Es ist nicht leicht, von einer Welt in eine andere zu gehen. Wer diese Erfahrung unfreiwillig macht, kann dabei auf der Strecke bleiben. Das Neue kann das Vertraute nur schwer ersetzen. Der Verlust des Gewohnten hinterläßt einen tiefen Riß. Exilierte von Dante bis Monìkovà haben Zeugnis darüber abgelegt.
Aber nicht nur der Sturm bewegt zum Aufbruch. Auch in gemäßigteren Zeiten kann es zu einschneidenden Veränderungen der Lebensumstände kommen. Nina, Tochter von Autonomen der Post-68er-Ära, muß als Teenager Deutschland verlassen, weil es für die kleine Familie dort keinen Platz mehr gibt. Bei einer Demonstration werden die Eltern, eine linke Journalistin und ein für den Staatsdienst ungeeigneter Lehrer, verhaftet. Sie komm
. Sie kommen davon, ihre Tochter dagegen nicht: Sie wird von einem Staatshüter vergewaltigt. Auch ihr Schweigen über die Mißhandlung kann die verfahrene Situation ihrer Familie nicht mehr retten. Es gibt keine Alternative, es bleibt nur der Weg ins Exil.Eine Insel vor dem spanischen Festland ist das Ziel. Man wählt die Enge, obwohl man die eindeutige Freiheit sucht. Das begrenzte Fleckchen Erde wird die Sehnsucht nach Geborgenheit und Ruhe schon einlösen. Die Eltern ziehen in ein Steinhaus inmitten eines kleinen Dorfes. Dort bewegen sie sich unter den Einheimischen, immer auf der Hut, möglichst nicht aufzufallen. Nina geht in die Stadt und versucht sich in mehreren Jobs. Als sie von ihrem Arbeitgeber die kleine Nähstube erbt, scheint endlich wieder alles im Lot. Das Erbe soll die Schwierigkeiten aus der Heimat absorbieren.Der Roman ergeht sich in sämtlichen Klischees über die autonome Szene: die Eltern Corinna und Andreas lassen sich von ihrem politischen Sendungsbewußtsein leiten und essen dementsprechend als Veganer. (Und das lange bevor pc zum gesellschaftlichen Ton avancierte!) Die Tochter ist ängstlich und scheu und kann vor allem eines nicht: zu einer selbst gefaßten Meinung stehen. Abends liegt sie auf dem Dachboden des besetzten Hauses und fürchtet sich in der Dunkelheit vor den dumpfen Bässen der Partymusik.Der Ton ist aggressiv-lakonisch, an manchen Stellen scharf. Die zahlreich verwandten Sprachbilder halten dem Geschilderten selten stand. So entsteht eine ungewollte Larmoyanz im Stil, der man als Leser nur mühsam folgt.Im Taumel zwischen »damals dort« und »heute hier« entspannt sich ein Lebensbericht. Das Abwägen der zeitlichen Relation wird auf alles andere übertragen; auf den Umgang mit Stereotypen, genauso wie auf die Gliederung der Erzählung oder den Rhythmus der Sprache. Der Riß wird allmählich tiefer, spürbar auf der Haut, in den Fugen der Häuser, in den Gedanken, den Erinnerungen. Schließlich wird er zum »wildroten Riß«, der die anhaltenden Schmerzen nach Ninas Autounfall zu benennen versucht. Es ist diese Opferrolle, in die sich die Protagonistin selber zwängt, die den Leser beizeiten wütend werden läßt. Mit dem Autounfall aber fällt ihre Schwindel erregende Aktivität ins Gegenteil. Der Roman erzählt unzählige Geschichten. In bedeutungsschwangeren Bildern werden die Psychogramme von Ninas jeweiliger Situation angerissen. Die Bilder verlieren sich aber schnell in der Weite der Landschaft. Die immer wieder anders verfahrenen Situationen der Protagonistin klingen im Leser nicht nach. Sie vermehren sich höchstens, überhäufen den Leser und werden deshalb schnell lästig, bisweilen sogar langweilig.Weit von hier ist unter anderem auch eine moderne Version von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. Nach ihrem Unfall ist Nina ein nach neuesten Erkenntnissen zusammengeflicktes Bündel wie Olympia. Sie ist wieder jung, schön und ebenmäßig. Aber jede Bewegung, jede Berührung tut ihr weh. Die romantische Erzählung zwischen Fortschrittswahn und Entindividualisierung hat ihren Reiz bis heute offenbar nicht verloren. Nur ist es hier nicht Spalanzani, der irre Physiker, sondern Marc, ein kranker Liebhaber, der sich mit der »neuen« Nina seinen Traum von permanentem Glück schaffen will.Weit von hier bewegt sich zwischen den Ebenen eines persönlichen Resümees und der Fiktion. Der Roman versucht eine gesellschaftskritische Bilanz der jüngsten Zeit. Thema ist der Generationskonflikt zwischen den 68er Eltern und ihren Kindern. Es wird abgerechnet, ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Diese Passagen, sehr authentisch geschildert, sind die stärksten im Roman. Weit von hier ist ein Roman, der das Gute will, und daran scheitern muß.Susanna Grann: Weit von hier. Pendo Verlag, Zürich 1999, 174 Seiten, 32,- DM