Zur Qualität psychiatrischer Gutachten

Arbeitsunfähigkeit Sind eine Etikettierung und Stigmatisierung mit – oft falschen – psychiatrischen Diagnosen tatsächlich notwendig, um die Arbeitsfähigkeit einer Person beurteilen zu können?

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Ein großer Teil psychiatrischer Gutachten kommt in sozialrechtlichen Fragestellungen zum Einsatz, bei welchen es um die Beurteilung von Arbeitsfähigkeit und Krankheiten geht. Die Gutachtenergebnisse sind dann ausschlaggebend für die Zu- oder Aberkennung von Kranken-, Rehabilitations- und Pensionszahlungen. Gutachten sind grundsätzlich zu befürworten, auch um Sozialversicherungsmissbrauch auszuschließen. In der folgenden Recherche wurden Informationen, vorwiegend aus österreichischer Sicht, zusammengetragen. Viele Erfahrungsberichte in unterschiedlichen Online-Selbsthilfeforen des gesamten deutschsprachigen Raums bestätigen, dass Verbesserungsbedarf bei der Erstellung psychiatrischer Gutachten besteht.

Zur flüssigeren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Schreibweisen verzichtet. Der Gebrauch des generischen Maskulinums schließt beide Geschlechter gleichwertig ein.

Sozialversicherungsmissbrauch – Zahlen

In Österreich wurde 2018 eine Taskforce im Zusammenhang mit Sozialleistungsbetrug ins Leben gerufen. Das österreichische Bundeskriminalamt berichtete für das Jahr 2021 von 4.300 Anzeigen. Die Formen des Sozialleistungsbetrugs werden grob in sieben Kategorien unterteilt, von denen der Missbrauch von Pensionsleistungen und das Erschleichen von Sozialleistungen nur einen Teil davon darstellen. Dieser Anzahl an Strafdaten standen knapp über 48.000 Anträge für eine Berufs- und Invaliditätspension, sowie 182.589 Erst- und Erhöhungsanträge von Pflegegeldern gegenüber („Statistische Daten der PVA, Berichtsjahr 2021“). Setzt man diese hohe Anzahl an Anträgen in Relation zu den durch die Taskforce ermittelten Strafdaten, darf man daraus schließen, dass die wenigsten Menschen einen Sozialversicherungsbetrug anstreben.

Die ärztliche Haltung gegenüber den zu begutachtenden Personen

Eine ärztliche Begutachtung im Rahmen der Versicherung ist für Patienten immer eine belastende Erfahrung, die oft von Angst und Stress begleitet ist. Immerhin geht es um finanzielle Absicherungen. Als Patient sollte man sich auf eine menschenwürdige und respektvolle Haltung des Gutachters verlassen dürfen, ebenso wie man eine wissenschaftliche Herangehensweise an eine Gutachtenerstellung erwartet. Diese ist gesetzlich festgelegt. „Ein ärztliches Gutachten ist eine wissenschaftlich fundierte Schlussfolgerung, die eine Ärztin/ein Arzt über den Gesundheitszustand oder funktionelle Einschränkungen einer Person oder andere medizinische Umstände erstellt.“(Entnommen aus dem öffentlichen Gesundheitsportal Österreichs, Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz.) Eine wissenschaftliche Herangehensweise schließt Sachlichkeit, Objektivität und Neutralität ein. Subjektive Meinungen und Urteile sowie ein ungestümer und emotionaler Kommunikationsstil vonseiten des Gutachters haben dementsprechend in einem wissenschaftlichen Kontext keinen Platz.

