Zum Schluss - die Internationale

UNTERWEGS AUF DEM JAHRHUNDERTWEG Abschied von Emil Carlebach in Frankfurt/Main

Die Trauerhalle des Frankfurter Hauptfriedhofs reichte nicht aus. Über 300 Menschen wollten vor Wochenfrist von Emil Carlebach, dem Antifaschisten und Kommunisten, Abschied nehmen: Von Aktivisten der autonomen Antifa bis zum IG-Medien-Vorstand, von Mitgliedern des türkischen Volkshauses bis zu ehemaligen Widerstandskämpfern und zum DKP-Vorstand.

Ein Friedhofsangestellter blickt verstört von der Empore: Brüder zur Sonne zur Freiheit ertönt aus den Lautsprechern, nach den Trauerreden das Buchenwaldlied und zum Schluss die Internationale - solche Beerdigungen gibt es selten in der Mainmetropole. Unter den Trauerrednern sind Detlef Hensche, ehemals Vorsitzender der IG Medien, der DKP-Vorsitzende Heinz Stehr, Willy Schmidt von der Lagergemeinschaft Buchenwald und Pierre Durrand, Verband der ehemaligen Résistancekämpfer. Peter Gingold, politischer Weggefährte und ehemaliger Kämpfer der Résistance, hält die bewegendste Abschiedsrede, wohl auch die persönlichste. Carlebachs Biografie ist ein Streifzug durch die Geschichte eines Jahrhunderts: Der Mitbegründer der Frankfurter Rundschau wurde 1914 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Schon frühzeitig wurde er politisch aktiv: Zuerst im Sozialistischen Schülerbund, später im kommunistischen Jugendverband, dann in der KPD. Hier lernten sich Peter Gingold und Emil Carlebach kennen, der sich aus Rücksicht auf seine konservative Familie Norbert nannte. Als ausschlaggebendes Ereignis für ihrer beider Entwicklung schilderte Gingold in seiner Rede die Teilnahme an einer Demonstration gegen die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti, als zu spüren war, was internationale Solidarität bedeutet.

Als 18-Jähriger trat Carlebach der Gewerkschaft bei und verfolgte wachen Auges die letzten Jahre der Weimarer Republik. Für ihn war klar: Es gab keinen "Sturz ins Dritte Reich", sondern eine von ökonomisch und politisch mächtigen Kräften gestützte Entwicklung. "Hitler war kein Betriebsunfall", so titelte er später eines seiner erfolgreichsten Bücher.

Der Januar 1933 machte ihn zum doppelt Ausgegrenzten: als politischen Gegner und Angehörigen einer jüdischen Familie. Schon bald wurde er wegen antifaschistischer Tätigkeit verhaftet und zu einer ersten Gefängnisstrafe verurteilt. Sofort nach seiner Entlassung setzte er seinen Widerstand fort, schrieb Artikel und stellte illegale Zeitungen her. Anfang 1934 wurde Carlebach erneut verhaftet. Nun begann eine mehr als elfjährige Tortur als "Toter auf Urlaub". Zunächst zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, wurde er nach der Haftzeit in das KZ Dachau überführt. 1938 kam er nach Buchenwald, wo er bis 1945 interniert blieb.

Dort wurde Carlebach schon bald in die illegale Lagerorganisation der Häftlinge integriert. Obwohl Juden eigentlich keine Funktionen bekleiden durften, gelang es, ihn als Blockältesten für die jüdischen Häftlinge einzusetzen. Durch umsichtiges Handeln für die neu ankommenden Häftlinge trug er dazu bei, dass viele nicht am SS-Terror zerbrachen, sondern Mut fassten und damit überlebten. Die SS sah in Carlebach deswegen einen der Akteure des illegalen Widerstandes und hatte ihn am Morgen des 6. April 1945 gemeinsam mit 46 deutschen und ausländischen politischen Häftlingen vor das Erschießungskommando befohlen. Doch er überlebte diesen Tag in einem Versteck, und als die Lagerinsassen fünf Tage später sich selbst befreiten, wurde ihm dieser Augenblick zum "Tag der zweiten Geburt", wie er einmal formulierte.

Im Mai 1945 kehrte Emil Carlebach nach Frankfurt am Main zurück und stürzte sich mit ganzer Kraft in den antifaschistisch-demokratischen Neubeginn in Hessen, egal ob beim Wiederaufbau der Arbeiterparteien, die er sich "aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit" nur als Einheitsorganisationen vorstellen konnte, oder als Stadtverordneter und hessischer Landtagsabgeordneter seit 1946, schließlich als Mitbegründer der Frankfurter Rundschau. Bald schon musste er jedoch erleben, dass antifaschistischer Neuanfang nicht unbedingt den Vorstellungen der US-Militärbehörde entsprach. So wurde Carlebach 1947 die Lizenz für die Herausgabe der FR wieder entzogen.

Als Mitbegründer der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes machten er und seine Kameraden in den Folgejahren auf verhängnisvolle Entwicklungen aufmerksam, protestierten gegen schleppende Entschädigungszahlungen oder gegen die Rehabilitierung alter Nazis. Nach dem KPD-Verbot siedelte Emil Carlebach zeitweilig in die DDR über und arbeitete dort als Journalist. Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik wurde er über lange Jahre Mitglied des Präsidiums der VVN-BdA und leitender Redakteur der antifaschistischen Wochenzeitung Die Tat - einer Vorgängerin des Freitag.

Neben seiner journalistischen Tätigkeit war es sein Hauptanliegen, der jüngeren Generation das zu vermitteln, was er als Geschichte erlebt hatte. Mit seinen klaren Worten, die mit Schärfe gegen den politischen Gegner nicht sparten, machte er sich dabei nicht bei allen beliebt - vor allem nicht bei politisch Verantwortlichen. Dennoch, der Kommunist erhielt gesellschaftliche Anerkennung, wenn auch erst nach langen Jahren: Neben der VVN-BdA-Ehrenmedaille des Widerstandes erhielt er die Johanna-Kirchner-Medaille der Stadt Frankfurt am Main.

Eine heimtückische Krankheit hinderte ihn in den vergangenen Jahren, sich weiter an den ihm so wichtigen politischen Debatten zu beteiligen. In einem Brief erinnerte er 2000, am 55. Jahrestag der Selbstbefreiung, an den Schwur von Buchenwald: "Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln - das war und ist und bleibt unsere Losung. Das haben wir 21.000 vor einem halben Jahrhundert auf dem Appellplatz in Buchenwald geschworen. Doch unser Ziel ist noch nicht erreicht. In vielen Ländern toben neue Kriege, erheben faschistische Demagogen wieder ihr Haupt. Wir, die Veteranen des antifaschistischen Kampfes, erinnern uns und warnen unsere Völker, vor allem unsere Jugend: Glaubt nicht den Schlagworten. Wir müssen in Wort und Tat der heraufziehenden Gefahr widerstehen. Das sind wir unseren gefallenen Kameraden und unseren heutigen jungen Mitgliedern schuldig." - Rote Fahnen begleiteten den Trauerzug zum Grab.

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