Aufruhr, Aufstand - Revolution?

Kampf um die Deutungshoheit Die Archive und das Geschichtsbild des 17. Juni 1953

Wer geglaubt hatte, dass mit dem Abgang der DDR der Streit über den Charakter des 17. Juni 1953 ausgestanden wäre, sieht sich getäuscht. War zunächst jahrzehntelang der "Arbeiteraufstand" gegen das stalinistische System Anlass für westdeutsche Feiertage, so wurde daraus sehr bald der "Volksaufstand". Inzwischen ist als kaum mehr zu überbietende Steigerungsform gar von einer "Revolution" die Rede, die noch bedeutender gewesen sei als die in Frankreich 1789.

Eine solche Ritterschlag kann zwar ungläubiges Kopfschütteln auslösen, doch ist tatsächlich die Massenbasis damaliger Proteste lange unterschätzt worden. Dass die Geschehnisse des Frühsommers 1953 sich zeitlich keineswegs auf den 17. Juni und nicht nur auf Ostberlin beschränkten, kann dank des ansehnlichen Quantums wissenschaftlicher Publikationen kaum mehr bestritten werden. In rund 700 Orten wurde am 17. Juni und den folgenden Tagen gestreikt, demonstriert - oder es wurden gar Parteihäuser und Stadtverwaltungen gestürmt. Am heftigsten entlud sich der Protest gegen das Regime, das viele Demonstranten in SED-Generalsekretär Walter Ulbricht verkörpert sahen, in den mitteldeutschen Zentren des Maschinenbaus und der chemischen Industrie. Es wurden Streikräte gebildet, Betriebsversammlungen einberufen, Arbeiterlieder gesungen, aber es kam auch zu gewaltsamen Ausschreitungen, Brandstiftungen und tätlichen Angriffen auf Parteifunktionäre und Polizisten. Insofern greift der Begriff Massenstreik zu kurz. Von seinen tragenden Kräften her war der 17. Juni unzweifelhaft ein Arbeiteraufstand.

Es gibt im Übrigen zwischenzeitlich auch genug Belege für Arbeiterniederlegungen und Widerstandsaktionen in den Dörfern. Das thüringische Mühlhausen etwa erlebte mit rund 2.000 Teilnehmern die bis dahin größte Bauernkundgebung in der DDR. Gleichwohl der überwiegende Teil der Landwirte nicht dazu neigte, Felder und Ställe zum eigenen Nachteil im Stich zu lassen, sympathisierten die meisten mit den streikenden Arbeitern.

Der seit 1990 mögliche Zugang zu den zuvor verschlossenen Archiven erlaubt einen Eindruck vom wirklichen Ausmaß der Geschehnisse vor und nach dem 17. Juni. So lassen sich angesichts des regionalen Wirkungsradius und des sozialen Gefüges der Protestbewegung durchaus Ansätze eines Umschlagens in einen politischen Volksaufstand erkennen. Allerdings hatten Historiker lange Zeit geglaubt, die diversen Protestformen nach einer vielerorts gleichen Abfolge gliedern zu können: Die Arbeiterniederlegungen gingen in Streiks über, diese mündeten in Aufmärsche, die wiederum den Kern nachfolgender Kundgebungen bildeten. Im Lichte neuer Quellen ist dieses Phasenmodell obsolet. Vorliegende Forschungen deuten darauf hin, dass manche dieser Phänomene wesentlich früher, andere zeitlich parallel oder später als vermutet auftauchen. Indessen wird um die politische Dimension der Proteste nicht mehr gestritten, entwickelten sie doch eine Eigendynamik, die das Herrschaftssystem der SED an den Rand des Zusammenbruchs brachte.