Die Realität sieht anders aus. 2019 berichtete die AK über gravierende Missstände bei Begutachtungen. Sie veröffentlichte ihre Ergebnisse einer Mitgliederumfrage. Die AK schrieb dazu: „Die größten Probleme verursachen Ärzte/-innen, die respektlos und desinteressiert sind und den Betroffenen kaum Gelegenheit geben, ihre gesundheitlichen Probleme zu schildern. Einige wirken auf die Betroffenen massiv einschüchternd, unfreundlich und herablassend – vor allem im psychiatrischen Fachbereich. Andere ignorieren vorgelegte (aktuelle) Befunde. In 80 Prozent der PVA-Verfahren ist die Krankengeschichte der Antragsteller/-innen nicht bekannt. Das liegt auch daran, dass sich die Gutachter/-innen viel zu wenig Zeit nehmen: Bei der PVA werden mehr als ein Drittel der Antragsteller/-innen maximal 15 Minuten untersucht. Die gerichtlichen Begutachtungen dauern wenigstens bei der Hälfte der Fälle zwischen 30 und 60 Minuten.“ AK-Präsident Dr. Johann Kalliauer: „Jeder Mensch hat einen wertschätzenden Umgang verdient. Von Sachverständigen können professionelle, höfliche Kommunikationsformen und ein verständnisvoller sowie unvoreingenommener Umgang mit den antragstellenden Menschen erwartet werden.“ und: „Die Ergebnisse der Befragung bestätigen, dass hier Missstände vorliegen und beseitigt werden müssen.“

Der österreichische Verein „ChronischKrank“ , der sich für die Rechte kranker Menschen einsetzt, berichtet 2016 von Schikanen und einer miserablen Qualität der Gutachter der PVA. Daraus: „Psychiater erheben den Anspruch „wissenschaftlich“ zu sein – doch eine Wissenschaft stellt eindeutige Parameter nach denen man valide Entscheidungen treffen kann. Die Erfahrung mit psychiatrischen Gutachten im In- und Ausland, Vergangenheit und Gegenwart beweist das Gegenteil.“

Der ORF schreibt 2017: „Psychiatrische Gutachten in der Kritik“: „Da gibt es Fälle von Begutachtungen, denen man auch als Laie ansehen kann, dass sie keinen wissenschaftlich hohen Wert haben bzw. überhaupt wertlos sind. Da kommt nun auch häufig dazu, dass sich Richterinnen und Richter darauf verlassen und nicht näher nachfragen.“

Da, wie oben ausgeführt, der Sozialleistungsbetrug nicht das vorrangige Motiv für einen längeren Krankenstand darstellt, denn dann wären viel mehr Verdachtsfälle in der Taskforce gemeldet, ist es umso unverständlicher, wieso es so häufig zu respektlosen, herablassenden oder sogar schikanösen Haltungen seitens der Gutachter gegenüber den zu begutachtenden Personen kommt.

Leitlinien fordern eine neutrale und wertschätzende Haltung

In den Leitlinien der online abrufbaren Gutachterfibel 2012 der Pensionsversicherungsanstalt Österreich (PVA), welche „als Arbeitsbehelf für die angestellten und freiberuflich tätigen Gutachter der Pensionsversicherungsanstalt zusammengestellt“ wurde, geht es zwar speziell um die ärztliche/pflegerische Begutachtung hinsichtlich eines eventuell zu genehmigenden Pflegegeldes; man darf aber annehmen, dass die Standards ärztlicher Begutachtung für alle ärztlichen Begutachtungssituationen der PVA mindestens ebenso hoch angesetzt sind.

In besagter Gutachterfibel wird zu Beginn darauf hingewiesen, dass das Gutachten dem Kriterium der Wissenschaftlichkeit genügen muss: „Ihr Gutachten stellt eine wesentliche Grundlage zur Entscheidung der PVA über die Gewährung des Pflegegeldes dar und muss daher dem Kriterium der Wissenschaftlichkeit genügen. Das heißt, das Gutachten muss auf Fakten gestützt sein, darf nicht auf Mutmaßungen oder Meinungen beruhen und muss in den Schlussfolgerungen nachvollziehbar sein." Etwas weiter unten im Text (s.S.80) werden konkrete „häufige Fehler im Gutachten“ aufgelistet:

Häufige Fehler im Gutachten/in der Begutachtungssituation

- Mangelhafte Anamneseerhebung,
- Keine klare Trennung zwischen Aktenlage, eigenen Angaben des
Antragstellers und Außenanamnese,
- Nichtberücksichtigung vorhandener Unterlagen,
- Einseitige Materialauswahl durch den Gutachter,
- Unvollständiger Untersuchungsbefund,
- Neigung, sich bei der Verhaltensbeobachtung durch
eine zentrale Eigenschafts-Dimension des Antragstellers in der Eindrucksbildung leiten zu
lassen bzw. beim Antragsteller Eigenschaften zu erkennen, die man sich
selbst abspricht (Kontrastfehler) oder zuschreibt (Ähnlichkeitsfehler),
- Verwendung von nicht aussagekräftigen Formulierungen im
Untersuchungsbefund wie: „etwas“, „einigermaßen“, „eher“, „fraglich“,„ausreichend,“
- Fehlende oder nicht nachvollziehbare Quantifizierung des Schweregrads
einer Erkrankung/Funktionseinschränkung bei der Diagnosestellung,
- Beurteilung auf Grund von Vermutungen und Annahmen ohne sachliche Begründung,
- Urteilsverzerrungen durch die Neigung, potenziell mehrdeutige Informationen
so zu interpretieren, dass eigene Vorannahmen bestätigt werden,
- Wertende Formulierungen,
- Widersprüchlichkeit,
- Fehlende Schlüssigkeit und/oder Nachvollziehbarkeit,
- Nichtberücksichtigung von Übertragungs-/Gegenübertragungsphänomenen,
- Unterschätzung sozialer und situativer Einflussfaktoren,
- Erstellung des Gutachtens trotz gravierender sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten

Auch in den Leitlinien der deutschen Rentenversicherungen wird deutlich auf die Haltung der Gutachter gegenüber den zu begutachtenden Personen eingegangen, es wird explizit die gutachterliche Beziehungsgestaltung angesprochen und auf die Vermeidung von Interaktionsfehlern hingewiesen. Der Gutachter selbst wird in die Pflicht genommen, da er Teil der Interaktion mit dem Patienten ist und die Kommunikation dementsprechend mitgestaltet. Daraus: „Ablehnende und unfreundliche Haltung können den zu Begutachtenden zu Verdeutlichungstendenzen verleiten, die dann fälschlich als Aggravation oder Simulation gedeutet werden. Eigenes Krankheitserleben, weltanschauliche Überzeugungen und Tagesform des Gutachters können leicht zu Fehlbeurteilungen führen und müssen daher reflektiert und in ihrem Einfluss so weit wie möglich eingeschränkt werden."

Selbst die Schweizer Leitlinien „Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten“ setzen die Reflexion des Gutachters bezüglich des eigenen Handelns und der Berücksichtigung der emotionalen Wechselwirkung zwischen Explorand und Gutachter voraus, ebenso wie die Fähigkeit des Gutachters, sein eigenes Abwehrverhalten und Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene erkennen und professionell reflektieren zu können. „In der Exploration aufgetretene, vom Gutachter beobachtete Wechselwirkungen sollen ebenfalls an dieser Stelle beschrieben werden. Jede Begutachtung stellt einen Eingriff in das Krankheitsgeschehen dar und soll vom Gutachter – gegebenenfalls auch selbstkritisch – reflektiert werden. Beschreibungen von Wechselwirkungen solcher Art sind ein Qualitätskriterium eines Gutachtens. Solche Beschreibungen haben subjektiven Charakter; sie sind massgeblich von der Beziehungsgestaltung abhängig. Die eigene Reflexion von Abwehr, Übertragungs- und Gegenübertragungsaspekten sowie eine - wertfreie - Beschreibung der Phänomenologie sind hilfreich.“

Klare Anweisungen bezüglich einer neutralen, wertschätzenden und umsichtigen Haltung gegenüber den erkrankten Personen sind also durchaus im gesamten deutschsprachigen Raum in diversen Leitlinien festgeschrieben und müssen als Basis für ein wissenschaftliches Gutachten vorausgesetzt werden.

