Vorhang auf! Oberbayerische Idylle. Der Ort: Starnberg. Hier wohnt sie in einer großen Wohnung mit Seeblick. Ihr Name ist Claudia. Ihren Nachnamen will sie, wie alle Personen in dieser Geschichte, lieber nicht nennen. Vor Claudias Tür stehen ein BMW-Coupé und ein Motorrad. Sie ist erfolgreich, eine der wenigen Frauen an der Spitze ihrer Branche. In der Mittagspause geht sie ins Fitnessstudio, am Abend trifft sie Freunde, am Wochenende sind Fallschirmspringen, Motorradtrips oder Skifahren angesagt. Sie bekommt viel Anerkennung in ihrem Beruf, im Freundeskreis ist sie beliebt. In ihrem Kleiderschrank herrscht erkaufte Fülle, in ihrem Inneren aber ist Leere. Vorhang zu!
Das war vor sieben Jahren. Irgendwann merkte Claudia, dass das nicht alles gewesen sein konnte. „Ständig hatte ich das Gefühl, mir fehle etwas – aber ich wusste nicht, was. Die Routine begann meinen Enthusiasmus aufzufressen.“ Den Traummann fand sie nicht, auch nicht auf professionell organisierten Singleveranstaltungen. Claudia stellte sich die Sinnfrage.
Wollen wir so leben?
Endstation Karriere: pralles Konto, Hektik und Stress. Größeres Einkommen gegen weniger Freiheit eingetauscht. Angekommen in soliden Verhältnissen und einquartiert in jener Falle, die unser Sicherheitsbedürfnis befriedigt, uns aber vor jeder Veränderung zurückschrecken lässt. Wollen wir wirklich so leben?
Claudia nicht. Sie machte eine 180-Grad-Drehung. Sie ließ München und all seine Annehmlichkeiten hinter sich, arbeitet heute als Reiseleiterin im Ökotourismus in Mexiko. „Schon früher auf meinen Fernreisen besuchte ich mit privaten Reiseleitern indianische Dörfer, weil es mich faszinierte, mit wie wenig die Menschen dort glücklich waren.“
Dass im Weniger mehr Glück steckt, bestätigen auch viele Ergebnisse der Glücksforschung. Etwa der Happy Planet Index, der die ökologische Effizienz im Verhältnis zur Lebenszufriedenheit der Menschen misst.
Demnach leben die glücklichsten Menschen im Verhältnis zu ihrem Ressourcenverbrauch im Land Vanuatu, einer Gruppe von Vulkaninsel im Südpazifik. Dort leben Bauern und Fischer. Lebensmittelpunkt ist die Familie und die Gemeinschaft.
So auch in Claudias Leben heute in Mexiko. Ihr Fallschirm ist verstaubt, seit sechs Jahren war sie nicht im Urlaub, aus dem BMW ist ein Corsa geworden. Claudias finanzielle Lage ist nun so vorhersehbar wie ein Hurrikan, doch sie ist glücklich. Sie hat einen Maya geheiratet, ist Teil seiner Familie geworden. „Ich habe zwei Schwager zu uns geholt, um ihnen eine Schulbildung zu ermöglichen, die sie sonst nicht bekommen würden. Es erfüllt mich mit Zufriedenheit, jeden Tag ihr Lachen zu hören.“
Die Wirtschaftskrise hat gezeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem unsere Wohlstandsgesellschaft dahingleitet. Die Jagd nach Geld verändert Menschen. Sie entfernen sich von sich selbst, hetzen durchs Leben, werden oft narzisstischer und depressiver. Aber die Wirtschaftskrise ist nur ein Symptom. Der Arbeitsplatz ist nicht mehr sicher und damit gerät das ganze Weltbild ins Wanken. Die kapitalistische Verheißung, immer mehr zu konsumieren, um ein besseres Leben zu führen, wird hinterfragt. Wertvoller wird das, was sich mit Geld nicht kaufen lässt: Partnerschaft, Familie, Freundschaft und vor allem Zeit. Nicht alle steigen dabei wie Claudia völlig aus ihrem früheren Leben aus.
Maria bricht auch aus, ein bisschen zumindest. Mehr als zehn Jahre lang war sie Führungskraft eines namhaften Unternehmens, war für ihre Mitarbeiter da und damit beschäftigt, die hohen Zielvorgaben der Firma mit ihrem Privatleben auszubalancieren. Am Ende verlor das Privatleben. Die Folge: zunehmende Fremdbestimmung. „Irgendwann habe ich mich selbst total vergessen und habe mir eingeredet, ich brauche keine Partnerschaft oder eine Familie, der berufliche Erfolg wäre der Schlüssel zu meinem Glück.“ Ein Burnout zwingt sie schließlich, ihre Karriere zu überdenken. Trotz hoher Qualifikation nimmt Maria heute bewusst eine geringer bezahlte und weniger verantwortungsvolle Aufgabe wahr, die es ihr erlaubt, jedes Jahr für einige Zeit eine Auszeit zu nehmen.
Downshifting nennt sich dieser gesellschaftliche Trend, der dem Motto „Weniger ist mehr“ folgt und weltweit Anhänger findet. In Großbritannien befürwortet laut einer Umfrage etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung, lieber weniger zu arbeiten und zu verdienen, um mehr Zeit zu haben. Auch die Einwohner der skandinavischen Länder optieren großteils für eine Lebensweise, die unabhängiger von Geld ist und dafür Raum lässt für Geist, Gesellschaft, Kultur.
