Die roten Fahnen mit schwarz-weißem Emblem zwingen zum Hochschauen. Nein, da ist kein Hakenkreuz! Dort, wo es sich hätte befinden können, leuchtet ein Fragezeichen. Gleich vierfach fallen die mit schwarzen Fragezeichen behafteten Fahnen vor der lichten Glasfront des Stadtmuseums in Luxemburg herab. So etwa hingen sie einst vor dem Gebäude des Stahlkonzerns Arbed, in dem sich die deutsche NS - Zivilverwaltung während der Besatzung Luxemburgs einquartiert hatte. Das befremdlich anmutende Bild diesen Sommers jedenfalls wird sich auch denjenigen ins Unterbewusstsein geschoben haben, die die Ausstellung Le grand pillage zum Kunstraub der Nazis in Luxemburg gar nicht erst sehen wollten.
Zum ersten Mal zeigt das Luxemburger Stadtmuseum eine Ausstellung, die sich mit dem Kunstraub der Nazis in Luxemburg beschäftigt. Die von dem Bonner Historiker Jörn Borchert gemeinsam mit der Luxemburger Kuratorin Marie-Paule Jungblut, Ausstellungsdesignern aus Chemnitz und internationalen Leihgebern konzeptioniert wurde, wollte mit Bildern schockieren. Im ersten Saal begegnet man dem Führer in Überlebensgröße - eine raumbeherrschende Fotoinszenierung. Ein schwerer, monumentaler Reichsadler, vermutlich thronte auch er auf dem Arbed-Gebäude, wurde als Wahrzeichen der Besatzungsmacht in die Ausstellung geschleppt. Dann ein Großfoto im repräsentativen Goldrahmen von einmarschierender SS, das der Fotograf Tony Krier offenbar mit gleicher dokumentarischer Unbeteiligtheit aufgenommen hat, wie vier Jahre später den Einzug der Alliierten.
Die NS-Eliten, so wird es weiter gezeigt, liebten, ganz staatsmännisch korrekt, den Umgang mit der Kunst. Er diente ihnen zur Legitimation. Allerdings diktierten sie in ungekanntem Maße Schönheitsvorstellung und Kunstpraxen und dies grenzübergreifend. Nicht nur die verhängnisvolle Münchener Ausstellung "Entartete Kunst" mit dem Pendant der "Großen Deutschen Kunstausstellung" von 1937, sondern die drei, seit 1942 gezeigten "Großen Moselländischen Kunstausstellungen" im "Kunsthaus Luxemburg" gaben davon ein Bild. "Die Kunst ist eine erhabene und zum Fanatismus verpflichtende Mission" ließ der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler verlauten.
Seit dem 10. Mai 1940 stand Luxemburg unter deutscher Militärverwaltung und gut einen Monat später unter Herrschaft des Gauleiters Gustav Simon. Er wiederum war unmittelbar dem Reichskanzler untergeben. Wer auch nur ansatzweise den Geschmack der Herren nicht bediente, dem wurde die Basis seines Kunstschaffens entzogen. Verarmung, Umsiedlung und Deportation gehörten zum Alltag. Darüber hinaus gibt es widersprüchliche Ankaufspraktiken, einen bisher nicht nachvollzogenen Weg der Bilder durch Institutionen und Privatbesitz. "Die Zäit vun der preisescher Besatzung hei, dat war katastrophal", sagt M. Alex Bonn, dessen Zeugenbericht in der Ausstellung neben vielen anderen präsent ist.
Das erklärte Herrschaftsziel der Nazis bestand in der Germanisierung der Kultur. Die subtilen ideologischen Vorbereitungen reichten bis in die zwanziger Jahre zurück und mündeten 1934 in die Gründung der GEDELIT, der "Gesellschaft für Deutsche Literatur und Kunst" unter der Leitung des Luxemburgers Damien Katzenberg. Bald darauf sollte Luxemburg als "Kulturbollwerk des Deutschtums im Westen" kulturell aufgerüstet werden. Signifikant dafür das Programm eines im Umfeld des Architekten Speer entworfenen "Kulturforums" aus Theater, Musikkonservatorium, Malerakademie und Völkischem Museum - alles in pompösem Ausmaß. Da der Krieg teurer war als gedacht, wurden die Pläne, die man in der Ausstellung besichtigen kann, nicht umgesetzt. Die mit der Annexion Luxemburgs gegründete Landeskulturkammer aber kümmerte sich um die "Förderung einer national konformen Kultur".
