Frauen werden bei Krankheit oft schlechter versorgt als Männer", erklärt Martina Dören, Leiterin des Forschungszentrums Frauengesundheit an der Freien Universität Berlin. "Das liegt nicht daran, dass sich niemand um sie kümmert, sondern daran, dass Krankheiten bei Frauen mit anderen Symptomen einhergehen als bei Männern."
Dass die Medizin sich nicht um Frauen kümmert, kann wahrlich nicht behauptet werden. Schon zu Beginn der achtziger Jahre hat der amerikanische Medizinkritiker Ivan Illich darauf hingewiesen, dass die gesamte Lebensspanne von Frauen "medikalisiert", das heißt medizinisch kontrolliert ist. Nichtsdestotrotz scheinen sich die Geschlechterunterschiede, soweit sie die Medizin bisher berücksichtigt hat, auf die Geschlechtsorgane zu beschränken. Erst vor wenigen Jahren wurde festgestellt, dass sich auch Erkrankungen an "geschlechtsneutralen" Organen bei Frauen und Männern unterschiedlich äußern und zudem verschieden wahrgenommen werden.
Frauen leiden anders
Beispiel Herzerkrankungen: Der jüngste Kardiologenkongress Anfang September in Berlin hat wieder einmal thematisiert, dass ein Infarkt sich bei Frauen ganz anders ankündigt als bei Männern. Außer über die bekannten - typisch "männlichen" - Symptome, wie Atemnot, Brustschmerz und Taubheitsgefühl im linken Arm, klagen Frauen häufiger über Übelkeit und Druckgefühl im Oberbauch, manchmal auch über ein Engegefühl im Hals oder sogar über Rückenschmerz. Deshalb, so Dören, "kann es vorkommen, dass Ärzte oder Ärztinnen Beschwerden im Oberbauch diagnostizieren, statt eine Herzerkrankung zu erkennen." Oder sie untersuchen zunächst die Galle, die Schilddrüse oder die Rückenmuskulatur. Auf diese Weise geht wertvolle Zeit für die schnelle Behandlung der Herzbeschwerden verloren. Dabei liegt die kritische Phase in den ersten Stunden nach dem Auftreten der Symptome."Nicht nur Ärztinnen und Ärzte haben hier eine Wissenslücke, sondern auch Frauen und ihre Angehörigen", bestätigt Astrid Bühren, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass die Sterblichkeit weiblicher Infarktpatienten unter 50 Jahren signifikant höher ist als bei Männern, trotz der insgesamt höheren Lebenserwartung von Frauen.
Der Herzinfarkt ist das bekannteste, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel. "Bei vielen Krankheiten ist es wichtig zu beachten, dass die Symptomschilderung bei Frauen und Männern ganz unterschiedlich ausfällt", so Bühren. Erste Ergebnisse der Gender-Forschung in der Medizin legen nahe, dass Männer oft klare körperliche Beschwerden zu schildern scheinen, während Frauen ihre Symptome ganzheitlicher beschreiben. "Die Frau kommt daher eher in der somatischen Komponente zu kurz, der Mann eher in der psychischen", erläutert Bühren die Folgen. Die Frauengesundheitsforscherin Dören verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass "Depressionen bei Männern oft nicht erkannt werden, weil Ärzte hier eher von körperlichen Krankheiten ausgehen".
Doch die unterschiedlichen Symptomschilderungen von Männern und Frauen werden auch durch die Ärzte und Ärztinnen provoziert. Waltraud Diekhaus, die dem deutschlandweit ersten Ausschuss Gender Mainstreaming bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe vorsteht, weist darauf hin, dass Frauen eher gefragt werden, was ihnen denn das Herz so schwer macht oder was ihnen auf den Magen schlägt. "Bei einem Mann wird stattdessen sofort Diagnostik betrieben", sagt sie. In ihren Wechseljahren seien Männer medizinisch-psychologisch allein gelassen. Diekhaus, die zugleich Präsidentin des Weltärztinnenbundes ist, folgert daraus: "Es fehlt eigentlich ein Männerarzt." Gender Mainstreaming in der Medizin fordert einen "bio-psycho-sozialen Blickwinkel", wie Astrid Bühren sagt. Und der kommt letztlich beiden Geschlechtern zugute.
Männer als Maß der Forschung
Doch nicht nur in der Versorgung, auch in der Forschung finden Geschlechterdifferenzen bislang wenig Beachtung. So wurden bis vor einigen Jahren Arzneimitteltests grundsätzlich nur an Männern durchgeführt. "Frauen im gebärfähigen Alter waren einfach nicht in den Studien berücksichtigt", erklärt Bühren.In den USA hat sich das inzwischen geändert. Seit Mitte der neunziger Jahre lässt die Food and Drug Administration (FDA) nur noch Medikamente zu, die sowohl an Männern als auch an Frauen getestet sind. Auslöser war die AIDS-Forschung in den achtziger Jahren. Damals wurde erstmals kritisiert, dass fast nur Männer in den Studien vertreten sind. Frauen hatten somit kaum Zugang zu innovativen Therapien. 1992 stellte die FDA fest, "dass bei Frauen zwischen 20 und 40 Jahren bei vielen Arzneien doppelt so viele Nebenwirkungen auftreten wie bei Männern". Dies gab schließlich den Ausschlag dazu, grundsätzlich geschlechterdifferente Studiendaten zu erheben. Da die FDA die weltweiten Zulassungen vergibt, hat die amerikanische Entscheidung auch Folgen für europäische Hersteller.
Dennoch enthält kaum ein deutscher Beipackzettel bis heute differenzierte Dosierungsanleitungen nach Körpergewicht oder spezielle Hinweise für Frauen. Dabei liegt es auf der Hand, dass die gleiche Dosis bei einem niedrigerem Körpergewicht stärker wirkt. Der höhere Körperfettanteil von Frauen sorgt dafür, dass fettlösliche Arzneien leichter aufgenommen und verteilt werden. Die Hormone schaffen Unterschiede in der Resorption bestimmter Medikamente. "Genauso wie Alkohol von Männern und Frauen unterschiedlich aufgenommen wird, muss man sich das bei Medikamenten vorstellen", sagt Astrid Bühren.
Spezifische Behandlungswege
"In der Forschung wird mit Gender Mainstreaming Neuland betreten", so Waltraud Diekhaus, "und ich bin sicher, dass wir viele neue, jetzt noch unerwartete Erkenntnisse gewinnen." Mit der neuen Perspektive verknüpft die Weltärztinnenbund-Präsidentin Diekhaus auch Hoffnungen für das angeschlagene deutsche Gesundheitssystem: "In der Versorgung wird eine Optimierung eintreten, weil beide Geschlechter spezifischer behandelt werden können. Letztendlich lassen sich durch eine bedarfsgerechtere und damit effizientere Versorgung wahrscheinlich sogar Kosten sparen."Diese Chance hat auch die Politik erkannt. Im Januar diesen Jahres beschloss der Bundestag, bei allen Fördervorhaben im Gesundheitswesen geschlechtsbezogene Aspekte zu berücksichtigen. In der Mitteilung aus dem Bundestag heißt es: "Die Koalition erklärt, Therapien, Studien und Diagnoseformen in der Bundesrepublik gingen immer noch einseitig von männlichen Lebenssituationen aus."
Zum Thema s. a. Marianne Legato: Evas Rippe. Die Entdeckung der weiblichen Medizin, Verlag Kiepenheuer Witsch, 2002.
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