Erklärungsansätze hinsichtlich der oft abwertenden Haltung vieler Gutachter

Es stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass Gutachter oft respektlos mit Patienten umgehen. Das Argument, der Großteil der Patienten wären Sozialschmarotzer, darf stark bezweifelt werden, siehe die Ausführungen eingangs. Die Pensions- bzw. Rentenversicherungen im deutschsprachigen Raum weisen ihre Gutachter in ihren Leitlinien auf psychologische Mechanismen wie Abwehr und Gegenübertragungsphänomene hin, die spezieller Reflexion bedürfen. Das nicht grundlos, denn man weiß aus der Betreuung chronisch und schwer Erkrankter, dass starke Gefühle wie Wut, Hilflosigkeit und Trauer auftreten können, die – werden sie nicht reflektiert – in erhöhter Reizbarkeit, Depression und sogar im Burnout enden können. Patienten, die nicht und nicht gesunden, können heftige Empfindungen auslösen. Reflexion und Psychohygiene sind also nicht nur für Berufsgruppen mit direktem therapeutischen oder pflegendem Kontakt sinnvoll, sondern auch für Gutachter, besonders wenn die Gutachtertätigkeit vorwiegend hauptberuflich ausgeübt wird und eine permanente Begegnung mit leidenden Menschen vorherrscht. Eine Abwehr, indem man sich schützend vor dem Leid verschließt, bedeutet den Verlust an Empathie und der eigenen Handlungsfähigkeit; das wiederum erschwert den Kontakt und das Verständnis für die individuelle Situation der Patienten. Ein innerlicher Rückzug würde sich auf die Qualität des Gutachtens auswirken. Der Gutachter errichtet womöglich eine Schutzfunktion zur Vermeidung einer möglichen sekundären Traumatisierung. Eigene überwältigende Gefühle sollen abgewehrt werden. Einer starken, möglicherweise schwer zu ertragenden Betroffenheit wird ausgewichen. Mitschwingen mit den Erzählungen des Patienten wird vermieden.

Dazu kommen schwere psychiatrische Störungsbilder, die auch erfahrene Psychotherapeuten vor Herausforderungen in der Handhabung ihrer heftigen Gegenübertragungsreaktionen stellen. Gemeint sind beispielsweise veränderte Interaktionen beim Vorliegen von Traumata – aus der Traumapsychopathologie gut bekannt.

Wie weit können innerhalb eines prall gefüllten Terminkalenders Empfindungen, Rollen und Muster reflektiert werden, die in der Begutachtungssituation zwischen Patient und Gutachter entstehen? Im Zeitdruck dürfte es jedenfalls schwierig sein, heftige Gefühlsregungen professionell verarbeiten zu können.

Die Reaktionen vieler Gutachter lassen nicht nur auf fehlende Kompetenz in ihren Interaktionsstilen, im Reflexionsvermögen und im Umgang mit ihren Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühlen schließen, sondern man ist darüber hinaus geneigt anzunehmen, dass das Problem schon eine Stufe davor beginnt, nämlich dort, wo es überhaupt zur Wahrnehmung von Gefühlsreaktionen kommt. Damit meine ich die abwehrende Haltung des „Nicht-sich-einlassen-Wollens“ und des "Zumachens".

Dazu aus einem Artikel der Schweizerischen Ärztezeitung der Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie zur Begutachtung psychischer Störungen(2004): „Hauptuntersuchungsmethode des Psychiaters ist das Gespräch. Es handelt sich dabei per definitionem um ein dialogisches Verfahren, dessen Ergebnis unweigerlich nicht nur vom Exploranden, sondern auch vom Gutachter bestimmt wird. Das Untersuchungsergebnis wird daher in jedem Fall durch eine Einflussnahme des Gutachters mitbestimmt. Die selbstkritische Reflexion des eigenen Denkens, Fühlens und Verhaltens ist ein zentrales Qualitätskriterium eines psychiatrischen Gutachtens.“

Qualitätssicherung

Stellen die Pensions- bzw. Rentenversicherungen ihren Gutachtern im Sinne einer Psychohygiene Supervision und Intervision zur Verfügung? Gibt es Teambesprechungen, in denen schwierige Fälle diskutiert werden können?

Aus einer österreichischen parlamentarischen Anfrage vom 16.8.2021 geht hervor, dass Gutachter nur ihre allgemeine, gesetzlich vorgeschriebene Fortbildungspflicht als Arzt erfüllen, sich aber nicht gemäß ihrer Tätigkeit als Gutachter weiterbilden müssen. Ist das ausreichend für eine berufliche Spezialisierung, die mit einem hohen Ausmaß an Macht und Verantwortung zu tun hat, wo Fehldiagnosen verheerende Folgen für die Betroffenen haben können (Zu- oder Aberkennung von Geldleistungen, die existenzsichernd sind)?