Zeitgleich mit der politischen Übernahme ging die Vereinnahmung des kulturellen Erbes des Landes einher - eine regelrechte Ausplünderung. Ein ganzes Instrumentarium wurde geschaffen - Vereine gegründet, Beschlüsse gefasst und Gesetze erlassen - um das, was Raub war, zu legalem Erwerb umzudeuten. Gauleiter Gustav Simon verfügte über das Recht, "das Eigentum von Widerstandskämpfern einzuziehen und den Besitz der katholischen Orden, Klöster, Krankenhäuser und andere Vermögenswerte zu konfiszieren". Juden wurden zwangsenteignet. Es fand eine umfassende Eigentumsumverteilung zugunsten von so genannten "Reichsdeutschen" oder den in Luxemburg anzusiedelnden "Volksdeutschen" statt. Alle Maßnahmen dienten jedoch hauptsächlich der Vermögensausstattung der NSDAP.
Zwei Drittel der geraubten Kunstschätze konnte das Großherzogtum Luxemburg nach dem Krieg zurückerwerben. Bis heute aber gibt es keine hinreichende Forschung zum Verbleib der Kunstschätze. Die Museumsarchive sind nie zu Forschungszwecken geöffnet worden, die Depots für keine Sichtung freigegeben. Eines der Hauptanliegen der Ausstellungsmacher besteht darin, die Provenienzforschung der eigenen Museen und Kunsteinrichtungen anzuregen. Auch Familien sollen die Frage nach der Herkunft ihrer Dinge, "die nach dem Krieg einfach da waren" nicht scheuen. Der deutsche Kunsthistoriker Clemens Toussaint, erklärt in der Ausstellung via Monitor, nun seien auch die Luxemburger gefordert, sich "wirklich gründlich und ausführlich mit der Geschichte ihrer Sammlungen zu befassen." Es geht um die Frage: "Wer hat das Objekt von wem, wann und wo und unter welchen Umständen gekauft." Toussaints größtes Projekt befasst sich gerade mit der Rekonstruktion einer Sammlung von 1300 Gemälden, die 1940 Reichsmarschall Göring in Amsterdam geraubt hatte.
Mehr aber noch als mit all diesen Einsichten vermag die Ausstellung zu irritieren, da sie den Blick auf die eigene Bevölkerung, auf Kollaborateure wie auf das kleine Wegducken und Wegschauen lenkt. In jedem Raum drängt sich dem Besucher die Frage auf, welche Lebens-, Widerstands- und Anpassungsstrategien sich unter den Bedingungen der Besetzung entwickelten, deren Herrschaft in jede Pore der Gesellschaft eingedrungen war. Der Verwaltungsapparat, den Gauleiter Gustav Simon errichten ließ, nahm krakenhafte Ausmaße an. Es gab fast nichts, was nicht geregelt war. Aber gab es auch, trotz der generellen Ablehnung des NS-Machtapparates durch die Luxemburger, vorauseilenden Gehorsam? Die Ausstellungsmacher belegen diese Haltung an konkreten Beispielen. Sie tun das behutsam und sachlich, aber mit Namen und Adressen. In einem kleinen Land, in dem jeder jeden kennt, ist das eine echte Herausforderung.
Das Musee d´ Histoire de la Ville de Luxembourg hat sich wie kaum eine andere Einrichtung in Luxemburg in den vergangenen Jahren mit engagierten Ausstellungsprojekten der jüngeren Geschichte zugewandt. "Seit die Großherzogin Charlotte 1950 aus dem Exil zurückgekehrt war", sagt Marie-Paule Jungblut, "wurde bis in die siebziger Jahre hinein die weiche Decke der nationalen Solidarität über alle Fragen und Widersprüche gedeckt."
"Es war alles nicht so einfach" - lautete deshalb auch der Titel der ersten Ausstellung 2001 im selben Haus, die zehn Fragen aus dem Blickwinkel der jüngeren Generation an die Geschichte stellte. "Nicht nur schwarz und weiß, Emigration, Umsiedlung und Konzentrationslager bestimmten das Leben, sondern die vielerlei Dinge des Alltags." Der Verantwortungsdruck für die Familien, so Jungblut, sei enorm gewesen. Mütter müssten Söhne emigrieren lassen, verstecken oder zur Zwangsrekrutierung freigeben. Darüber liege ein Schweigen. "Eine Gesellschaft wie Luxemburg, die solange in Selbstgerechtigkeit gelebt hat, braucht den Aufbruch." Mit dieser Auffassung steht Marie-Paule Jungblut aber nicht allein.
Guy Assa, Stadtsprecher von Esch, hat als Mitorganisator die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht/ Dimension des Vernichtungskrieges" 2003 nach Esch-sur-Alzette, mitten hinein in die einstige Stahlarbeitergegend geholt, um hier im kleinen Land einmal anders als aus der sonst gewohnten Perspektive die Frage danach zu stellen, wo waren "ons Jongen" und was haben sie dort gemacht? Er sagt in einem Interview: "Die luxemburgische Geschichtsforschung zum Zweiten Weltkrieg ist noch nicht abgeschlossen. Es gibt viele offene Fragen."
