Anything goes immer

48. VENEDIG-BIENNALE Zwischen Jetzt und Irgendwann

In nicht meßbaren Intervallen rieselt pinkfarbenes Pigment leise von den Deckrändern. Fallschlieren bleiben zurück auf weißen Wänden, die ein Raster aus konkav hervortretenden Punkten strukturiert. Den Boden säumen weiche Hügellandschaften aus eben diesem giftig-knalligen Farbpigment. Sie wachsen weiter und animieren Besucher nicht selten zur Handlung. Grüße an die Ferne in der Fremde sind zu lesen, Initialen oder energische Fußabdrücke zieren bald dieses ohnehin bizarre Ambiente. Pink klebt an den Schuhen, trägt sich nach draußen und holt den Venedig-Touristen an ganz anderer Stelle wieder ein. Die Farbe Pink ist wirklich dominant auf dieser 48. Biennale. Pink for ever. Ann Hamilton hat sich mit dem neoklassizistischen Pavillon ihrer Landsleute gründlich auseinandergesetzt. Ihre Installation reflektiert die Architektur von außen nach innen und legt neue Assoziationsfelder frei.

Das fängt damit an, daß der amerikanische Pavillon jetzt durch eine Wand aus Glasbausteinen von seiner Umgebung abgeschirmt ist. Nur vage erkennt man das Gebäude etwa von seinem israelischen Nachbarn aus. Im Inneren, wo das Pigment rieselt, herrscht eine fast hermetische Abgeschiedenheit gegenüber dem Rummel draußen. Ein Ort, der Konzentration fordert. Die es auch braucht, um das leise Gewisper phonetischer Codes zu vernehmen, die Abraham Lincolns zweite Rede wiedergeben, oder um die Wandstruktur zu verstehen, die Teile aus Charles Reznikoffs Traktat »Testimony: The United States 1885-1915« in Blindenschrift trägt. Mit ihrer Installation schuf Hamilton einen Ort, der den Bereich zwischen »Gefühl und Artikulation, zwischen Hören und Sehen« auslotet. Hamilton befragt das Verhältnis von Wissen und Information, von Integration und Ausgrenzung, von Kollektiv und Individuum, sie fragt nach dem Subjekt und seinen Identitätsentwürfen und danach, welche Aufgaben die Kunst heute in der Gesellschaft übernimmt. Hamilton nennt ihre Installation »myein«, was eine anormale Kontraktion des Auges bezeichnet. Andererseits verweist »myein« auf die etymologische Wurzel im Wort Mysterium.

Um mysteriöse, verzerrte und eben nicht eindeutige Situationen geht es auch im deutschen Pavillon, den dieses Jahr die Kölner Künstlerin Rosemarie Trockel bespielt. Trockel hat für Venedig drei Videofilme produziert. Diese werden projiziert, ohne auf die geschichtliche Last des Hauses einzugehen. Im zentralen Raum sieht sich der Besucher einem linken Frauenauge gegenüber. Um ein vielfaches vergrößert, rollt die Pupille langsam hin und her. Die grobe Rasterung der schwarzweiß Projektion, die reduzierte Geschwindigkeit und das Bewußtsein über ein schamloses Gesehenwerden, lösen Unbehagen aus. Big Brother is watching you.

Im Nebenraum setzt sich das Unbehagen fort. Man tritt mitten hinein in das klinische Interieur eines spacigen Schlafsaals. Personen hängen in aufblasbaren Plastikschlafsäcken unter der Decke und träumen. Andere schlafen zugedeckt auf Pritschen und wälzen sich, wachen auf und gehen. Neue Schlafanwärter treten auf: Ein kommunikationsloses Kommen und Gehen in eisblauen Farben. Das künstliche Ambiente sowie die synthetischen Materialien des Films haben etwas von einem Sonnenstudio. Der Biennale-Besucher wird zum Voyeur jener intimen Domäne, die bislang von der Öffentlichkeit verschont geblieben ist. Zum Ausgleich hat Trockel im angrenzenden Raum Liegen aufstellen lassen. Wer sich hier ausruht, nimmt automatisch Objektcharakter an. Das dritte Video hat Kindern beim Spielen zugeschaut. An einem tristen Tag düsen sie mit selbstgebastelten Autos auf einem dafür abgesteckten Feld herum. Eltern und Freunde stehen gelangweilt oder ins Gespräch vertieft am Rand und sehen dem Nachwuchs bei seinen Vergnügungen zu. Ein Tag, wie er sich in jeder deutschen Vorstadt seit Beginn der 70er Jahre hätte abspielen können. Trockel hat unsere Zeit beobachtet: im deutschen Pavillon provoziert sie eine Atmosphäre zwischen hier und jetzt und irgendwann.

