Das ist KPTN.57

Porträt Marc alias KPTN.57 sprüht nachts seine Graffiti an Wände und Häuser. Alleine. Diesmal machte er eine Ausnahme und ließ sich begleiten

KPTN.57 steht in einer Seitenstraße, deren hohe Backsteinmauern so etwas wie eine kleine Hall of Fame* [Ruhmeshalle] der Sprüher aus der Gegend bilden. Etwas abwesend doziert er über die sehenswürdigen Pieces [Wandbilder] in der Gegend. Augenblicke später ist KPTN.57 wieder hellwach: „Hinter uns sind Leute. Die lassen wir kurz passieren“, raunt er mir zu. Nachdem die Passanten sich wieder entfernen, folgen wir einer breiten, langgezogenen Straße. Hinter großen Eisentoren blicken wir in dunkle Höfe. Schnell stellt KPTN.57 fest: „Hier kommen wir nicht rein, die Tore sind alle schon zu. Vielleicht haben wir Glück und finden einen anderen Eingang.“

Marc (Name geändert, d. Red.) sitzt in einer der zahllosen Imbissbuden im Osten einer großen deutschen Stadt. Der 24-jährige trägt einen dünnen Bart. Er antwortet schnell und überlegt. Reden ist sein Ding, das wird im Gespräch mit ihm schnell klar. Er hat „etwas mit Medien“ studiert und in dieser Zeit mit Freunden eine kleine PR-Agentur gegründet. Tagsüber sitzt er in seinem Büro und setzt sich mit Zielgruppen und Markenbotschaften auseinander. Abends verlässt er das Büro und tauscht seinen Arbeitsplatz gegen Hausmauern und seinen Tablet-Computer gegen Sprühdosen. Marc weicht seinem Alter Ego KPTN.57. Den treibt eine klare Mission: „Ein Bild malen, nach Hause gehen, freuen, fertig“. Hinter Graffiti steckt mehr als die Profilierungsneurosen jugendlicher Rebellen, davon ist er überzeugt.

Auf die Frage, wie Graffiti zu seinem Alltag passt, reagiert er verwundert: „Graffiti ist Alltag! Alles, was ich mache, steht in Relation dazu. Graffiti ist das Leitmotiv, das hinter allem steht, was ich tue.“ Wenn er sich in der Stadt bewegt, ist Graffiti allgegenwärtig. Völlig abwesend ist KPTN.57 in Marcs Leben deswegen nie. „KPTN.57 ist zwar bewusst, dass er die zweite Geige spielt“, erklärt der Writer [Sprüher], „aber ohne KPTN.57 kann Marc nicht glücklich sein.“

An diesem Abend findet er nun auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes ein etwa drei Meter hohes Tor. KPTN.57 zögert. „Fällt dir was auf?“ Ich schüttle den Kopf. „Die Straße ist zu leise und zu eng.“ Er deutet auf die erleuchteten Fenster der gegenüberliegenden Hausfassade. „Wir machen beim Klettern zu viel Lärm.“

Graffiti hat Marc als 16-Jähriger eher zufällig für sich entdeckt: „Ein Kumpel hatte Cans dabei und brauchte noch einen zweiten Mann – ich bin spontan mitgegangen.“ 2004 war das. An seinen ersten Schritt als Sprüher erinnert er sich noch gut. „Das Bild ist natürlich nichts geworden. Wir hatten die ganze Zeit total Schiss, entdeckt zu werden“, erzählt er lachend, „aber ich bin daran hängengeblieben“. In dieser Zeit las er Szeneklassiker wie Odem: On the Run. Die Biografie des legendären Berliner Sprühers ODEM nennt er im Rückblick ein „Erweckungserlebnis“. Während seiner Schulzeit war Graffiti aber nicht mehr als ein Medium für das Territorialgehabe Halbstarker, weswegen schon mal die Fäuste flogen.

Druckausgleich

Mit der Zeit fand KPTN.57 sein Hobby „ganz schön zeit- und kostenintensiv“, obendrein konnte er seine Fähigkeiten über die Jahre kaum verbessern. Worum es ihm im Kern beim Sprühen ging, wusste er damals noch nicht. Das sollte sich nach der Schule ändern. „Mittlerweile benutze ich Graffiti als Druckausgleich“, sagt Marc. „Ich kann beim Malen richtig entspannen, was paradox ist, weil ich mich total unentspannten Situationen aussetze.“ Er überlegt einen Moment. „Beim Graffiti kann ich durchatmen, ich brech aus der Alltagsroutine aus – darum mach ich das.“ Der Drang dazu überkommt ihn regelmäßig: „Ich muss einmal pro Woche nachts draußen sein“, sagt er, „sonst bin ich nicht ausgelastet“. Er schweigt einige Augenblicke und deutet dann auf seinen Rucksack. „Deswegen habe ich jetzt Dosen im Rucksack, weil ich nach unserem Gespräch malen gehe“, sagt Marc. KPTN.57 wird mich nach dem Gespräch dann auf seinen Streifzug mitnehmen.

