Kerneuropa lässt grüßen

EU-VerfassungsVertrag Der Europäische Rat und die nationalen Regierungen gehen als Punktsieger vom Platz

Es waren jüngst drei Ereignisse, die den Blick auf das künftige Europa freigaben und zugleich die seit mehr als zehn Jahren offene Frage beantworteten, ob die Erweiterung der Union wie auch deren Vertiefung überhaupt gleichzeitig möglich sind. Mit der Zustimmung in Polen zum EU-Beitritt steht endgültig fest, dass die Erweiterung stattfindet. Die Absage der britischen Regierung an ein Referendum über die Einführung des Euro belässt Großbritannien und damit wohl auch Dänemark und Schweden bis auf weiteres außerhalb der Euro-Zone. Das heißt, nach der Erweiterung im Mai 2004 wird dann nur noch eine Minderheit der Mitgliedsländer den Euro als Zahlungsmittel besitzen. Schließlich ist mit der Vorlage des Verfassungsvertrages durch den Europäischen Konvent klar geworden, dass weder eine stärkere Integration noch eine tiefgreifende Demokratisierung der Union zu erwarten sind.

Dabei hatten sich die Konventsmitglieder Großes vorgenommen. Vor dem Hintergrund der Erweiterung auf 25 Staaten sollte künftig generell mit qualifizierter Mehrheit im Rat abgestimmt werden, also auch in der Außen- sowie Innen- und Rechtspolitik. Dahinter steht die realistische Einschätzung, dass einstimmige Voten im Europa der 25 kaum mehr erreichbar sein dürften. Darüber hinaus sollten überall dort, wo Gesetze erlassen werden, auch die Europaparlamentarier mitentscheiden, die Verträge gestrafft werden, Transparenz und Bürgernähe gewahrt sein.

Manches davon ist erreicht. So wird den neuen Vertrag auch jemand lesen können, der kein Europarechtler ist. Dem Parlament sind weiterer Rechte zuerkannt, die Grundrechtscharta ist integriert - die "Methode Konvent" hat sich demnach bewährt. Der große Durchbruch allerdings blieb aus. Entscheidungen mit Mehrheit sind weder in den grundlegenden Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Steuerpolitik noch der Innen- und Rechtspolitik vorgesehen. Hier behält sich der Europäische Rat - sprich: die Regierungen der Mitgliedsstaaten - das Recht vor, weiter über die Richtung zu entscheiden. Daher wird das Europäische Parlament - trotz eines gewissen Autoritätsschubs - nur ein halbes Parlament bleiben. So soll es zwar den Kommissionspräsidenten wählen können, dies jedoch erst nachdem sich der Rat auf einen einzigen Kandidaten geeinigt hat. Eine Politisierung der Kommission gemäß der jeweiligen Mehrheit im Parlament ist damit ausgeschlossen.

Überhaupt ist der Europäische Rat - nach dem, was der Konvent präsentiert - der große Gewinner. Anstelle der bisher unter den Mitgliedsländern halbjährlich rotierenden Präsidentschaft wird es einen hauptamtlichen Präsidenten geben, der nur vom Rat selbst gewählt wird. Er wird in Konkurrenz zum Präsidenten der Kommission treten. Es entstehen zudem neue Behörden, die allein dem Rat unterstehen: In der Verteidigungspolitik eine Rüstungsagentur und in der Innenpolitik ein Gremium zur "operativen Zusammenarbeit". Doch wird der Rat in einem "Europa der 25" selbst zu einem nicht mehr identifizierbaren Subjekt. Da in einem Europa dieser Dimension ja fast immer irgendwo nationale Wahlen stattfinden, werden sich die Ministerräte stets in veränderter Zusammensetzung treffen. Die Erfahrung lehrt, dass unter solchen Umständen das Gewicht der Bürokratie wächst.

Nun könnte man beschwichtigen - der Konventsvorschlag sei eben auch nur ein Schritt auf dem langen, mühseligen Weg europäischer Integration. Folglich wäre das heute noch nicht Erreichte nur aufgeschoben. Nur lassen sich eben die Herausforderungen, mit denen die EU zwischenzeitlich konfrontiert ist, nicht mehr einfach vertagen. Ist eine vertiefte Kooperation nicht möglich, werden sich die einzelnen Staaten eben direkt untereinander verständigen. Und kommt eine "vergemeinschaftete" Union nicht zustande, wird "Kerneuropa" triumphieren. Wenn kerneuropäische Arrangements fortan innerhalb der EU-Gremien leichter möglich werden, hat der Konvent dafür den Weg geebnet.

Nehmen wir die Außen- und Verteidigungspolitik. Unter der Führung Großbritanniens verhinderte die europäische Gefolgschaft der USA im Konvent hartnäckig jeden substanziellen Gebrauch des Mehrheitsprinzips. Der vorgesehene Minister für Auswärtige Angelegenheiten wird eine ähnlich traurige Figur sein, wie das heute auf Javier Solana zutrifft. Eine Antwort auf diese Blockade haben die Regierungschefs Belgiens, Deutschlands, Frankreichs und Luxemburgs auf ihrem Brüsseler Gipfel zur Verteidigungspolitik im April zu geben versucht. Mit Blick auf den Konvent ließen sie keinen Zweifel an ihrem Willen, EU-geführte Militäroperationen notfalls auch ohne Rückgriff auf die NATO führen zu wollen. Der Konvent folgt dieser Option insoweit, als er für die Verteidigungspolitik im Verfassungsvertrag die Möglichkeit der "strukturierten Zusammenarbeit" anbietet.

Insofern ist mit einer exklusiven Verteidigungsunion zu rechnen. Vielleicht wird man in der Steuerpolitik wie der Koordination von Wirtschaftspolitik ebenfalls auf diesem Feld grasen, da die Währungsunion dies schlicht erzwingt. Jürgen Habermas und Jaques Derrida haben mit ihrem Plädoyer für ein Kerneuropa in der FAZ somit nur einer bereits latenten Strömung Wort gegeben. Die europäische Verfassung - gedacht als krönender Schlussstein der europäischen Integration - könnte der Anstoß sein, eine neue, selektive Exklusivität im "Europa der 25" hervorzubringen. Dies nennt man Dialektik der Geschichte.

Der Autor ist Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament.

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