Die kühle Optimistin

Birgitta Jónsdóttir Birgitta Jónsdóttir kämpft für Wikileaks und die Bürgerrechte im Internet. Nun hat sie die US-Regierung verklagt

Es ist kurz nach 21 Uhr, über Reykjavík liegt schon seit sechs Stunden die Nacht. Birgitta Jónsdóttir steht mit einer Feder im Haar und türkisglitzerndem Lack auf den Fingernägeln in ihrer hellbraunen Einbauküche und sinniert, in einem Topf rührend, über ihr Ableben. „Wenn mir jemand Schaden zufügen will, kann ich nicht viel dagegen tun“, sagt die 45-Jährige achselzuckend. „Ich bin eine durch und durch simple Person.“ Aber dann fängt sie an zu lachen. Den Kopf im Nacken, selbstironisch, laut und kehlig.

Seit 2009 sitzt die alleinerziehende Mutter dreier Kinder für die Splitterpartei „Die Bewegung“ im isländischen Parlament. Vor Kurzem hat sie die isländische Piratenpartei mitgegründet. International bekannt geworden ist sie vor allem durch ihre Mitarbeit bei Wikileaks. Sie half bei der Produktion des Collateral-Murder-Videos, in dem zu sehen ist, wie US-Soldaten von einem Hubschrauber aus auf irakische Zivilisten schießen. Inzwischen ist die Beziehung zu Assange abgekühlt, Jónsdóttir aber ist eine engagierte Vorkämpferin für Meinungsfreiheit und Privatsphäre geblieben.

Momentan streitet Jónsdóttir sich gerade in zwei verschiedenen Fällen mit der amerikanischen Regierung vor Gericht. Den ersten hat sie vorerst gewonnen. Den zweiten droht sie zu verlieren – und mit ihr alle Nutzer des Kurznachrichtendienstes Twitter, möglicherweise auch von Google, Skype und Facebook. Es geht um die Selbstbestimmung im Internet. Und das Recht, sich im Falle einer Festnahme verteidigen zu dürfen.

Ihre Daten gehören ihr

Siegreich war Jónsdóttir in erster Instanz bei der Klage gegen das aktuelle US-amerikanische Verteidigungsgesetz, den National Defense Authorization Act 2012 (NDAA). Das Gesetz erlaubt der US-Exekutive, Personen unbegrenzt festzuhalten, ohne ihnen Zugang zu einem Anwalt oder Gericht zu gewährleisten. Nach Ansicht Jónsdóttirs läuft nicht nur ein Terrorist, sondern auch jeder in- und ausländische Kritiker der USA Gefahr, unter den NDAA zu fallen.

Wegen ihres Engagements für die Veröffentlichung von Collateral Murder hatte das isländische Außenministerium ihr davon abgeraten, in die Vereinigten Staaten zu reisen. Jónsdóttir begriff dies als Herausforderung. Gemeinsam mit sieben Menschenrechtsaktivisten und Journalisten verklagte sie die US-Regierung. Im September bekamen die Kläger Recht. Die US-Regierung ging sofort in Berufung. Im Dezember soll das nächste Urteil fallen.

Im zweiten Fall geht es um die Privatsphäre im Internet. Im Januar 2011 unterrichtete Twitter Jónsdóttir und andere Wikileaks-Aktivisten, dass das US-amerikanische Justizministerium die Details ihrer Nutzerkonten angefordert habe, unter anderem das Passwort, Inhalt und Dauer der Chats, ihre Meldeadressen, registrierte Kreditkartennummern und IP-Adressen, kurz: alles.

Auch hier nahm Jónsdóttir zusammen mit den anderen Betroffenen den Kampf auf. Im November 2011 verloren sie den Fall. Twitter musste ihre Daten weiterreichen. Jónsdóttir gibt jedoch nicht so leicht auf. Sie hat erfahren, dass das amerikanische Justizministerium nicht nur von Twitter Daten angefordert hat, sondern mindestens noch von drei weiteren Unternehmen. „Es ist wahrscheinlich, dass dies Google, Facebook oder Skype sind“, sagt Jónsdóttir. „Und dass diese Unternehmen anders als Twitter ohne viel Widerstand meine Daten weitergeben haben.“ Sollte dies der Fall sein, müssten andere Nutzer gewarnt werden. Deshalb klagt sie nun auf Offenlegung der Gerichtsakten. Das Urteil wird in den nächsten Tagen erwartet. „Wir befinden uns im Info-Krieg“, sagt Jónsdóttir. Sie habe nicht vor, dabei nur zuzuschauen.

Internet verbessert die Offline-Welt

Die Isländerin begreift sich als Dichterin und Aktivistin. Sie beschwört den „Kampf um die letzte freie Welt“. Gemeint ist das von ihr so sehr geliebte Internet, das durch Zensur und Informationskontrolle der Regierung bedroht sei. Jeder müsse begreifen, dass Individuen die Welt verändern könnten. Allerdings nicht, wenn sie voneinander isoliert sind. Es gehe immer um „das gemeinsame Erschaffen unser Gesellschaft“. Dabei helfe das Netz: „Das Internet verbessert unsere Offline-Welt, weil es Ko-Kreation leicht macht“.

Mit Weltfremdheit haben diese blumigen Worte wenig zu tun. Vielmehr hat Jónsdóttir so viel von der Welt gesehen, dass ihr nichts übrig geblieben ist als ein stoischer Optimismus. Ihre Kindheit war geprägt von Einsamkeit, Umzügen und der Punkkultur. Mit 25 Jahren wollte Jónsdóttir spätestens tot sein. Als sie 20 Jahre alt war, brachte sich ihr Vater um. Der Verlust veränderte ihr Leben. Neun Monate sprach sie mit niemandem, schrieb Gedichte über Gespräche mit Geistern und malte Bilder von dunklen Tunneln und Vögeln, die aus dem Feuer steigen. Sie bezeichnet die Zeit als ihr „Tal der Schatten“. Die traumatische Erfahrung wiederholte sich mit ihrem Ehemann, der sich ebenfalls das Leben nahm.

Aus den Tragödien ging die praktizierende Buddhistin und Tibet-Aktivistin jedoch gestärkt hervor. In Angst zu leben habe sie sich abgewöhnt, sagt sie. Den Konflikt mit der amerikanischen Regierung wegen Wikileaks und dem NDAA begreift sie als Chance. So könne sie schließlich auf den zunehmend mangelhaften Schutz der Meinungsfreiheit aufmerksam machen. „Was ist die kleinste Machteinheit in der Welt?“, fragt Jónsdóttir und rührt in ihrem Topf. „Es ist Information.“ Sie beginnt erneut zu lachen. „Deshalb muss ich das Internet retten.“

Anna Loll ist freie Journalistin und schreibt unter anderem über Wirtschaft und Freiheitsrechte

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