Nach Angaben der UNESCO können derzeit weltweit 781 Millionen Menschen - vorzugsweise in Afrika - weder lesen noch schreiben. In Kenia lebt ein Prozent von ihnen. Zum Welt-Alphabetisierungstag am 8. September ein Bericht darüber, was in Nairobi und anderswo vor allem gegen den Analphabetismus unter Erwachsenen getan wird.
Um seine Unterschrift zu leisten, benötigt der rechtschreibkundige Erwachsene in der Regel nicht mehr als drei Sekunden. Die Kenianerin Hannah Wanjiru, Putzfrau bei einer deutschen Organisation in Nairobi, braucht bis zu einer Minute, um die Buchstaben ihres Namens einzeln und gewissenhaft unter die Empfangsbestätigung ihres Gehalts zu malen. Sie ist alleinstehende Mutter und Großmutter, ernährt eine kranke Tochter, einen arbeitssuchenden Sohn, dazu ungezählte Verwandte. Sie spricht ihre Muttersprache Kikuyu sowie die Landessprache Kisuaheli, nicht aber die Amtssprache Englisch. Lesen und Schreiben hat sie in keiner der Sprachen je gelernt.
Für Hannah Wanjiru mussten 55 Lebensjahre vergehen, bis sie zum ersten Mal eine Schulklasse betrat. Dank eines kostenlosen Alphabetisierungsprogramms der kenianischen Regierung lernt sie an fünf Tagen in der Woche jeweils zwei Stunden lang, sie schreibt und liest zunächst einzelne Wörter in Kisuaheli sowie einstellige Zahlen und tastet sich an einfache englische Sätze heran.
Hannahs Stimme ist fester geworden, seit das geschieht - ihr Hang zu Neckereien häufiger. Mit 55 erkennt sie nun Worte in der Zeitung. Nach sechs Monaten Schulzeit winkt die Versetzung in die 2. Klasse.
Auch 13jährige Massai-Mädchen
Kenia ist dank seiner relativ stabilen politischen Verhältnisse eines der am besten entwickelten Länder im subsaharischen Afrika mit einer eher hohen Alphabetisierungsrate. Eine Regierungsstudie zur Erwachsenenalphabetisierung (15 Jahre und älter) vom März 2007 kommt auf eine Quote von 61,5 Prozent (oder 7,8 Millionen Kenianer). Das Ganze fußt auf einer Hochrechnung nach landesweit 15.000 Befragungen, bei denen ein Schreibtest, nicht das ungeprüfte Selbsturteil ausschlaggebend war. Die Alphabetisierung ist der Expertise zufolge mit 87 Prozent im Kreis Nairobi am höchsten, im Kreis Moyale im halbtrockenen Norden mit 1,6 Prozent am niedrigsten. 31,7 Prozent der weiblichen und 16,7 Prozent der männlichen Erwachsenen haben nie eine Schule besucht.
Doch verbergen die 61,5 Prozent einen Teil der Wahrheit, sie bürgen lediglich für ein Minimum, sie bezeugen, wie viele Menschen Wörter zu Sätzen formen und diese sinnvoll gebrauchen können - international ist das der Maßstab für Alphabetisierung. Den "erwünschten Grad der Beherrschung", wie es die Autoren der Regierungsstudie ausdrücken, "um effektiv zum ökonomischen Wachstum des Landes beizutragen", erreicht nur ein Drittel aller Befragten.
Ohne eine Frau wie Mary Otonde wären es vermutlich noch weniger. Im geschäftigen, tourismusfernen Teil Nairobis, wo Kleinbusse Jagd auf unvorsichtige Fußgänger machen und das Benzin am billigsten ist, dringt Straßenlärm in ihr Klassenzimmer. Während sie die Schreibweise von Wörtern mit "u" erläutert und Sätze reihum vorlesen lässt, entwerfen zwei junge Frauen eine Kurznachricht auf dem Handy und vergewissern sich gegenseitig, ob die Rechtschreibung korrekt ist.
Nur wenige Männer finden den Weg zur Alphabetisierung. Viele wollten das Malheur nicht zugeben, schon gar nicht vor Frauen, lächelt Mary Otonde. "Ich bin die einzige Vollzeit-Lehrerin in diesem Zentrum. Eigentlich endet meine Arbeitszeit 17 Uhr, aber wenn die Leute von der Arbeit kommen und lernen wollen - ich kann sie nicht wegschicken."