Wir stehen vor einem Haus. Etwas ratlos starre ich auf die verschlossene Türe. Auf der Suche nach einem automatischen Öffner am Klingelschild stolpere ich in einen Anwohner, der davon kaum Notiz nimmt und eilig das Haus verlässt. KPTN.57 sieht mich triumphierend an: „Gut gemacht!“ Unbemerkt hat er einen Fuß zwischen Tür und Schloss geschoben. Bestimmt tritt KPTN.57 in das Mietshaus ein. Er bewegt sich leise über zwei Hinterhöfe, vor einem hohen Zaun bleibt er stehen.

Die To-Spray-Liste

Von seinen nächtlichen Streifzügen wissen nur seine Mutter und seine Freundin. Was Freunde und Bekannte über Graffiti denken, weiß er nicht. Einige kennen seine Leidenschaft, mehr aber auch nicht. Gespräche darüber blockt er ab. „Der Typ, der auf dem Scheiß, den wir mit 16 machten, hängengeblieben ist – der will ich nicht sein.“ Marc möchte nicht mit dem Klischee des stumpfen, profilierungswütigen Vandalen in Verbindung gebracht werden. Zutreffend findet er diese Einschätzung sowieso nicht: „Die Leute halten Graffiti für dumm.“ Uneingeweihten gibt er dafür keine Schuld: „Die sehen nur irgendwelche illegalen Farbschmiererein. Zu Graffiti gehört aber viel Grips.“ Profilieren wolle er sich mit seinen Pieces aber nicht: „Mir ist das Bild gar nicht so wichtig.“ Deswegen legt er auch keinen Wert auf einen besonders ausgefallenen Style [Stil]. Sichtweisen, die Graffiti nur auf das Produkt an der Wand reduzieren, findet er verkürzt. „Graffiti ist für mich alles, was drumherum passiert: Graffiti fängt für mich an, wenn ich Stromern gehe. Wenn ich einen geeigneten Spot [Stelle] entdecke, mach ich ein Foto und sehe mir die Umgebung an.“ Die erbeuteten Fotos legt Marc in einem Sammelordner ab. Grinsend fügt er hinzu: „Dieser Ordner ist meine To-do-Liste: Gemalt, gelöscht; gemalt, gelöscht!“ Mit dem Zeigefinger zeichnet er dabei wilde Häkchen in die Luft. Seine Graffiti-Touren bereit er sorgfältig vor: „Wie komme ich auf’s Gelände? Muss ich klettern? Brauch ich eine Leiter oder eine Zange? Er spricht schnell, gestikuliert hektisch. „Das ist Graffiti für mich, das ist meine Motivation, das macht mir Spaß!“

Welche Rolle dabei die Illegalität spielt? Marc trinkt einen Schluck Bier und schweigt für einige Momente. „Dieser kurze Moment des Illegalen ist ein wichtiges Element von Graffiti“, entgegnet der 24-Jährige trocken, „weil er eine besondere Atmosphäre schafft.“ Legales Malen reize ihn nicht. Schließlich überschreite man beim Hall Writing [dem legalen Besprühen eigens dafür ausgewiesener Wände] keine Grenzen. Dieser Reiz am Regelbruch hat ihn indes nicht dazu verführt, seine Bilder an besonders riskanten Stellen zu platzieren, um die Spannung zu erhöhen. Erwischt wurde er beim Sprühen noch nie. „Die Strafverfolgung ist viel drastischer geworden.“ Deswegen ist er nicht nur beim Sprühen äußerst vorsichtig. Während des Gesprächs verstummt er an manchen Stellen und mahnt: „Bisschen leiser, der Typ da drüben ...“ Über gefährliche Aktionen in seiner Vergangenheit möchte er nicht sprechen. Angst vor dem Erwischtwerden scheint Marc aber keine zu haben: „Wenn ich verhaftet werde – was ist’n dann?“ Er räumt aber ein, dass „Angst eigentlich allgegenwärtig“ ist. Vielen Sprühern ist Paranoia nicht fremd: „Jeder Mensch, dem man nachts begegnet, könnte potenziell ein Bulle sein.“

KPTN.57 beobachtet die umliegenden Fenster. Kein Lebenszeichen. Geübt wuchtet er sich über den Zaun und zieht seinen Rucksack nach. „Willst du mitkommen?“ Ich zögere. Der Lichtschein der Fenster lähmt mich. KPTN.57 versteht: „Kannst auch durch’s große Tor zusehen.“ Ich nicke schweigend und kehre um. Draußen auf der Straße dämmert mir, dass entlang jener Zaunspitzen die Grenze verläuft, die KPTN.57 und allen anderen Sprühern so viel bedeutet.