Generelles zur erschreckend unwissenschaftlichen Diagnostik der Psychiater

Der ICD-10, der verwendete Katalog der WHO zur Klassifikation von Krankheiten, listet alle Diagnosen auf, die auszuwählen sind und mit Kennziffern verschlüsselt werden. Je nach Ausgabe des ICD-10 findet man mehr oder weniger genaue Angaben zum Krankheitsbild. Insgesamt lässt der ICD-10 viel Interpretationsspielraum zu.

Liest man die Einteilung der Diagnosen in der deutschen Kurzfassung des ICD-10 durch, wie im österreichischen Sozialministerium zur Verfügung gestellt, dann geht aus dieser Auflistung nicht oder nur mangelhaft hervor,
a) mit welcher Anzahl von einzelnen (welchen?) Symptomen und
b) ab welcher Schwere der einzelnen Symptome eine krankheitswertige Störung überhaupt diagnostiziert werden kann.
c) Man findet darüber hinaus auch keinerlei Leitfaden zur Einschätzung, wie sich normale Befindlichkeitszustände (nicht krankheitswertigen Persönlichkeitszüge und Charaktereigenschaften) von aktuellen, akut krisenhaften oder schwer krankheitswertigen Zuständen abgrenzen lassen.
Ähnlichkeiten zu den hochwertigen, standardisierten psychologischen Testverfahren oder den standardisierten, evidenzbasierten Interviewbögen psychologischer Tests, die mitunter bis zu knapp 100 Fragen enthalten (manche Tests haben sogar noch mehr!), fehlen völlig. Es gibt keine Liste, auf der bestimmte Symptome angekreuzt werden könnten, deren Summe dann klar erkennen ließe, dass ein Krankheitsbild erfüllt wäre, auch fehlt eine Skala zur Einschätzung des Schweregrads der vorliegenden Symptome. Bei den diagnostischen psychologischen Tests erfolgt die Durchführung, Auswertung und Interpretation einem festgelegten Schema. Standardisierte Tests müssen wissenschaftlichen Kriterien standhalten. Meistens werden mehrere Stunden mit dem Patienten zur Durchführung eines solchen Tests veranschlagt. Dem psychiatrischen Gutachter stehen hingegen 10 – 20 Minuten zur Verfügung, um seine Diagnose zu stellen. Im Gespräch eingeschlossen ist die allgemeine Stammdatenerhebung.

In der psychiatrischen Diagnostik muss man also von einer sehr subjektiven, schwammigen und in vielen Fällen höchst intransparenten Einschätzung des Gutachters ausgehen. Die wissenschaftliche Aussagekraft einer völlig individuellen Einschätzung des Arztes ist dementsprechend fragwürdig und gering. Man hat es mit der persönlichen Meinung des jeweiligen Gutachters zu tun, mit seiner Hypothesenpräferenz, mit seinen Phantasien und Intuitionen, die in vielen Fällen wenig oder gar nicht reflektiert und überprüft werden.

Interessant ist in dem Zusammenhang die 2019 durchgeführte schweizerische Studie: „RELY-Studien zur Begutachtung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen“. Es wurden dort Personen jeweils von 4 Gutachtern begutachtet, danach die Ergebnisse verglichen und analysiert. Auffallend ist die enorme Bandbreite der Ergebnisse zwischen den Gutachtern bezüglich ein und derselben Person. Auch nachdem später den Gutachtern ein speziell entwickelter Fragebogen an die Hand gegeben wurde, und erneut Begutachtungen durchgeführt wurden, blieb das Ergebnis weit hinter den Erwartungen der Studienersteller zurück. Man fragt sich natürlich, welche Faktoren mitspielen, die für dermaßen unterschiedliche Begutachtungsergebnisse verantwortlich sind. Das wird wohl in zukünftigen Studien zu klären sein.

