Wo liegt das Schlaraffenland?

Konsum Früher war es der Traum vieler Polen, in Deutschland einkaufen zu können. Heute fahren Exil-Polen lieber nach Warschau, um sich dem Kaufrausch hinzugeben

Mal wieder laufe ich nervös durch die Geschäftspassagen des Berliner Hauptbahnhofs, mal wieder stehe ich vor einem großen Problem. Was kann ich noch mitbringen aus Deutschland, das es in Polen nicht gibt? Vorbei sind die Zeiten, als die Exil-Polen mit vollbepackten Taschen den Berlin-Warszawa-Express stürmten, um den Liebsten in der Heimat eine Freude zu machen. Heute fahren polnische Familienangehörige mit vollbepackten Tüten nach Berlin. Was waren das für Freuden, als mein Vater, der als erster ins Berliner Exil gegangen ist, Säcke voller Süßigkeiten nach Polen schickte. Damals waren Überraschungseier noch tatsächlich eine Überraschung, fast hätte ich ein gelbes Plastikei in der Schokoladenhülle verschluckt.

Müde und mit leeren Taschen lasse ich mich in meinen Sitz im Zug fallen, die Fahrt in Richtung Warschau beginnt. Jetzt schon weiß ich, dass ich auf der Rückfahrt mit prallen Taschen die Beinfreiheit im Wagon gefährden werde. Ich höre meine Familie sagen: „Hier pack’ ein, so etwas gibt es bei euch da drüben nicht.“ Da drüben, das ist Berlin. Und in der Tat: Duftende Krakauer Würste, polnische Teigtaschen oder die süße, sogenannte Vogelmilch gibt es in Berlin nicht oft. Hingegen haben sich Lidl, Netto und seit vergangenem Jahr auch Aldi in Polen breit gemacht. Das macht es nicht einfacher, etwas mitzubringen.

Komm herein, komm herein

Es ist wahr, aus dem Westen in Richtung Osten zu reisen, macht einen schon längst nicht mehr exotisch oder besonders. Exotisch ist mein Kindheitspolen allerdings auch nicht mehr. Nur für einen Augenblick glaube ich, es wiederzuerkennen. Am Hauptbahnhof Warszawa eingetroffen, passiere ich in den unterirdischen Gängen des Bahnhofs leicht muffelig wirkende Geschäfte, in denen die Verkäuferinnen im Kittel hinter der Ladentheke stehen. Doch spätestens am Ausgang angekommen, heißt es einen tiefen Atemzug nehmen, aus den Kindheitsträumen erwachen und sich als Erwachsener der Realität stellen.

In architektonischer Raffinesse präsentieren sich vor der Warschauer Skyline die Glasfassaden der „Goldenen Terrassen“. Immer noch im weihnachtlichen Glanz schauen sie mich an und flüstern: Komm herein, komm herein und erfüll dir deine Konsumträume. Symbole des Kapitalismus wie McDonald’s, Adidas, Saturn oder Puma, die die Fassaden schmücken, konkurrieren mit dem unbeliebten Symbol einstiger totalitärer Unterdrückung, das in direkter Nachbarschaft liegt. Der Palast der Kultur, das damalige Geschenk der Sowjetunion und heutiges Wahrzeichen Warschaus, schaut auf das Einkaufszentrum hinunter.

Ich folge der lockenden Stimme und betrete die bunte Einkaufswelt. Mit vielen anderen kämpfe ich mich durch die Drehtür. Es ist Anfang Januar und das nachweihnachtliche Tauschgeschäft ist voll im Gange. Solche Einkaufswelten, die übrigens die deutschen an Größe und Erlebniswert bei weitem übertreffen, sind nach amerikanischem Vorbild in den letzten Jahren in ganz Polen entstanden. Vorbei an Läden wie H, Zara oder Benetton habe ich nach mehreren hundert Metern vergessen, dass ich in Polen bin. Zeit für eine Pause, erstmal Eindrücke verarbeiten, im entspannend anmutenden „Coffee Heaven“.