Video, Fotografie und Installation, das sind die Gattungen, in denen sich die Kunst auf der letzten Leistungsschau in diesem Jahrhundert präsentiert. Plastiken gibt es nur wenige, Malerei so gut wie keine, und von den Neuen Medien will man hier nur wenig Notiz nehmen. So bleibt alles wie gehabt: die Kunst, genauso wie ihre Repräsentation und ihre Rezeption durch den Besucher. Ach, gute alte Zeit! Vier Monate lang, so lang wie noch nie zuvor, hat der Venedig-Reisende zur Besichtigung nun Gelegenheit. Dabei braucht er gutes Schuhwerk, denn die Strecken brückauf, brückab zwischen Giardini, Arsenale und den alternativen Standorten sind weit.

Insgesamt vertreten 59 Nationen 150 Künstler mit oft mehr als nur einer Arbeit. Harald Szeemann, der Chef-Kurator der 48. Biennale, war mit großen Vorsätzen nach Venedig gereist. Mit Elan wollte er dem Muff der ältesten und immer noch bedeutendsten internationalen Kunstveranstaltung entgegentreten. Szeemann hat ordentlich gelüftet. Jedenfalls für die Zeit, die er sich dafür genommen hat. Innerhalb von nur einem halben Jahr überführte er das staatliche Unternehmen Biennale in eine private Stiftung und gewann weitere Räume für die Kunst auf dem Arsenale-Gelände. Das bislang verpflichtende Generalthema schaffte er ab. Außerdem hob er die Altersbeschränkung bei den partizipierenden Künstlern auf und engagierte sich für Künstlerinnen und die Kunst der Asiaten. »dAPERTtutto: Aperto überall«, so Szeemanns Motto für die 48. Biennale. Obwohl Szeemann den italienischen Pavillon zur internationalen Zone erklärte - und dafür viel Protest einsteckte - ändert das nichts an der Biennale-Tradition, die im Zeichen des nationalen Wettbewerbs fest verwurzelt ist.

So anachronistisch das in der heutigen Zeit auch sein mag - zu vergleichen etwa mit dem Explizit-Machen von Kunst, die Frauen produziert haben. Auch hier läuft man schnell Gefahr, in die längst veralteten Gender-Debatten der 80er Jahre zurückzufallen, die das Weibliche in der Kunst zu filtrieren suchten und sich damit in eine so exponierte Stellung manövrierten, die sie mehr isolierte als integrierte - so wenig läßt sich dieser Wesenszug aus der »Mutter«-Biennale herausnehmen. Die nationale Anbindung wird schon aus rein pragmatischen Gründen weiter fortbestehen, schließlich sind die meisten Länderpavillons fest verortete Häuser. Die wesentlich brisantere Frage, die hier zu stellen ist, lautet: wie geht man mit der nationalen Anbindung im globalen und postkolonialistischen Zeitalter eines vereinten Europas mit der nationalen Ausrichtung um.

Szeemann machte den Schritt nach vorne und konterkarierte seine Inszenierung mit einer Nationen übergreifenden Ausstellung, in der sowohl die Nationalität als auch das Geschlecht des Künstlers nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Woraufhin sich die Italiener vehement empörten. Erst der »Goldene Löwe« für die fünf jungen Landesfarben, Monica Bonvicini, Bruna Esposito, Luisa Lambri, Paola Pivi und Grazia Toderi stimmte sie versöhnlich. Schließlich auch der Preis für Szeemanns Einrichtung des Padiglione. Und trotzdem: Dieser bierernste Kampf um nationale Anerkennung läßt das Niveau der Biennale nur noch eine Hand breit von der Fußballweltmeisterschaft entfernt sein. Offenbar ist das Nachdenken über die Stellung des Nationalen im Kontext der Kunst alles andere als überholt.