Denn Downshifting bedeutet nicht nur, Zeit zu gewinnen, es bedeutet ebenso: Sinn zu schaffen in einem Gesellschaftssystem, das die Sinnfrage mit der Systemfrage bereits für erledigt hält. Die einen legen bei ihrem Teilausstieg den Schwerpunkt auf zwischenmenschliche Beziehungen oder solidarisches Verhalten, einige setzen sich für die Umwelt ein, andere senken bewusst ihre Ausgaben. Doch Menschen, die keine Lust haben, regelmäßig Überstunden zu machen oder die Arbeit mit nach Hause zu nehmen, stoßen oft auf Widerstände.
Immer wieder diese Frage
„Haben Sie deine Stelle gestrichen?“, wird Sebastian oft gefragt, wenn er erzählt, dass er nicht mehr für sein Unternehmen tätig ist. Er ist dreißig Jahre alt, fuhr gute Ergebnisse ein. Als Berater war er ständig unterwegs, heute Deutschland, morgen Schweiz, in einer Woche Afrika. Das Unternehmen fördert ihn und seine Karriere. Doch Sebastian erklärte, er wolle weniger arbeiten und mehr Zeit für seine Familie haben, das ständige Reisen wäre ziemlich belastend.
„Wenn ich abends nach getaner Arbeit, Essen mit Kollegen und Gesprächen, die sich nur um das Thema Arbeit drehen, allein in irgendwelchen Hotelzimmern saß, fragte ich mich, was mache ich hier?“ Sebastian legte seinem Chef ein neues Arbeitszeitmodel vor. Die Strukturen des Unternehmens seien dafür leider nicht ausgerichtet, ließ man ihn wissen.
Wer offen bekennt, weniger arbeiten zu wollen, gilt schnell als Störfaktor. Was bleibt, ist der totale Verzicht auf eine Karriere im eigentlichen Sinne und die Chance, seiner Berufung nachzugehen.
Kein einfacher Weg. Laut einer Umfrage des amerikanischen Forschungsinstitutes Gallup im Januar 2009 entscheiden sich wenige Beschäftigte in Deutschland für ein erfüllendes Arbeitsleben. Demnach machen 67 Prozent der Arbeitnehmer Dienst nach Vorschrift, 20 Prozent geben an, innerlich gekündigt zu haben und nur 13 Prozent arbeiten mit ganzer Kraft.
In unserer Gesellschaft ist der Status zu einem Großteil an den ausgeübten Beruf gekoppelt. Er ist der Hauptmaßstab, nach dem wir jemanden Achtung entgegenbringen und so verführt der Wunsch nach Anerkennung wohl so manchen dazu, einen Beruf auszuüben, der weit davon entfernt ist, persönlich erfüllend zu sein. Zu der Angst vor Anerkennungsverlust kommt die Furcht vor finanziellen Engpässen.
Die Angst, zu wenig zu haben
Der Autor William Bloom sieht in seinem Werk Money, Heart and Mind: Financial Well-Being for People and Planet die Ursache der Angst vor Verlust des Geldes in der in uns liegenden Urangst vor Hunger und der Unberechenbarkeit der Natur. Den Hunger haben wir besiegt, die Natur bezwungen und nun unsere Ängste auf das Geld verlegt. Wie viele unglückliche Arbeitnehmer lehnen eine erfüllendere Tätigkeit ab, weil sie fürchten, mit dieser nicht über die Runden zu kommen?
In manchen Geldratgebern wird behauptet, dass gerade dieses Verhalten Wachstum verhindert. Man dürfe sich nicht an sein Habe klammern, sondern müsse genügend Mittel freisetzen, um das zu verwirklichen, was das eigene „Schöpfungspotenzial“ ermöglicht. Paradoxerweise, so die Wohlstandsberater, kommt dann das Geld vermehrt zu uns, ohne dass wir zusätzliche Anstrengungen unternehmen müssten.
So weit die Theorie. In der Praxis kann die Umstellung schwierig sein, wie Claudia berichtet: „Der Anfang war wirklich hart, materiell bemerkte ich, dass ich meinen gewohnten Lebensstandard drastisch reduzieren musste. Wir hatten Zeiten nach dem Hurrikan Wilma, da waren wir beide arbeitslos und suchten Münzen auf der Straße, teilten uns das Essen mit einer zerbrochenen Plastikgabel.“
Ob sie jemals ihre Entscheidung bereut hat? „Nur anfangs, aber ich würde es trotzdem wieder genauso machen. Vielleicht auch, um Mitmenschen zu zeigen, dass man Zufriedenheit mit Geld nicht kaufen kann und man nie verlernen sollte, sich über Kleinigkeiten zu freuen.“
Ein aktueller Appell, zeigt doch die Krise, dass es höchste Zeit ist, sich über eine neue Arbeitsauffassung Gedanken zu machen. Downshifter sind keine arbeitsscheuen Geschöpfe, die sich am liebsten in die Hängematte legen. Sie stehen für eine Lebenseinstellung, die das Miteinander über den Egoismus, die Zusammenarbeit über die Konkurrenz, die zwischenmenschlichen Beziehungen über maßlosen Konsum und die Persönlichkeitsentwicklung über den Dienst nach Vorschrift stellen. Davon profitieren letztlich auch die Arbeitgeber.
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