Jenseits dieser nachträglichen historischen Einordnungen ist ebenso daran zu erinnern, dass seinerzeit auch besorgte Stimmen zu hören waren, die keineswegs als die von blindgläubigen Parteigängern des Regimes abgestempelt werden können. Bertolt Brecht sah mit den Demonstranten am 17. Juni auch rapide Wandlungen vor sich gehen, die nach seiner Ansicht wieder den braunen Ungeist aktivierten. Er habe mit ansehen müssen, so schrieb er an den Verleger Peter Suhrkamp, wie auf der Straße die "Internationale" der Arbeiter erfolglos gegen das "Deutschlandlied" des "Bürgersteigs" ankämpfte. Für ihn befand sich Berlin in jenen Tagen in einem geistigen Zustand, der an den der Nazizeit erinnerte. So befremdlich wie dieses Urteil heute auch wirken mag, so ist doch nachvollziehbar, in welchem Maße ehemalige Emigranten eine Rückkehr zu den Zuständen der Nazidiktatur fürchteten. Sie empfanden die "ganze Nazibande" als geistig durchaus noch sehr vital. Gewiss waren einstige NSDAP-Größen und deren Anhang im Osten von den Schalthebeln der Macht verbannt, doch eine Auseinandersetzung mit ihrer Ideologie klammerte zu viele Aspekte aus. Brecht trieb die Sorge um, spontaner Protest wie freie Wahlen könnten die Nazis in dieser oder jener Form wieder an die Macht spülen.

Viele Augenzeugen wollten sich zudem weder für die in Berlin, noch in anderen Städten stattfindenden Ausschreitungen und Verwüstungen (zumeist staatlicher Einrichtungen) begeistern. In Leipzig standen überwiegend Lehrlinge und Schüler auf dem Markt, um das Niederbrennen des Stützpunktes der Nationalen Front zu beobachten. Bei all dem kann jedoch nicht davon gesprochen werden, dass solche Exzesse den Charakter des Aufstandes maßgeblich prägen konnten. Selbst Kurt Hager sprach in einer Sitzung des SED-Zentralkomitees am 21. Juni 1953 von "Arbeitern, die auf die Straße gegangen waren, nicht weil sie Rowdys waren, sondern weil aus ihnen all das an Unzufriedenheit herausbrach, was sich bei ihnen seit acht Jahren angesammelt hatte". Das hinderte die SED-Führung jedoch nicht daran, schon bald danach den 17. Juni als einen von westlichen Drahtziehern ausgelösten "konterrevolutionären Putschversuch" zu bezeichnen, war doch der Rückgriff auf das Muster eines von außen gesteuerten Umsturzes geeignet, sich einer Auseinandersetzung mit allen Formen des geistigen Erbe zu entziehen, das der Faschismus in der DDR-Gesellschaft hinterlassen hatte. Eine vorbehaltlose Beschäftigung damit war jedoch genau das, was kritische Intellektuelle wie Brecht verlangten. Dieser Appell wurde bis zum Ende der DDR überhört.

Stattdessen reagierte die SED-Führung mit halbherzigen Kurskorrekturen und einseitigen Schuldzuweisungen. Es gab Kritik am "Personenkult", an Fehlentscheidungen, am Subjektivismus, es gab Parteiausschlüsse und Strafverfolgungen - die öffentliche Hinwendung zu den "Massen". Für die praktische Politik der SED hinterließ der 17. Juni einen nachhaltig wirksamen Lernschock und zwang zu einem flexibleren Machtgebrauch, ohne dabei die Grundstrukturen des stalinistischen Systems in Frage zu stellen. Die sozialen Konsequenzen staatlicher Eingriffe - etwa in das Lohn- und Leistungssystem der Wirtschaft - wurden in den Jahrzehnten danach sehr viel gründlicher analysiert als zuvor.

50 Jahre lang wurde - in Ost wie West - die Lesart der Ereignisse um den 17. Juni 1953 politisch instrumentalisiert. Das muss bedacht werden, wenn uns in diesen Tagen eine Welle von medienwirksamen Gedenkveranstaltungen erfasst. Der Kampf um die Deutungshoheit von Geschichte hat eine Dimension erreicht, die das übliche Maß des Streits darüber sprengt. Wenn öffentlich über den Charakter des 17. Juni 1953 debattiert wird, sind eben auch die existenziellen Interessen von Institutionen und Behörden im Spiel. Mit Steuergeldern finanzierte Institute wissen um den Wert ihrer Forschungen in der aktuellen Geschichtspolitik.

Dr. Andreas Malycha ist Historiker und lebt in Berlin.

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