Wir haben gelernt, uns mit den Werbeunterbrechungen im Fernsehen zu arrangieren, haben uns schweren Herzens davon überzeugen lassen, dass nur so all die tollen Programme, auf die wir nicht mehr verzichten wollen, finanziert werden können. Doch nun ist endlich Rettung in Sicht, und zwar ausgerechnet in Form eines kleinen Münchner Senders.
TM3, der Kanal, der uns schon mit seiner rasanten Wandlung vom Frauen- zum Fußballsender zu überraschen vermochte, führte in den letzten Wochen eine völlig neue Art des Fernsehens ein: die erste frei empfangbare Privatstation, die sich ohne Werbung finanziert. »Transaktionsfernsehen« heißt das Zauberwort. Dahinter verbirgt sich ein altes Geschäftsmodell, das bisher unter dem Namen Losbude bekannt war. D
nnt war. Die Regeln sind dieselben: Viele Menschen erwerben jeweils für einen kleinen Betrag die Chance, einen größeren Betrag zu gewinnen. Weil weniger an Gewinnen ausgeschüttet als über den Losverkauf eingenommen wird, rechnet sich die Sache. Bei TM3 werden die Lose nun per Telefon verkauft. Ein Los, beziehungsweise ein Anruf kostet je nach Sendung zwischen 96 und 121 Pfennige. Bei einem »Treffer« wird der anrufende Zuschauer live ins Studio geschaltet, wo er bei Richtigbeantwortung einer Frage dann etwas Geld gewinnen kann.Im Kern geht es daher in jeder Sendung auf TM3 mehr oder weniger unverdeckt darum, möglichst viele Zuschauer zum Anrufen zu animieren. Um die einzelnen Sendungen unterscheidbar zu machen, haben sich die Macher, die auch beim beliebten Teleshoppingkanal H.O.T. als Anteilseigner zeichnen, ganz besonders tolle Formate ausgedacht, die den Unterhaltungswert der einzelnen Sendungen steigern sollen. In der Nachwuchsshow Flash oder Trash dürfen zum Beispiel Talente jeden Alters ohne musikalische Begleitung singen, was sehr aufregend sein kann, allerdings nicht unbedingt für den Zuschauer; und in der Nachtshow Lanotte spielen Kandidaten das lustige Videospiel »Chicken Poppen«, das hier zu beschreiben mir meine gute Erziehung verbietet.Herausgekommen ist beim neuen Konzept von TM3 (der ab 1. September Neun Live heißen wird, ein Name, den TM3 durch eine Zuschaueraktion ermittelt hat mit dem raffinierten Ziel, dass sich der Fernsehnutzer den Sender auf die Ziffer neun der Fernbedienung legen wird!) also eine neue Variante des schlecht beleumundeten »Reality-TV«, die allerdings alles bisherige in den Schatten stellt. Bei TM3 werden nicht mehr Menschen wie du und ich in einen Container gesperrt, um dann so zu tun, als ob dort alles ganz natürlich und unverfälscht zugeht. TM3 hat Schluss gemacht mit diesem verlogenen »Back to Basics«-Gefasel und bekennt sich zur Macht des Mediums, indem es diese transparent macht. Als Container fungieren hier nämlich die Formate selbst, in denen TM3 seine ModeratorInnen sozusagen einsperrt. Für sich genommen wäre dies vielleicht nichts Neues, wenn die Macher nicht auf die perfide Idee verfallen wären, die Sende-Formate nun nicht als Soufflier-Hilfe, sondern tatsächlich als Folterkammer für die Moderatoren anzulegen. Da ist es nur konsequent, dass fast ausnahmslos Moderatoren verpflichtet wurden, die schon Schwierigkeiten hätten, den durchritualisierten Wetterbericht sendefähig zu gestalten. Live serviert ergibt das Ganze ein Gericht, das selbst mich als hartgesottenen Offenen-Kanal-Schauer, der Mutter aller Reality-Formate, mit offenem Mund zurücklässt.Schalten wir uns einfach mal zu: »Wie heißt der Literaturkritiker, der demnächst das Quartett verlassen wird?«, lautet die Frage. Die Moderatorin muss nun exakt eine Minute lang entweder die Frage oder die Telefonnummer wiederholen, beziehungsweise die Zeit damit überbrücken, Tipps zu geben, um den Zuschauern das Anrufen leichter zu machen. Im Fall des Literaturkritikers entscheidet sie sich für das Tippgeben und weist unter anderem darauf hin, dass die gesuchte Person auch für die Post Reklame gemacht habe. Erster Anrufer: »Thomas Gottschalk?« »Hmm, leider daneben.« Es folgt eine weitere Minute, die irgendwie überbrückt werden muss. »Ist doch gar nicht so schwer, die Frage. Hier noch ein weiterer Tipp: Sein Vorname ist Marcel.« Nächster Anrufer: »Der Bruder von Thomas Gottschalk.« Eine weitere Minute, die gefüllt werden möchte. »Die nächste Frage wird dann wieder einfacher ...« Ein leichtes Beben in der Stimme der Moderatorin lässt auf erste Panikanflüge schließen. Obwohl sie jetzt als Tipp anmerkt, dass die gesuchte Person auch »Papst« genannt werde, muss auch die nächste Anruferin wieder passen. Unerbittlich fordert nun das Format seinen Tribut. Eine neue Frage ist erst vorgesehen, wenn die alte beantwortet ist. Wahrscheinlich gehen die psychologisch versierten Macher von TM3 davon aus, dass nun alle Zuschauer, die die richtige Antwort zu meinen wissen, wie wild auf ihren Telefonen rumtippen. Der vierte Anrufer erlöst die Moderatorin dann endlich, so dass die nächste Frage gestellt werden kann und das Spiel von vorne beginnt. So geht das zwei lange Stunden, immer frontal in die Kamera und selbstverständlich live. Ohne jede Werbepause!!!Ein weiteres unbestreitbares Highlight in Sachen Format-Sadismus sind die »sexy news« in der Nachtshow Lanotte. Ist es für Laiendarsteller schon schwer genug, flüssig einen Text vom Teleprompter abzulesen, toppt TM3 diese Übung noch mit dem Einfall, die NachrichtensprecherInnen bei jeder Meldung ein Kleidungsstück ablegen zu lassen. Das Ergebnis aus gestotterten Sätzen, angestrengt konzentriertem Teleprompterblick und dem Versuch, sich letzteren nicht anmerken zu lassen, während die Finger am Verschluss des BHs herumnesteln, lässt in der Tat jegliche Nachrichten-Inhalte in den Hintergrund treten und macht ganz unverhüllt das »Medium« zur Message.Ich liebe TM3 für seine Ehrlichkeit. Fernsehen tut weh und wer es trotzdem sehen will, ist aufgefordert, sich ganz spontan an der Finanzierung zu beteiligen. Auch ich habe angerufen. Eine weibliche warme Automatenstimme meldet sich: »Vielen Dank für Ihren Anruf. Leider haben Sie diesmal kein Glück gehabt. Versuchen Sie es noch einmal.« Bevor die Leitung unterbrochen wird, folgt der Zusatz: »Dieser Anruf kostete Sie 96 Pfennig.« Selten hatte ich das Gefühl, mein Geld so gut angelegt zu haben.
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