Es gibt in diesem Land eine bemerkenswerte intellektuelle Sehnsucht nach Bildern vom Verfall, vom Dreck, nach bombastischen Drogentrips und Höllenlärm. Eine Sehnsucht nach einer heftigen Reaktion auf, ja auf was, auf eine irgendwie nicht recht zu fassende, auf jeden Fall doch aber verlogene, trügerische, im Grunde böse Welt, auf die Realität eben. Eine Sehnsucht nach neuer deutscher Härte. Da aber das Leben hierzulande für den gemeinen Bürger ebenso wie für den alerten Künstler doch einigermaßen erträglich ist, müssen die Schock-Bilder derzeit noch importiert werden, freilich nicht ohne den Hinweis, daß diese Bilder auch für unsere saturierte, fette Welt die Zukunft bedeuten - wenn nicht sogar schon die Gegenwart. Größter Exporteur ist derzeit Großbritannien. Trainspotting, Shoppen und Ficken und so weiter treffen auf diese Sehnsucht, beschreiben dieses Milieu offensichtlich am besten. Für Theater sind diese Stoffe ein gefundenes Fressen: Das saft- und kraftlose Schauspiel, dem die »Konflikte« und »Figuren« abhanden gekommen sind, das aber immer noch so gern Brennspiegel, Focus, Messer oder wie auch immer man das nennt, sein möchte, es suhlt sich prächtig im Milieu.
Natürlich ist der Roman Gelb des bei Manchester lebenden Engländers Jeff Noon viel mehr als ein Buch über Verfall und Drogentrips, und natürlich läßt sich auch Armin Petras' Leipziger Uraufführung von Gelb nicht darauf reduzieren. Aber es trifft sich gut: Petras hat aus Noons Vorlage eine Show gemacht, die eben mit all dem spielt. Die Jugend ist natürlich verloren - »die Jugendlichen sind auf der Suche nach dem ultimativen Kick«, wie das heute heißt, da draußen regiert ein übermächtiger Polizeistaat, Gewalt an jeder Ecke, einziger Ausweg: eine Dröhnung Drogen. Das Ganze will uns beibringen: Die Zukunft, Leute, das könnt ihr euch noch gar nicht vorstellen, die Zukunft wird grausam, kalt und leer sein, und diese Zukunft hat sowieso schon begonnen. Euphemistisch ausgedrückt, und so dem nichtsahnenden Zuschauer präsentiert: irgendwie ist und wird das alles auch ziemlich trashig.
Noons Roman spielt weniger mit jenem versifften Milieu. Gelb, von dem die Marketing Strategen sagen, es sei das Clockwork Orange der neunziger - handelt vom Manchester der Zukunft (im Jahre 2084!), es treten unter anderem auf: Hundemenschen, Shadowgirls und Traumschlangen und eine Clique namens Stash Riders. Die Stash Riders Scribble, Beetle, Bridget und Mandy haben zwei Probleme: Erstens suchen sie Desdemona, Scribbles Schwester, die für ihn »mehr als eine Schwester ist«, kurz gesagt, zu der er eine inzestuöse Beziehung hat, und zweitens brauchen sie ständig neue Federn. Diese Federn kitzeln den Rachen und beamen die Helden permanent in andere Welten, virtuelle Welten, Träume - in einem solchen ist Desdemona verschwunden und gefangen. Die Federn sind je nach dem weiche und knallharte Drogen, um heraus aus der Wirklichkeit zu kommen. Gefährlich werden sie vor allem dann, wenn man nicht mehr mitbekommt, ob man sich im Traum - im »Vurt«, wie es bei Noon heißt - befindet, oder im Traumtraum, oder in der »wirklichen Welt«. Wenn man durcheinanderbringt, wo und wer man ist. Das wird den Helden zum Verhängnis, und das ist die unheimliche Stärke des Buches: Sowohl Ich-Erzähler Scribble als auch der Leser weiß am Ende nicht mehr, wo er ist. Noon schreibt weder darüber, warum die Welt so kalt und böse werden mußte, noch warum seine Helden so sind, wie sie sind. Sie raunen statt dessen, daß sie hoffen, mit ihren Trips »die Dinge zu finden, die wir verloren haben« - was immer das auch sein mag. Aus irgendeinem Grund hat er aber doch noch ein Motiv eingebaut: Desdemona ist von ihrem Vater mißbraucht worden, deshalb muß sie raus aus dieser Welt.