Vollbepackte Tüten, lange Schlangen und belegte Tische. Wohin das Auge schaut, wird eingekauft und konsumiert. Dieses Bild ist nicht ganz neu für mich. Seit mehreren Monaten fahre ich in regelmäßigen Abständen nach Polen und egal, wo ich bin, die Szenen ähneln sich. Erst beim letzten Besuch erlebte ich einen Kulturschock. Zugegeben, es war die Zeit vor Weihnachten und die Konsumfreude entsprechend groß. Noch eine Kleinigkeit essen gehen, bevor es in den Zug geht – das war damals der Plan. Da es schnell gehen sollte, entschieden wir uns, zu Pizza Hut zu gehen. Gegessen haben wir dort nicht, denn der Platzanweiser sagte uns, wie einigen vor uns auch, dass alle Tische belegt seien und wir uns bitte gedulden sollen. Ja genau, Pizza Hut ist eine Fast-Food-Kette!

Nur manche Löhne wachsen

Das ist mir in Deutschland noch nicht passiert. Im Pizza Hut in Berlin gibt es keinen Platzanweiser und die Wirtschaftskrise ist in aller Munde. An einem Durchschnittspolen, sofern er Arbeit hat, geht die Wirtschaftskrise vorbei, so das Postulat des polnischen Magazins Polityka zum Jahresende. Die Erfahrung mit Wirtschaftskrisen zu Zeiten der Sowjetunion, der Umstrukturierung Polens zur freien Marktwirtschaft und zuletzt der Krise der Jahre 2001 bis 2003 haben die Polen gegen die Schwankungen des Konjunkturzyklus weitgehend immun gemacht. Die gegenwärtige Krise ist für den polnischen Konsumenten diesmal kein Kampf ums Überleben. Sie trifft eine Gesellschaft auf einem höheren Wohlstandsniveau, eine Gesellschaft, die Geld für schwere Zeiten zurücklegen konnte.

Trotz Wirtschaftskrise wachsen die Durchschnittslöhne in Polen stetig. Zuletzt um 5,7 Prozent auf 3.332 Zloty, knapp 800 Euro. Skeptische Stimmen warnen jedoch, die Zahlen zu wörtlich zu nehmen. Der Anstieg der Löhne in Polen würde nur ausgewählte Berufe und Privilegierte treffen. In Wahrheit verdient der Durchschnittspole gerade einmal zwei Drittel dessen, was er laut Statistik erhält. Einfache Arbeiter verdienen oft nur 530 Zloty (zirka 130 Euro), den Mindestlohn.

Das würde bedeuten, hier in den Warschauer Einkaufspassagen wären nur die Superreichen unterwegs. Das mag ich einfach nicht glauben. Es muss einen anderen Grund geben, warum die Berliner Einkaufswelten bei weitem nicht so lebendig sind wie jene in Warschau. Vielleicht ist es die Stadt selbst. Während Berlin Ende Oktober 2009 eine Arbeitslosigkeit von 13,6 Prozent aufwies, sank die Arbeitslosigkeit in der polnischen Hauptstadt trotz Wirtschaftskrise von 3 Prozent im Jahr 2008 auf 1,9 Prozent im Jahr 2009. Und: Einkaufscenter sind laut einer Studie der Unternehmensberatungsfirma Deloitte der Lieblingsort der Polen für ihre Einkäufe.

Das glaube ich sofort. Ich genieße meinen Kaffee im „Coffee Heaven“ und beobachte möglichst unauffällig zwei Frauen am Nebentisch. Glitzernde Ohrringe und kleine Schachteln werden hin- und hergereicht. Während mir das Ganze langsam zu viel wird, scheinen die Damen den Trubel zu genießen. Hier liegt ein Teil der Antwort für den regen Konsum der Polen. Bereits 2006 untersuchte die Metro AG das Konsumverhalten in sieben EU-Ländern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Ungarn, Polen) und zeigte, dass das polnische Konsumverhalten nicht den europaweiten Verbrauchertrends folgt. Das betrifft insbesondere die Einstellung zum Einkaufen. Von allen untersuchten Nationen zeigen die Polen dabei die größte Freude. 38 Prozent der Befragten stimmen der Aussage „Einkaufen ist für mich ein echtes Vergnügen“ zu. In Deutschland sind es nur 24 Prozent.