8500 Luxemburger wurden als Wehrmachtssoldaten an die Ostfront geschickt. In großer Mehrzahl wurden Zwangsrekrutierte, aber auch Freiwillige (etwa 1500-1800 Personen) versammelt, um Hitlers Armeen aufzufüllen. Daraus entstand ein kollektives Trauma aus Ohnmachts- und Schuldempfinden. Die Luxemburger, die prozentual nach der Sowjetunion und nach Polen den dritthöchsten Verlust an Menschen erleiden mussten, haben gewiss ein Recht darauf, Schmerz und Ablehnung zum Hauptinhalt ihrer Geschichtsbetrachtung zu machen. Immerhin hat jeder Luxemburger mindestens ein Familienmitglied, das eine verletzende und tragische Erinnerung mit der NS- Besatzungszeit verbindet.
Die mehr oder weniger "stille Résistance" wiederum gegen den übermächtigen Besatzer, die letztlich siegreiche Schlacht der Alliierten gegen die Wehrmacht in den Ardennen, die Großherzogin, die nach London emigriert war und von dort aus den Widerstandswillen der Luxemburger moralisch unterstützt hat - das sind die Konstituenten für ein Grundgefühl des Stolzes. Es sind die Hauptlinien letzeburgischen Geschichtsbewusstseins. Antifaschismus war Konsens und - so wird es heute formuliert - "Gründungsmythos" für den Kleinstaat im Herzen Europas, dessen Neutralitätsstatus immerhin zweimal von Deutschen gebrochen wurde.
Neben dem individuellen Erleben, Weitererzählen, dem Bewahren und Einordnen gibt es inzwischen eine öffentliche, von historischer Forschung abgestützte, Debatte zur Geschichte mit Ausstellungen, Büchern und Filmen: der neue Akzent, der sich dort aber herauskristallisiert hat, heißt: Luxemburger waren nicht nur Opfer! Wenn man bei der historischen Aufarbeitung aber vornehmlich auf das Verhalten der Bevölkerung oder Einzelner schaut, so viele Bedenken, werde ein subtiler Geschichtsrevisionismus lanciert: Luxemburgs Mitschuld werde scheinbar vergrößert, um Hitlers Monstrosität und die Verantwortung der Deutschen zu relativieren. Die Bewältigungsarbeit balanciert also auf einem schmalen Grat. Um so spannender könnte ein für 2006 geplantes Ausstellungsvorhaben sein, dass sich mit der Arisierung Luxemburgs unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Verflechtung beider Länder befasst.
Ins Herz getroffen hat der im vorigen Herbst gezeigte Dokumentarfilm Heim ins Reich (Regie: Claude Lahr, Buch: Willy Perelsztejn), weil er kritische Fragen maßvoll gestellt hat. In der Wochenzeitschrift d´Land ist man allerdings nicht ganz glücklich. Der Autor Romain Hilgert schreibt: "Das auf politische Erklärungsversuche verzichtende Geschichtsbild des Films deckt sich weitgehend mit der offiziellen Geschichtsschreibung eines blutigen Kampfs zwischen einem großen, monströsen und einem kleinen, unschuldigen Nationalismus. Doch drei Generationen nach Kriegsende kann der Film zumindest die Wirtschaftskollaboration, den Vorkriegsantisemitismus der katholischen Rechten und den Kampf um die politische Restauration nach der Befreiung erwähnen, wenn auch unter Hinweis auf Forschungslücken meist nur andeutungsweise. Nicht zuletzt mangels Bildern kommt vielleicht auch der Kriegsalltag der überwältigenden Mehrheit der Luxemburger zu kurz, die weder Helden noch Schurken waren, sondern sich duckten und hamsterten."
27.000 Luxemburger haben in kürzester Zeit den in letzeburgischer und französischer Sprache gezeigten Film gesehen. Alle Generationen saßen im Kinosaal vereint. In Paris gab es einen großen Preis für die historische Recherche. Schlöndorffs fast gleichzeitig gezeigter Film Der neunte Tag - ein fiktionaler Film um den im Dachauer Pfarrerblock inhaftierten luxemburgischen Geistlichen Bernard, blieb dagegen zwar ein medial viel besprochenes, aber marginales Ereignis, weil er von vornherein fast alle Fragen, um deren Beantwortung Luxemburg jetzt ringt, ausblendete.
Le grand pillage - Ausgeraubt. Neue Fragen an die Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg. Musee d´Histoire de la Ville de Luxembourg. Noch bis zum 23. Oktober, Katalog (ab Dezember) 20 EUR
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