Ein Paradies verschwindet

Lago de Chapala Mexikos größter Süßwassersee schrumpft infolge katastrophaler Wasserwirtschaft

In seinen besten Zeiten muss der Lago de Chapala in Mexiko ein wahres Paradies gewesen sein. In kristallklarem Wasser tummelten sich riesige Fischschwärme, Scharen von Zugvögeln rasteten auf ihren Wanderungen zwischen Südamerika, Afrika und Europa an den Ufern des Sees, das von kleinen, lebhaften Fischerdörfern gesäumt ist.

Seit Mitte der achtziger Jahre jedoch droht der mit einer Fläche von 1.112 Quadratkilometern größte Süßwassersee des Landes zu einem stinkenden Tümpel zu verkommen - er schrumpft. Bis zu 80 Prozent seiner ursprünglichen Größe musste der See in seinen schlechtesten Zeiten aufgrund der schonungslosen Übernutzung seiner Wasserreserven einbüßen. Von dort, wo einst das Wasser an die Ufer schwappte, war dann die Wasserlinie mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen. Fischer mussten kilometerlang über verlandete Flächen zu ihren Booten wandern.

Mangelhaftes Wassermanagement

Die Probleme sind aus anderen Regionen der Welt gut bekannt. Der in Mittelasien gelegene Aralsee etwa schrumpft seit den sechziger Jahren rasant, auch der Wasserspiegel des Toten Meeres zwischen Israel und Jordanien sinkt jährlich um etwa einen Meter. Der Lago de Chapala, gut vierzig Kilometer südlich der Metropole Guadalajara gelegen, droht hingegen fast unbemerkt von der internationalen Öffentlichkeit von der Erdoberfläche zu verschwinden.

Das Einzugsgebiet des Chapala-Sees und seiner Zuflüsse umfasst 53.500 Quadratkilometer. Heute leben dort rund zehn Millionen Menschen. Rund 80 Prozent der Fläche des Einzugsgebiets werden landwirtschaftlich genutzt. Zur Bewässerung ihrer Felder sind die Bauern auf das Wasser angewiesen. Auch als Trinkwasserlieferant spielt der See eine bedeutende Rolle. Hauptsächlich versorgt er die Metropole Guadalajara, aber auch Mexiko-Stadt bekommt Trinkwasser aus dem Lago de Chapala. Darüber hinaus erheben die zahlreichen Industriebetriebe, die sich um den See und seine Zuflüsse herum angesiedelt haben, Anspruch auf Nutzung des Wassers.

Die Vielzahl der Nutzer ist angesichts der Größe des Sees allein kein Problem. "Was wir hier haben ist kein Wasserproblem, sondern ein Wassermanagementproblem", sagt Salvador Peniche, von der Fundaciòn Cuenca Lerma Lago Chapala-Santiago, einer nicht-staatlichen Umweltschutzorganisation, die sich für den Erhalt des Sees engagiert. So werde das Wasser - legal und auch illegal - über völlig veraltete und leckende Rohrsysteme zu den Nutzern geleitet. Allein 40 bis 50 Prozent des aus dem Chapala-See gepumpten Frischwassers gingen Schätzungen zufolge unterwegs verloren.

Um die Versorgung von Industrie und Landwirtschaft zu decken, werden zudem die Zuflüsse gestaut. Unterhalb der Dämme verkommen die Flüsse zu unbedeutenden Rinnsalen. Allein am Rio Lerma, dem bedeutendsten der vier Zuflüsse, liegen elf Dämme. Insgesamt schneiden über 200 Staudämme dem Chapala-See den Nachschub ab.

Am Rio Lerma wird derzeit ein neuer Damm gebaut, der die Wasserversorgung von Guadalajara verbessern soll. Eine zusätzliche Wasserquelle für die Metropole könnte von Vorteil sein, sagen auch die Umweltschützer der Organisation Sociedad Amigos del Lago de Chapala. Der Arcediano werde aber ausgerechnet dort errichtet, wo die Abwässer der Stadt entsorgt werden. Es müsse folglich zunächst aufwändig geklärt und dann mit Pumpen über mehrere hundert Meter in die Stadt transportiert werden.

Ein alternativer Damm, mit dessen Hilfe von einem anderen Standort frisches Wasser allein durch die Schwerkraft nach Guadalajara gebracht werden könnte, werde seit Jahren von Wissenschaftlern der Universität in Guadalajara vorgeschlagen, sagt Justus Hauser von den Amigos del Lago. Allerdings vergebens, die zuständigen Behörden lehnen diesen Plan ab. Möglicherweise, weil beim Bau des Damms, quasi als angenehmer Nebeneffekt, bislang ungenutztes Land für den Bau einer neuen Stadt erschlossen werde, sagt Hauser.

600 Millionen US-Dollar wird der Bau des Arcedianos verschlingen. Geld, das genutzt werden könnte, um das marode Leitungssystem zu sanieren und die Qualität des Wassers zu verbessern, das in den See fließt. "Dann könnte der Chapala-See die Hauptquelle für Guadalajaras Trinkwasser bleiben und es müsste überhaupt kein Damm gebaut werden", sagt Hauser.