Diese Einkaufsfreude lässt sich zum Teil sicher mit den noch unerfüllten Konsumwünschen in Polen erklären. Während nur 30 Prozent der westeuropäischen Haushalte angeben, noch dringend etwas zu benötigen, ist dieser Wert in Polen mit rund 60 Prozent doppelt so hoch. Die Polen sind noch nicht satt. Meine Tante bestätigt mir den Nachholbedarf. Sie erinnert sich, wie sie einst zwei Tage im Familienschichtwechsel anstand, um eine Waschmaschine zu kaufen. Für mich klingt das romantisch, ich stelle mir eine Familie vor, die gemeinsam für ihr Wohl arbeitet. Doch die Realität, so meine Tante, hatte nichts mit Romantik zu tun. Eiskalte Füße, Müdigkeit, Ungewissheit und am nächsten Tag wieder der Arbeitsalltag.

Vermutlich waren es solche Szenarien, die meine Eltern dazu veranlassten, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ihr Glück in Deutschland zu suchen. Damals gingen viele polnische Familien nach Berlin, denn Deutschland, das war Reichtum, Überfluss und Freiheit. Mein Bild von Deutschland war geprägt vom Enthusiasmus meiner Eltern und den Bierdosen, die unsere polnischen Nachbarn auf ihrem Wohnzimmerschrank in Reih und Glied als Statussymbole aufgestellt hatten. Unsere Nachbarn besaßen auch deutsche Kataloge. Aufgeregt blätterten meine Schwester und ich darin und malten uns aus, was wir alles haben würden. Wir sahen toll eingerichtete Wohnzimmer, bunte Kleider und ganz viel Spielzeug. In Deutschland angekommen, glich das Aussiedlerheim nicht gerade einem Schloss, doch konnte mir das nicht die Überzeugung nehmen, ich wäre reich.

Eines Tages gaben mir meine Eltern das erste deutsche Geld, eingepackt in eine ausgewaschene Heringdose von Aldi, die ich unter meiner Jacke versteckte. Mein Weg führte mich vor das Spielzeugregal von Woolworth. Ich packte einen Einkaufskorb voll und lief damit zur Kasse. Ich verstand nicht, was die Kassiererin von mir wollte, als sie in meiner Heringdose rumwühlte, nachdem sie die Kuscheltiere über das Fließband gezogen hatte. Was ich verstand, war, dass ich ohne Spielzeug aus dem Laden raus bin und am Ende des Tages mit einem Kautschuk-Ball nach Hause kam, den ich an einem Kiosk für mein Geld erstand. Der Zugang zum Schlaraffenland Deutschland war schwieriger als gedacht.

Kaufen Deutsche nun hier?

Heute würde ein Pole wohl nicht mehr auf die Idee kommen, Deutschland als Schlaraffenland zu bezeichnen. Heute stellt keiner mehr deutsche Bierdosen auf seine Ikea-Möbel. Die polnischen Gastarbeiter in Deutschland werden immer weniger. Dafür kommen neuerdings Arbeitskräfte aus Deutschland nach Polen. Ob die ostdeutschen Gastarbeiter auch ihre Kinder, wie meine Eltern einst mich, in die bunte Einkaufswelt mit ein paar polnischen Zloty schicken?

An einem Schaufester bleibt mir der Atem weg. Es ist so, als würde mir die Heringdose wieder auf die Brust drücken. Während die polnischen Gehälter immer noch weit unter den deutschen liegen, scheinen die Preise zunehmend vergleichbar. Ich habe verstanden, dass die Polen Freude am Geldausgeben empfinden, ich habe verstanden, dass nur die wenigsten zu den Superreichen gehören. Woher nehmen sie also das Geld für ihren Einkauf? Ganz einfach, während der Deutsche sein Geld lieber spart, ist der Pole eher bereit einen Kredit aufzunehmen. Laut Metro-Studie liegt die Sparquote in den meisten europäischen Ländern höher als in Polen, in Deutschland liegt sie sogar dreimal so hoch.

Polen ist das Land der Konsumträume, geht mir durch den Kopf, als ich die Rückreise Richtung Berlin antrete. Ich sitze mit vollen Tüten im Zug und der Duft der Krakauer Würste durchzieht das Abteil. Der Zug passiert die Oder. In diesem Zwischenraum lasse ich meinen Blick über das Wasser schweifen und frage mich: Liegt heute das Schlaraffenland tatsächlich im Osten?

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