Im Roman spielt dieses Motiv erst sehr spät eine Rolle. Merkwürdigerweise, obwohl Petras doch sicher kein Stück über Mißbrauch machen will, beginnt das Stück damit - wenn man von der Musik absieht, Drum'n'Bass, Techno, wie es sich auch genau nennen mag, die einem jedenfalls noch vor Beginn gnadenlos einhämmert, daß hier gleich Showtime ist. Man wird also auf eine falsche Fährte gelockt, doch dann geht gleich die Post ab, dann veranstalten sehr junge Schauspieler und Laien, mit viel Lust und Laune eine Party. Dann schlagen die Bässe, dann wird es auf lustige Weise düster. Die Bühne Natascha von Steigers ist eine ideale Partylocation, mit angedeuteten, groben, kalten Betonmauern, Gummireifen, alten Öl-Tonnen, Stahltüren. In Michaela Barths Kostümen laufen die Jungs herum, als wenn sie gerade einen besonders hippen Second Hand geplündert haben, und die Mädchen sind entweder rotgestiefelt oder mit an den richtigen Stellen aufgerissenen, verschiedenen Ganzkörpernylonstrümpfen umhüllt; sie möchten sich sehr sexy geben, überhaupt, der ganze Abend möchte das. Warum die Frauen derart billige Nummern abliefern müssen, warum sie so doof sind, warum sie, sobald sie mal richtig eine rauchen oder eine harte Feder nehmen, dämlich abkippen, bleibt unergründlich aber auch nur am Rande ärgerlich.
Viel schwerer wiegt, daß bei all der schön inszenierten Party der Grundstoff von Gelb, jenes gefährliche Spiel mit Traum und Wirklichkeit vertanzt und verjuxt wird. Natürlich ist das ohnehin schwierig, vielleicht sogar einigermaßen unmöglich, so ein Romanthema in eine Theaterbildersprache zu übersetzen. Vor allem aber ist Armin Petras nicht Robert Wilson, er verschmäht die Theaterillusion, er läßt zwar schnell mal die Drehbühne kreisen oder wirft die Nebelmaschine an, im Grunde aber mißtraut er zutiefst jedem Bühnenzauber. Wenn bei Noon die Akteure ihre Federn einwerfen, dann ist das eigentlich jedesmal ein magischer Moment, der zuweilen zelebriert wird. Eine gelbe Feder, das Höchste der Gefühle, wird fast ikonenhaft verehrt, man traut sich kaum, ihren Namen in den Mund zu nehmen, geschweige denn sie selbst. Bei Petras wird der Akt des Federn-Einwerfens mit albernen Ruckungen und Zuckungen komplett verulkt; Magie und Gefährlichkeit der Traumtrips sind dahin. »Die Dinge, die wir verloren haben«, schon bei Noon nicht weiter besprochen, sind bei Petras erst recht kein Thema. Und Desdemona, gespielt von der 17 Jahre jungen, bisher nur mit Theater-Laienerfahrung ausgestatteten Alissa Jung, ist nur schön, naiv, eine Lolita, ein Schaufensterpüppchen. Es will einem nicht in den Kopf, warum sich eine sensible, intelligente Figur wie Scribble - auch sehr gut gespielt von Aljoscha Stadelmann - trotzdem verzweifelt müht, auszusteigen, mit seinen Trips klarzukommen und Desdemona zu finden. Die jungen Helden des Abends rauschen in die Tiefe, ohne Grund.
Am Ende hat das Ganze aber doch noch einen sehr klaren Moment, und fast ist man geneigt, alle Kritik zurückzunehmen. Als Scribble Desdemona endlich findet und befreit, befreit er sie aus dem Traum des Vaters und macht sie zur Gefangenen seines eigenen Traums. Eine verblüffende Pointe, leider führen die zwei Stunden zuvor nicht dorthin. Und leider wird es auch sofort wieder aufgehoben, wenn der Vater, gespielt von Jörg Dathe, anschließend noch ein paar Mal blödelnd aus seinem Traum aufschreckt.
So ist Theater-Gelb dann doch lediglich ein unterhaltsamer Abend, ein Kessel Dunkles, der in jedem Fall jene Sehnsucht nach dem Morbiden erfüllt. Gute Party mit unheilvoll wabernden Visionen - was wollen »Jugendliche auf der Suche nach dem ultimativen Kick« mehr.
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