Der Wert des Wassers

Die Wurzel aller Probleme am Chapala-See sehen die Naturschützer in der Politik. So gebe es zum Beispiel keinerlei Versuche, das Bewusstsein für den Wert des Wassers zu fördern. Die ansässigen Bauern zahlten nur eine symbolische Summe für allgemeine Wassernutzungsrechte, nicht aber für die tatsächlich verbrauchte Menge. Ineffektive Bewässerungsmethoden, etwa das Fluten ganzer Felder, seien die Folge. In die Sanierung der Leitungen investiert niemand. Auch in den Städten fehlten finanzielle Anreize von staatlicher Seite, um den Wasserverbrauch zu senken, etwa zur Installierung von Wassersparvorrichtungen, klagen die Umweltschützer.

Nachdem der Wasserstand in den neunziger Jahren extrem zurückgegangen war, erklärte die Nationale Wasserkommission CNA den See kurzerhand bei nur noch dem halben maximalen Volumen für voll. "Wenn die Regierungen so weiter machen, ist der See in zehn Jahren verschwunden", sagt Luis Aguirre Lang, Präsident der Sociedad Amigos del Lago de Chapala.

Neben der unkontrollierten Wasserentnahme ist die Verschmutzung das zweite große Problem am Chapala-See. Nur acht Prozent des gesamten Oberflächenwassers können Angaben der Amigos del Lago zufolge als "akzeptabel" bezeichnet werden, 41 Prozent sind stark verschmutzt. Hauptsächlich aus den oberhalb des Sees gelegenen Industrie- und Agrarbetrieben gelangen ungeklärte Abwässer, Pestizide, Düngemittel und Schwermetalle in die Zuflüsse und letztlich in den See.

Nicht nur den Fischen und anderen Wasserbewohnern macht das zu schaffen: "Die Wasserqualität verursacht hier unter der Bevölkerung bereits ernstzunehmende Gesundheitsprobleme", sagt Aguirre Lang. Die Zahl der Nierentransplantationen in der Region sei gestiegen, auch kämen vermehrt siamesische Zwillinge zur Welt.

Vorhandene Kläranlagen arbeiteten entweder überhaupt nicht oder nur sehr ineffizient. Eine Untersuchung der Abwässer aus neun Anlagen, die "geklärtes" Abwasser direkt in den See einleiten, habe ergeben, dass der Gehalt anorganischer Phosphate 74 Mal höher ist als von der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA (Environmental Protection Agency) empfohlen. 1991 kam es erstmals zu einer massiven Algenblüte, besonders in jüngster Vergangenheit klagen die Naturschützer über die starke Vermehrung der Wasserhyazinthe (Eichhornia crassipes).

Auch die Fischerei-Industrie bekommt zunehmend Probleme. Immerhin 2.000 der etwa 100.000 direkt am See ansässigen Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt mit Fischfang. Während sie 1990 allerdings noch mehr als 7.000 Tonnen aus dem See holten, waren es zehn Jahre später gerade mal knapp 2.400 Tonnen, ergab eine Untersuchung von Manuel Guzmán Arroyo, der das Institut für Limnologie an der Universität von Guadalajara leitet.

Nur eine Atempause

Seit Herbst vergangenen Jahres ist der Chapala-See mit den angeschlossenen Naturschutzorganisationen vollwertiges Mitglied der Living Lakes, einer vom Global Nature Fund (Radolfzell) gegründeten Organisation, die sich um den Erhalt von Seen und Feuchtgebieten weltweit bemüht. Auf solche Unterstützung sind die mexikanischen Naturschützer angewiesen. "Wir brauchen auch internationalen Druck, um die Regierung zum Handeln zu bewegen", sagt Aguirre Lang.

Vorrangiges Ziel der Naturschützer ist derzeit, den Lago de Chapala unter den Schutz des RAMSAR-Abkommens zu stellen. Die 1971 im iranischen Ramsar beschlossene Konvention regelt den Schutz und die Nutzung von Feuchtgebieten mit internationaler Bedeutung. Derzeit haben 133 Staaten das Abkommen unterzeichnet, auch Mexiko ist seit 1986 Vertragspartei. Der Lago de Chapala gehört bislang allerdings nicht zu den so genannten "Ramsar-Sites". Mit der Unterzeichnung verpflichten sich die Regierungen unter anderem, die Feuchtgebiete - etwa durch die Ausweisung von Schutzgebieten - zu erhalten, internationale Zusammenarbeit und Informationsaustausch sowie die Forschung zu fördern.

Dank ausgiebiger Regenfälle ist das Volumen des Sees bis September 2003 auf vier Milliarden Kubikmeter angestiegen - damit besitzt er derzeit immerhin knapp die Hälfte seiner ursprünglichen Größe. Eine Erholungspause für den See und für die Naturschützer vor Ort, mehr ist dies wohl nicht. Denn Regen allein kann die grundlegenden Probleme am Chapala-See nicht wegspülen.


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