Ein Psychiater muss in der Lage sein, unterscheiden zu können, ob es sich um seine eigenen subjektiven Fantasien, Theorien und Hypothesen, ob es sich um mögliche noch gesunde Persönlichkeitszüge und Charaktereigenschaften einer Person oder um akute Reaktionen auf Krisen oder gar um schwere chronische Erkrankungen handelt. Er muss eine schwere psychische Störung von einer normal emotional beweglichen Psyche abgrenzen können. Für die meisten Störungen existiert ein Kontinuum unterschiedlicher Ausprägungen und Schweregrade. Ab wann sind alltagsübliche Emotionen und Stimmungen krankheitswertig? Nach welchen Kriterien geht der Psychiater vor? Warum fehlen dazu in den Gutachten transparente Erklärungen?

Erschwerend kommt dazu, dass im ICD-10 viele Symptome überlappend unterschiedlichen Krankheitsbildern zugeordnet werden können. Ein Psychiater muss also alle Krankheiten sehr gut kennen, um sich bei der Symptomzuschreibung zum richtigen Krankheitsbild nicht zu irren. Es ist unmöglich für einen Arzt, über alle Erkrankungen Bescheid zu wissen. Ich spreche hier das Feld der seltenen Erkrankungen an sowie Erkrankungen, die in der medizinischen Ausbildung vernachlässigt bzw. nur gestreift wurden. Ein Gutachter müsste in Fällen, bei denen er zu wenig Fachwissen mitbringt, die Begutachtung an eine spezialisierte Fachperson übergeben oder diese zumindest hinzuziehen, um eine seriöse Einschätzung einer Krankheit, die er kaum oder gar nicht kennt, vornehmen zu können. Das geschieht meines Wissens nach nicht ausreichend.

Gutachten werden häufig nach einem oft nur 10 bis 20 Minuten dauernden Gespräch mit der zu begutachtenden Person verfasst. Auch wenn man geneigt ist, alle vorherigen Argumente, die für eine sehr fragwürdige wissenschaftliche Diagnostik sprechen, für nicht bedeutsam halten zu wollen, kann wohl niemand behaupten, eine verlässliche Diagnosefindung wäre in derart kurzer Zeit möglich (Ausnahme Extremfälle).

Ist es nicht das Kernstück eines Gutachtens, schlüssig und nachvollziehbar zu erklären, wie explorierte Daten, Symptome, Beobachtungen und Aussagen des Patienten zwingend einer speziellen Krankheit zugeordnet werden? Kann die begutachtende Person auf Grundlage ihrer erhobenen Daten schlüssig erklären, dass diese ein bestimmtes Krankheitsbild erfüllen? Kann ein Gutachter darlegen, warum andere Krankheiten mit denselben Symptomen differenzialdiagnostisch ausgeschlossen wurden? Oder fehlen all diese Gedankengänge im Gutachten?

Beschreiben Gutachter zwar ausführlich ein Krankheitsbild, doch bestehen auffällige Lücken zwischen der beschriebenen Erkrankung und den konkret erhobenen Symptomen des Patienten? Soll das Erfinden, Verzerren, Überhöhen von Symptomen und das Pathologisieren normaler Befindlichkeiten dazu dienen, eine Krankheit zu konstruieren, die gar nicht vorliegt? Verlieren sich Gutachter in Zirkelschlüssen, die auf keinen konkret erhobenen Daten beruhen, sondern ein Krankheitsbild nur beschreiben, in das ein Sammelsurium von subjektiven Eindrücken, Hypothesen, Vorlieben für bestimmte Krankheitsbilder hineingelegt wird, um dieses anschließend wieder trügerisch zu bestätigen? Werden etwa sogar unreflektiert und unüberprüft einzelne Sätze des Patienten isoliert zu eigenständigen, schweren Krankheitsbildern aufgebläht?

Wie belegt also ein Gutachter seine Diagnosefindung? Damit ist nicht gemeint, dass dem Patienten vage ein Krankheitsbild zugeschrieben wird, welches dann als solches in allen Einzelheiten beschrieben wird, und dieses sich der Gutachter somit selbst bestätigt (Zirkelschluss), sondern damit ist eine logisch nachvollziehbare und transparente, stufenweise Erklärungskette gemeint, die in direktem Bezug zum Patienten steht, zu seinen Aussagen, zur Anamnese, zu der Symptomentwicklung etc. In nachvollziehbaren Schritten muss ausführt werden können, wieso hier eine bestimmte krankheitswertige Störung besteht; eine Ausschlussdiagnostik zu anderen Krankheiten mit denselben oder ähnlichen Symptomen sollte man erwarten dürfen.