Marc tut viel dafür, das Risiko seines Hobbys zu minimieren. „Ich gucke gezielt nach pfiffigen Spots“, sagt er und macht eine Kunstpause, die er sichtlich genießt. „Es kann schon mal sein, dass ich ein Bild male, das von Gebüsch verdeckt ist. Am nächsten Tag komme ich dann mit einer großen Schere im Gärtner-Outfit, um die Sicht freizulegen“, offenbart er mit einem breiten Grinsen. Sprühen geht er am liebsten allein, in einer Crew [Zusammenschluss von mehreren Sprühern] ist er nicht: „Alleine passe ich am besten auf, weil ich alle Geräusche deuten kann. Allein kann ich auch die Atmosphäre beim Malen viel mehr genießen.“

Marc ist es nicht so wichtig, dass seine Bilder gesehen werden. Um Fame [Ruhm] in der Szene geht es ihm nicht: „Ich sehe mich mit niemandem in Konkurrenz. Ich mache das nur für mich.“ Weil ihm die Anerkennung anderer Writer nicht wichtig sei, gehe er auch locker mit dem Moralkodex der Szene um, der etwa strikt verbietet, den Style Anderer zu kopieren. Solche Urheberrechtsdebatten um Graffiti findet er „affig“. Weil er einen Diskurs darüber anschieben wollte, hatte er vor einiger Zeit mit anderen Sprühern die Idee, berühmte Pieces ihrer Vorbilder stilistisch zu kopieren – und einen Quellenverweis in die Bilder miteinzubauen. Diesen ironischen Blick auf die rigorosen Regeln der Graffitigemeinde fanden viele Sprüher interessant. Solche Mitteilungen an Eingeweihte sind nicht unüblich.

Ist Graffiti Kunst?

Für Marc haben Graffitibilder viele Botschaften: „Ich sehe an der Strichführung, welches Cap [Sprühaufsatz] benutzt wurde und erkenne am Spot, aus welcher Richtung Gefahr lauerte. Ich kann mich in die Situation des Writers einfühlen.“ Sind seine Bilder, ist Graffiti deswegen Kunst? „Die Frage gab’s schon oft. Darauf soll jeder seine eigene Antwort geben“, antwortet er knapp. Eine klare Haltung hat er zu der populären ­Behauptung, dass Graffiti Ausdruck einer Protesthaltung sei. „Das ist so’n Soziologenquatsch.“ Er macht ein abwertendes ­Geräusch. „Graffiti ist politisch, ja selbstverständlich – aber ist dann nicht alles politisch?“, fragt er etwas gequält, ohne eine Antwort zu erwarten. Eine Weile ist es still.

Für sein Bild in Chrom-Schwarz braucht er heute etwa eine Viertelstunde. Kontrolliert zieht KPTN.57 mit seiner Dose Bahn für Bahn. Von den hohen Häuserwänden hallt das Zischen seiner Sprühdose wider, sonst ist es völlig still. Einmal unterbricht er: War da nicht eben eine Männerstimme zu hören? Er presst seinen Körper an die Wand, um mit dem Kopf den gegenüberliegenden Hof zu beobachten. Nichts zu sehen. Als KPTN.57 seine Dosen wieder im Rucksack verstaut hat, klettert er von einem Stromkasten über die Mauer, die den Hof von der Straße trennt. Sein Bild prangt an der Wand, die Lettern schimmern silbrig. „Das hat so gut getan! Ich geh nicht joggen, ne, ich geh malen!“, jubelt er, „heute Nacht kann ich gut schlafen“. Zufrieden führt er mich zu einem nahe gelegenen Bahnhof. Auf dem Rückweg reden wir nicht viel. Am Bahnhof verabschieden wir uns. KPTN.57 steigt auf sein Fahrrad und verschwindet in die Nacht. Am nächsten Tag schickt er mir ein Foto seines Bildes. Zu meinen Nachfragen schreibt Marc: „Gestern war ich nervös, weil ich nicht allein war. Ich konnte die Atmosphäre nicht aufsaugen. Heute will ich lieber malen gehen und mir nicht übers Malen Gedanken machen.“

* Begriffe der Sprayersprache

Angelo DAbundo studiert Politik an der Freien Universität Berlin. Am Sprühen ist er vor langer Zeit schon gescheitert

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