Gedankenkontrolle Close-Ups und Klischees: Stephanie Mair-Huydts beherrscht von der schwäbischen Provinz aus den deutschen Reiseführermarkt – und unsere Vorstellung vom Urlaub
Jenseits von Rübenäckern und Schrebergärten, hinter dem Getränkemarkt und dem Entsorgungsfachbetrieb, mitten im Gewerbegebiet Stuttgart-Kemnat – dort produziert Stephanie Mair-Huydts Fernweh. Es ist der Ort, wo sie lebt und wo der Verlag sitzt, den sie leitet: Mair-Dumont, der größte Reisebuchverlag Deutschlands. Zu ihm gehören unter anderem die Marken Baedeker, Marco Polo, Dumont, Kompass, Falk und die deutschen Ausgaben des Lonely Planet, die Karten von ADAC und Shell und der HB-Bildatlas. Jeder zweite deutschsprachige Reiseführer kommt aus diesem Haus, und mit ein wenig bösem Willen ließe sich eine Verbindung ziehen zwischen dem prosaischen Lebensmittelpunkt von Mair-Huydts und der Exotik der Reiseziele, die sie den Menschen
en nahebringt: Wer hier arbeitet, weiß, warum Menschen Urlaub machen.In diesem Haus wird mitbestimmt, wie die Deutschen über die Fremde denken. Die Verlegerin, beiger Hosenanzug, braune Bluse, sitzt mit 13 Mitarbeitern im Halbkreis und schaut auf das Fensterbrett, auf dem Ausgaben von Geo, Abenteuer Reisen, Merian, ADAC Reisemagazin und dem HB-Bildatlas aufgereiht sind. Letzterer hat gerade einen Relaunch hinter sich. Wie ist er gelaufen? Grafiker, Redakteure und Anzeigenleute diskutieren das Cover: „Die Schriften sind zu fummelig“, findet einer. „Das Titelbild braucht mehr Rums“, sagt ein anderer. Es müsse aber elegant sein, ein dritter.Der Grafiker wünscht sich, dass die Bilder wieder wie früher analog fotografiert werden, um der Kontraste willen; ein anderer stellt die Oberflächenbeschaffenheit des Einbands in Frage. Während sich Mair-Huydts das anhört, rutscht sie immer ungeduldiger auf dem Stuhl nach vorn und hinten. Als dann noch die Frage kommt, ob der Inhalt denn halte, was das Cover verspreche, greift sie ein. „Wir suchen das Cover, das sich am besten und schnellsten verkauft“, sagt sie, steht auf und schreitet das Fensterbrett ab. „Wenn ich hier vorbeigehe, frage ich mich: Wo bleibe ich hängen? Wir müssen den Leser mit seinen Vorurteilen bedienen – was erwartet er?“ Sie greift den Südafrika-Band heraus, der Titel zeigt zwei Geparden in Nahaufnahme. „Das ist gut: Es ist Close-up, es ist Klischee und es ist schön.“ An diesem Cover wolle man sich in Zukunft orientieren, findet denn auch die Runde.Seit 1996 verlegt Stephanie Mair-Huydts, 46, alle Reiseführer des Hauses. Mittlerweile ist die zweifache Mutter auch Geschäftsführerin der Verlage HB, Baedeker, Dumont und Mair-Dumont. Bevor sie 1989 in den Verlag einstieg, studierte sie Betriebswirtschaft in Freiburg im Breisgau und Sankt Gallen, arbeitete jeweils ein Jahr in Paris und New York in Verlagen und promovierte über „Erfolgsfaktoren der Druckindustrie“.Der Ölpreis steigt? – Pah!Mittagspause. Eintopf. „Schreiben Sie es bitte auf“, sagt sie dem Kassierer der Verlagskantine, weil sie gerade kein Geld dabei hat. „Angefangen hat alles 1948“, erzählt Mair-Huydts, „als mein Großvater sein Kartografisches Institut ins Handelsregister eintragen ließ, um Landkarten zu produzieren.“ In einem zum Teil zerstörten Haus ließen sich Kurt Mair und ein Kartograf nieder. Der Zeitpunkt hätte günstiger nicht sein können: Mit VW-Käfer, Goggomobil und Isetta rollten die Deutschen wenig später dank des Wirtschaftswunders erst nach Süddeutschland, dann nach Italien, bis in immer ferner gelegene Länder. Dafür brauchten sie Karten und Reiseführer – am besten mit klingenden Namen.Seit 1951 wird der Baedeker in Stuttgart produziert, über den es im Libretto zu Jacques Offenbachs Operette „La Vie Parisienne“ heißt: „Kings and governments may err, but never Mr Baedeker!” Auch der Shell-Atlas, bis heute in Mair-Huydts Haus hergestellt, diente den Deutschen als Orientierung. Er war so verbreitet, dass VW, als er der Übersichtlichkeit halber vergrößert wurde und nicht mehr in das Handschuhfach des Golfs passte, auf Bitten des Verlags kurzerhand das Fach vergrößerte. Das, was manche die „Demokratisierung des Reisens“ nennen, also der Massentourismus, bedeutete für den Verlag eine riesige Markterweiterung, die durch Ereignisse wie etwa die Ölpreiskrise von 1973 oder den 11. September 2001 allenfalls unterbrochen, nicht aber aufgehalten wurde.Kunst der erwarteten FremdeDie Stärke der Unternehmerin Mair-Huydts ist es, zwischen dem Vertrauten und dem Fremden zu vermitteln. Freilich nicht so, wie das ein idealer Ethnologe täte: voraussetzungsfrei und ergebnisoffen. Sondern nach den Gesetzen des Marktes. Und der verlangt, dass das Fremde zwar exotisch, originell und dem Zeitgeist entsprechend daherzukommen habe. Aber bitte nicht zu fremd. Und so haben Mair-Huydts Bücher wohl vor allem deshalb Erfolg, weil sie suggerieren, dass sie zwei sich widersprechende Bedürfnisse vereinen: den Wunsch, Neues zu erleben, auf Reisen überrascht zu werden, das aber in vollkommener Sicherheit. Es ist der Reiz der berechenbaren Überraschung, des nicht abgenutzten Klischees. Und deshalb verraten die Bücher aus ihrem Haus nicht nur etwas über das Ziel einer Reise, sondern auch über ihren Anfang: Deutschland und seine Bewohner.Momentan beschäftigt Mair-Huydts die Generationenfrage: „Untersuchungen zeigen, dass sich die Menschen durchschnittlich 15 Jahre jünger fühlen, als sie wirklich sind. Wir fragen uns deshalb: Wie sprechen wir die Leute an, als wären sie jünger?“ Etwa durch die neue „24 Stunden in …“-Rubrik in den Marco-Polo-Reiseführern, der umsatzstärksten Marke. Dort stehen Vorschläge, was man 24 Stunden nonstop an seinem Reiseziel unternehmen kann. „Wir präsentieren die Vorschläge für einen total verrückten Tag. Und gleichzeitig wissen wir, dass der Urlauber sich wahrscheinlich nur ein paar Highlights rauspicken wird.“
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