Natürlich gab es auch andere Tendenzen. Die Dänen beispielsweise haben eine Kollaboration von Peter Bonde mit Jason Rhoades in Auftrag gegeben, die in »The Snowball« mündete, einer wahnwitzigen Installation rund um das Autorennen. Die Franzosen luden zusammen mit Jean-Pierre Bertrand, der ebenso wie Ulf Rollof im »Campo di Tana« die Ästhetik der Zitrone pries, den Chinesen Huang Youg Ping ein, der die Argonauten auf massiven Holzstämmen treppenförmig über den Pavillon marschieren ließ. Und auch im skandinavischen Stammhaus klappte die Zusammenarbeit. Knut Asdam baute in Anlehnung an die Pavillons von Dan Graham einen Vortragsraum für das Video von Eija-Liisa Ahtila, das Beziehungskonflikte im Diesseits und Jenseits zum Thema gewählt hatte. Und nicht zu vergessen die koreanische Künstlerin Kim Soo-Ja, die über einen Zeitraum von zwei Jahren mit einem Pick up-Truck voll mit bunten Stoffballen beladen, durch weite Teile Asiens reiste. Die Stoffe, die Menschen sowohl als Gegenstände und Räume kleiden, dienten ihr immer wieder als Kommunikationselemente in diversen Aktionen, die sie während ihrer Fahrt arrangierte. Schließlich fuhr sie nach Europa, wo der Lastwagen bereits in Wien bei »Cities on the Move« und bei der Ausstellung »Echolot« in Kassel Station machte.

Szeemann hat bei seiner Auswahl immerhin Geschmack bewiesen. Zu den déjà-vus kombinierte er etwa ein Drittel asiatischer Kunst, wovon die Chinesen am dichtesten vertreten waren. Szeemann will darin eine »Öffnung und einen Wandel« der westlichen Kunst verstehen. Nur blieb er die Antwort schuldig, worin diese Innovation besteht. Die Exponate aus Fernost erzählten davon nur selten etwas. Die meisten Werke biedern sich westlichen Positionen von vor 20 Jahren an.

In einer Szeemann-Ausstellung darf das Gedenken nicht fehlen. Diesmal wird den vor kurzem verstorbenen Künstlern Martin Kippenberger, Dieter Roth, Gino De Dominicis, Mario Schifano und James Lee Byars je ein Hommage gezimmert. Pippilotti Rist enttäuschte mit ihrem »Vorstadthirn« und William Kentridge setzte seine Geschichte vom traurigen Machthaber in Südafrika fort. Nur der »Rattenkönig« von Katharina Fritsch vermochte den Touristeneifer wieder zu befriedigen: Kaum ein Besucher verzichtete darauf, sein Konterfei neben einer der knapp drei Meter hohen Viecher ablichten zu lassen. Von was für schönen Ferien, werden die Fotoalben später erzählen! Die 48. Biennale hat einen großen Hang zum Theatralischen. Simone Decker, die Vertreterin aus Luxemburg, hat sich an ihre Kindheit erinnert und daran, wieviel Spaß sie am Kaugummi kauen hatte. Diesen Spaß ließ sie in Venedig im wahrsten Sinne des Wortes wieder aufgehen. Decker klebte Kaugummiblasen von riesigem Ausmaß in die engen Gassen und Nischen der Lagunenstadt. Anschließend fotographierte sie ihre farbenfrohen Arrangements. Ann Veronica Janssens hat im belgischen Pavillon mit Nebelfeldern experimentiert. In diffuses Licht gehüllt, bahnt sich der Besucher an Fotografien vorbei, nimmt eine Börsentafel wahr oder ein Euter aus Wasserkissen.

Was soll die Kunst am Ende dieses Jahrhunderts, dieses Jahrtausends, wenn man den Bogen theatralisch weiterspannt? Wo liegen Ihre Aufgaben und welche Funktion übernimmt sie in einer zunehmend von der Wirtschaft geführten Gesellschaft? Viele Fragen, die offen bleiben. Darauf kennt auch die umgekippte Amphore keine Antwort, die im Eingangsbereich an exponierter Stelle der internationalen Zone liegt. James Lee Byars nannte den monströsen Goldkelch aus dem Jahre 1986 »The spinning oracle of Delphi«. Allerdings ist Venedig nicht der Nabel der Welt und Szeemann und seine Kuratorenkollegen sind keine Priesterinnen. Und dem umgestürzten Kelch entweicht schon lange kein zur Prophetie tauglicher Nebel. Für Antworten muß Apollon erst einmal wieder jemandem in den Mund spucken, so jedenfalls läßt Christa Wolf ihre Kassandra sprechen. Aber das kann dauern. In der Zwischenzeit werden wir weiter von einem Event zum nächsten reisen, in einer zunehmend hermetisch werdenderen Kunstwelt.

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