten, ihren Umsatz zu steigern. Denn im Gegensatz zu anderen Produkten kann Musik nicht nur über das Netz bestellt, sondern in digitaler Form auch über dieses vertrieben werden. Das Rationalisierungspotenzial ist gewaltig, da in Zukunft tendenziell keine Tonträger mehr hergestellt, gelagert und vertrieben werden müssen. Das Zauberwort heißt Musik on demand. Eine weitere Verheißung stellt die Möglichkeit da, die Produkte direkt an den Endkunden zu verkaufen und somit die Handelskette zu verkürzen.Technisch ermöglicht wurde diese Entwicklung durch ein Patent der deutschen Fraunhofer Gesellschaft. 1997 veröffentlichte diese ein Komprimierungsverfahren für Musik, das es erlaubte, die Datenmenge eines Musikstückes um das 12-fache seines Volumens im Vergleich zur CD zu komprimieren. Da MP3, so wurde das neue Format genannt, trotz des geringen Dateiumfangs annähernd HiFi-Qualität verspricht, war damit erstmalig die Möglichkeit gegeben, Musik in akzeptabler Geschwindigkeit und Qualität über das Netz zu verschicken. Das Herunterladen eines Hits dauerte fortan keine 10 Minuten mehr.Der Tisch schien also bereitet, und man wartete nur noch auf die Einführung sicherer Zahlungsmöglichkeiten via Internet. Allerdings gab es ein Problem bei der Sache. Im Unterschied zu analogen Formaten wie Schallplatte und Kassette ist die Kopie einer digitalen Datei identisch mit dem Original. Dies bedeutet, dass man einen Song und dessen Kopien ohne Qualitätseinbußen beliebig oft vervielfältigen kann. In Verbindung mit dem Internet führte das schon bald zu einem rasch wachsenden Angebot von allerlei Musiktiteln - allerdings ohne dass jemand dafür etwas bezahlte. Auf Hunderten von meist privaten Homepages standen schon bald die unterschiedlichsten Songs als MP3-Kopien zum freien Download bereit.Es war verständlich, dass die Musikindustrie alles in ihrer Macht stehende tat, um das Treiben zu unterbinden. Denn die Rechtslage ist eindeutig. Bei den so angebotenen Songs handelte es sich fast ausschließlich um Copyright-geschütztes Liedgut und damit um Raubkopien. Allerdings wird die Strafverfolgung durch die Anonymität der Internetnutzer sowie das nationale Schranken und damit auch nationales Recht überschreitende Netz erschwert. Doch immerhin war es möglich, den Schaden in Grenzen zu halten. Denn der Server, auf dem ein Song angeboten wird, und dessen Betreiber sind identifizierbar. Auch wenn diese oft nicht wissen, dass auf ihrem Server von Privatpersonen illegales Material angeboten wird, kann man sie doch prinzipiell dafür verantwortlich machen - zumal in fast jedem Land das Copyright-Gesetz im Wesentlichen gültig ist.Doch war dies eine trügerische Sicherheit. Denn 1999 wurde von dem 19-jährigen Shawn Fanning Napster programmiert. Das kleine Programm, das sich jeder frei aus dem Netz ziehen kann, löste blankes Entsetzen bei den Verantwortlichen der Musikindustrie aus. Napster funktionierte nicht wie ein Server, auf dem die illegalen Kopien gespeichert sind und den man hätte abschalten können, sondern wie eine Tauschbörse. Jeder, der das Programm auf seinem Computer installiert hat, konnte fortan mit allen anderen Napster-Benutzern über das Internet Musikdateien tauschen. Über bestimmte Napster-Server wird automatisch ermittelt, welche Songs man selber und alle anderen, die gerade online und bei Napster eingeloggt sind, auf der Festplatte haben. Gibt man zum Beispiel "Beatles" als Suchanfrage ein, bekommt man binnen Sekunden Hunderte von Rückmeldungen, welche Songs von den Beatles gerade verfügbar sind. Ein Klick genügt und wenige Minuten später hat man eine Kopie des gewünschten Songs heruntergeladen. Gleichzeitig kann man beobachten, dass auch von der eigenen Festplatte wie von Geisterhand gesteuert von Zeit zu Zeit Musikdateien ins Netz hochgeladen werden.Wie alle Tauschbörsen steht und fällt auch Napster mit dem zur Verfügung stehenden Angebot. Doch hier kommt die ganze Stärke