Zusammenfassend kann man sagen: Die derzeitige psychiatrische Diagnostik verbleibt bei einer subjektiven Meinungseinschätzung. Es handelt sich um ein „Meinungsachten“, nicht um ein wissenschaftliches Gutachten. Den Begriff entlehne ich der umfassenden Internetpublikation von Rudolf Sponsel (https://www.sgipt.org/org/bbiogr/rs.htm). Sponsel beschreibt und analysiert sämtliche Gutachtenfehler, vorwiegend in forensisch psychiatrischen Gutachten.

Tendenzsignalisierung“

Liest man sich in die Dissertation von Benedikt Jordan (2016) „Begutachtungsmedizin in Deutschland am Beispiel Bayern. Eine Befragung unter 548 medizinischen und psychologischen Sachverständigen in Bayern 2013“ ein, staunt man über die Aussagen mancher Gutachter, die einen zusätzlichen Anhaltspunkt für das uninteressierte und respektlose Verhalten gegenüber den Patienten geben könnten. Beschrieben wird das Phänomen der „Tendenzsignalisierung“. Das bedeutet, der Gutachter erhält, noch bevor er überhaupt zu begutachten beginnt, eine subtile Orientierungsanweisung von seiner zuweisenden Autorität, die ihm eine gewisse Tendenz vorgibt, nach der sich das Gutachten auszurichten hat. Eine neutrale, unbefangene und vorurteilsfreie Begutachtung wäre dann von vornherein gar nicht mehr möglich. Das Gutachten wäre dann eine Inszenierung mit bereits festgelegtem Ausgang, hat nichts mehr mit einer objektiven Wahrheitsfindung zu tun und entbehrt jeglicher ethischen Verpflichtung dem Patienten und dem Beruf des Arztes gegenüber. Daraus: „Bei der Befragung gab nahezu jeder vierte gutachterlich tätige Sachverständige im medizinisch/psychologischen Bereich an, bei einem von einem Gericht in Auftrag gegebenen Gutachten schon einmal „in Einzelfällen“ oder „häufig“ (wenige Nennungen) bei einem Gutachtensauftrag eine Tendenz signalisiert bekommen zu haben. Unter humanmedizinischen Gutachtern gab dies knapp jeder Fünfte, unter psychologischen Gutachtern fast jeder Zweite an. Darüber hinaus teilten 33,6 Prozent mit, aus dem Kollegenkreis schon einmal davon gehört zu haben, dass „in Einzelfällen“ oder „häufig“ bei einem gerichtlichen Gutachtensauftrag eine Tendenz genannt wurde. Zudem zeigte sich, dass unter den Gutachtern, die bei gerichtlich in Auftrag gegebenen Gutachten „in Einzelfällen“ oder „häufig“ eine Tendenz signalisiert bekommen haben, durchschnittlich 40,7 Prozent angaben, mehr als 50 Prozent ihrer Einnahmen aus gutachterlichen Tätigkeiten zu beziehen.“

Wie unvoreingenommen und unbefangen sind also Ärzte, die Gutachten nach dem Wunsch ihrer Arbeitgeber gestalten müssen, von denen sie in vielen Fällen wirtschaftlich abhängig sind?

Seltene und wenig erforschte Krankheitsbilder

Eine zusätzliche, erhöhte Fehleranfälligkeit in den Gutachten ergibt sich bei seltenen Erkrankungen, die spezielles Fachwissen benötigen würden. Es ist menschlich, dass nicht jeder Gutachter alle Krankheiten kennen kann, allerdings sollte man von einer professionellen Handhabe bei fehlendem Fachwissen davon ausgehen dürfen, dass zu einem spezialisierten Kollegen zugewiesen wird, der mit der nötigen Fachkompetenz ausgestattet ist.