Die Abteilung für Erwachsenenbildung im zuständigen Ministerium bestätigt, dass von den 183.000 derzeit registrierten Lernenden in Basis- und Fortgeschrittenenprogrammen fast drei Viertel Frauen sind. Diese Programme gibt es seit 1979, freilich blieben durch Kürzungen in den achtziger Jahren von anfangs 3.000 Vollzeit-Lehrern nur 1.800 übrig. Was nichts daran ändert, dass in ganz Kenia immerhin knapp 7.000 Kurse angeboten werden.
Aus jungen Schulabbrechern und Hausmädchen, auch aus Wachleuten und Kleinunternehmern rekrutiert sich der größte Teil der Zielgruppe im Alter zwischen 18 und 45, manchmal sind auch 13-jährige Massai-Mädchen dabei, die blutjung verheiratet wurden. Die Gründe, warum Erwachsene nie oder selten eine Schule besucht haben, sind vielfältig, doch werden sie ausnahmslos als Grund zur Scham empfunden. Mary Otonde meint aus 20-jähriger Erfahrung: "Viele Frauen werden von ihren Ehemännern gebracht, denen es peinlich ist, dass ihre Frauen nicht lesen und schreiben können. Viele kommen von weit her, weil sie nicht wollen, dass die Nachbarn sehen, wo sie hingehen."
Brotlose Kunst
Die Fortgeschrittenenklasse ist nun doch neugierig auf die Besucherin geworden. Mary Otonde ruft alle zusammen und bringt sie mit sanfter Autorität dazu, ihre Geschichten zu erzählen und dabei ihr neu erworbenes Englisch anzuwenden. Das funktioniert nur auf das Versprechen hin, dass ihre Namen nicht in der Zeitung stehen.
Agnes (27) kommt schon seit zwei Jahren zu Mary Otonde. "Ich habe über eine Fernsehwerbung vom Programm erfahren", erzählt sie. Sie verkaufe gebrauchte Kleidung auf einem Markt. Ihre Eltern hätten sie zunächst zwei Jahre zur Schule geschickt, "danach hat meine Mutter erklärt, ich sollte ihr lieber bei der Hausarbeit helfen." Inzwischen hat Agnes selbst drei Kinder, das älteste geht schon zur Schule. "Als meine Tochter mich bat, ihr das Wort Vater aufzuschreiben, und ich konnte es nicht, habe ich mich furchtbar geschämt."
Naomi (23) betreibt ein Eisenwarengeschäft und kichert ununterbrochen. "Mit Zahlen kann ich umgehen. Aber eines Tages bat mich ein Kunde um eine Quittung - ich wusste nicht, wie ich ihm den Gefallen tun sollte." Mary Otonde fügt leise hinzu: "Danach hat ihr Mann sie hergebracht."
Vicky ist Pastorin und von ihrer Kirchengemeinde in Tansania nach Nairobi geschickt worden. Es gäbe bei ihnen kein vergleichbares Programm, erzählt sie. Nun solle sie Englisch lernen, damit sie in der Kirche, die von immer mehr Ausländern besucht werde, auch in dieser Sprache predigen könne. "Sie braucht noch einige Monate, bis das soweit ist", glaubt die Lehrerin.
Mary Otonde muss sich damit begnügen, dass ihr Engagement vorwiegend durch die Dankbarkeit der Schüler honoriert wird. Da sie nicht mit dem Status einer regulären Lehrkraft aufwarten kann, hat sie keinen Anspruch auf Gehaltserhöhungen und schlägt sich seit Jahren mit umgerechnet 100 Euro monatlich plus Mietzuschuss durch. Doch will sie davon nicht reden. "Was uns dringend fehlt, ist Lehrmaterial. Viele müssen sich ein Buch teilen. Und es ist oft schwierig, Gruppen mit einem sehr verschiedenen Kenntnisstand gleichzeitig zu unterrichten."
Die 55-jährige Hannah Wanjiru jedenfalls kann es in einem Jahr zum offiziellen "Kenntnis-Zertifikat" schaffen, dem Ende des Basiskurses. Wenn ihre Kollegen scherzen, dass sie sich eines Tages an der Universität einschreiben wird, lacht sie aus vollem Herzen. Aber längst nicht mehr voller Unglauben.
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