des globalen Internets zum tragen. Binnen weniger Wochen waren in jedem Augenblick Tausende von Napster-Usern online und somit Millionen von Songs abrufbar. Selbst ausgefallene Songs konnten so mit hoher Wahrscheinlichkeit gefunden werden. Ein zentrales Angebot hätte wohl kaum je eine solche Vielfalt bieten können.Der Schock bei den Verantwortlichen der Musikindustrie saß tief. Denn wen konnte man für das nach wie vor illegale Treiben verantwortlich machen? Fanning wehrte sich gegen alle Vorwürfe mit dem Hinweis, dass sich auf den Napster-Servern ja keine illegalen Kopien der Songs befänden. Die Server wären lediglich eine Art Vermittlungsstelle. Vervielfältigung und Speicherung der Dateien passiere ausschließlich bei den privaten Nutzern. Doch diese können aufgrund der Anonymität und ihrer Anzahl kaum belangt werden. Nach vielen Gerichtsterminen machte schlussendlich der deutsche Medienkonzern Bertelsmann Nägeln mit Köpfen und kaufte im Sommer vergangenen Jahres Napster. Nur so schien es möglich, das Treiben unter Kontrolle zu bringen. Doch die Folgen sollten fatal sein.Abgesehen davon, dass es Bertelsmann seitdem noch nicht gelungen ist, eine kommerzielle Nutzung von Napster zu realisieren, führte dieser Schritt dazu, dass die User auf andere Programme auswichen. Und diese sind noch weit schwerer zu kontrollieren als Napster. Vorreiter war im März letzten Jahres ein Programm namens Gnutella, das sich in zwei wesentlichen Punkten von Napster unterscheidet. Zum einen benötigt es keinen zentralen Server mehr, um die Suchanfragen zu koordinieren. Es wird ein Netzwerk direkt zwischen allen Usern hergestellt, über das die Suchanfragen von einem zum anderen weitergegeben werden. So besteht keine Möglichkeit mehr, über die Kontrolle eines Servers den gesamten Tauschring zu kontrollieren. Zum anderen war Gnutella als Open-Source-Projekt angelegt, was bedeutet, dass ein Programm von niemanden gekauft werden kann, weil der Programmcode frei verfügbar ist und von anderen Programmierern weiterentwickelt werden darf. So entstanden innerhalb kürzester Zeit eine ganze Reihe von Gnutella-Ablegern, die sich seitdem großer Beliebtheit erfreuen.Dies ist der Stand der Dinge. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Geschichte nicht eine neue Wendung bekommt. Die Vorschläge der Industrie reichen dabei von einem in die Musikdateien implementierten Kopierschutz bis hin zu nationalen Filtersystemen, die sämtliche Datenströme von und nach Deutschland kontrollieren sollen. Ersteres, so lehrt uns die Erfahrung mit Computerspielen, funktioniert immer nur für eine kurze Zeit. Bisher hat noch kein Kopierschutz auf lange Sicht Bestand gehabt. Letzteres hingegen ist allein schon aus datenschutztechnischer Sicht höchst problematisch. Käme es doch dem Versuch gleich, zum Beispiel sämtliche Telefonate von und nach Deutschland auf gesetzwidrige Inhalte abzuhören.Auch wenn der Ausgang bisher offen ist, lässt sich wohl eines bereits feststellen. Die technischen Möglichkeiten, die das Medium Internet bietet, zwingen uns dazu, unsere traditionellen Denk- und Handelsweisen auf ihre Nützlichkeit hin neu zu befragen. Unstrittig bei all dem ist, dass Künstler für ihre Werke eine angemessene Vergütung bekommen müssen. Anders war und ist kulturelle Innovation nicht zu haben. Die Musikindustrie und die mit ihr einhergehenden Verwertungssysteme hingegen sind in einer Zeit entstanden, als Musik noch in Platten gepresst und verkauft werden musste. Es wird unumgänglich sein, das Verhältnis zwischen Künstlern, Verlagen und der Öffentlichkeit neu auszutarieren. Kreativität ist gefragt, keine Besitzstandswahrung.Und wer weiß: Vielleicht sind am Ende ja alle glücklich. Den Verkaufszahlen von CDs zumindest haben die milliardenfachen illegalen Downloads bisher nichts anhaben können. Seitdem es Napster gibt, sind diese nämlich noch gestiegen.
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