Gerade dem neuen Symptomkomplex Long Covid oder dem seit langem bekannten, aber in der Ärzteausbildung völlig vernachlässigten Krankheitsbild „Myalgische Enzephalomyelistis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS)", das die schwerste Form eines Long Covid darstellt, stehen viele psychiatrische Gutachter ablehnend oder ratlos gegenüber. Spezialisten sollten hinzugezogen werden, Kollegen anderer Fachrichtungen, dem aktuellen Forschungsstand entsprechend.

Das Leid, das mit falschen Diagnosen angerichtet wird

Psychiatrischen Gutachten mangelt es, wie beschrieben, an standardisierten Tests und es mangelt ihnen an einer Methodik, die objektiv und gesichert krankheitswertige Störungen von dem als gesund geltenden Verhalten abgrenzt. Es fehlen allgemein gültige Kriterien, die übereinstimmend erarbeitet und als verbindlich für eine psychiatrische Diagnostik festgelegt wurden. Zusätzlich zur Schwierigkeit, dass die Psychiatrie keine Testverfahren hat, kommen unergiebige Kriterien des ICD-10 zur Anwendung. Zu all dem mischen sich unbewusste und unreflektierte Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehnisse, Stimmungslagen des Gutachters, teils mangelhafte soziale Fähigkeiten hinsichtlich einer professionellen Interaktion mit den Patienten, Verpflichtungen gegenüber dem Auftraggeber und eine extrem kurze Begutachtungszeit.
Statt einer wissenschaftlichen Expertise handelt es sich um eine intuitive und frei fantasierte Abhandlung über eine zu begutachtenden Person. Gerade die Nachvollziehbarkeit und Objektivität (eine dritte Person muss durch transparente Nachvollziehbarkeit der Gedankengänge des begutachtenden Psychiaters zu demselben Schluss bzw. zu derselben Diagnose kommen) fehlen. Durch die zahlreichen Fehldiagnosen innerhalb der Begutachtungen kommt es oft tiefen Verletzungen und Beschädigungen der psychischen Integrität der Patienten. Leichtfertig werden falsche, schwere psychiatrische Störungen diagnostiziert, die verletzend und stigmatisierend sind. Sie sind mitunter bleibend im Leben eines Patienten und werden später mitgeschleppt zum Arbeitsamt oder in Einzelfällen sogar bis hin zum Arbeitgeber. Dazu kommen die unzähligen Fehlbehandlungen, die sich aus den falschen psychiatrischen Diagnosen ergeben. Da der Bezug von Sozialversicherungsleistungen an eine Mitwirkungspflicht gekoppelt ist, kann man sich den verordneten Behandlungsauflagen kaum entziehen. Zwangsbehandlungen können dann zu weiteren Verletzungen und Traumatisierungen beitragen.
Um bei dem Beispiel des erwähnten schweren Long Covid zu bleiben – Fehlbehandlungen wären hier zum einen Aktivierungsprogramme unterschiedlichen Ausmaßes, erzwungen durch Reha-Aufenthalte, und zum anderen Psychotherapien, die in der schweren Form eines Long Covid, nämlich eines ME/CFS, oft gar nicht möglich und daher kontraindiziert sind. Die pathognomonischen Symptome eines ME/CFS werden fälschlicherweise zu psychiatrischen Störungen umgedeutet und mit schweren Persönlichkeitsstörungen oder Somatisierungsstörungen etikettiert.

Ausblick

Wie ich versucht habe herauszuarbeiten, ist es unter oben beschriebenen Umständen kaum möglich, eine kompetente psychiatrische Diagnostik zu erstellen. Schon gar nicht, wenn diese in wenigen Minuten fertig zu sein hat. Leitlinien der Pensions- und Rentenversicherungen sind zu begrüßen, werden aber oft nicht eingehalten und zielen gar nicht in den Kern der psychiatrischen Diagnostik hinein, der es an wissenschaftlicher Methodik völlig fehlt.

Ist diese Art der Diagnostik, die so fehleranfällig und für viele Patienten verletzend und stigmatisierend ist, denn zeitgemäß? Gibt es aussagekräftigere und für beide Seiten gesündere Möglichkeiten, eine Arbeitsunfähigkeit zu überprüfen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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