An der Decke über der Treppe, die in den Keller führt, hängen zwei Vogelskulpturen, deren Schnäbel sind aus alten Gartenscheren. Pat Hinze hat sie gemacht. Eigentlich ist er Musiker, pat~bird ist sein Pseudonym. Von seinem kleinen Büro im Hochparterre eines Abrisshauses im Berliner Stadtteil Pankow guckt er durch grünes Blattwerk in den Hof von „Kunst-Stoffe“. Beim Zentrum für Upcycling ist er für die Lagerung der gespendeten Materialien zuständig.
Die Decken sind stuckverziert, an den Wänden platzt die Tapete ab. Er warte auf Studierende, sagt Hinze, Mitte 40, groß gewachsen. Sein mittellanges Haar trägt er zurückgekämmt und dazu einen schwarzen Kapuzenpullover. Die Studierenden haben Kunststoffplanen fü
nen für ein Uniprojekt reserviert. Die ausrangierten Werbebanner haben einen verhältnismäßig hohen Wiederverkaufswert. Es sei schwierig, Nachschub zu kriegen. Später werden sie oft zu Umhängetaschen oder Zelten umfunktioniert. Die Planen sind die „Überlebensversicherung“ des gemeinnützigen Vereins.Skulpturen aus SpeichenDas Prinzip Wiederverwertung kennt Pat Hinze noch aus seiner Kindheit. In der DDR gab es Altstoffannahmestellen (SERO), bei denen man Papier, Glas und Schrott für ein Taschengeld abgeben konnte. Hier verdient Hinze jetzt 100 Euro zum Arbeitslosengeld II dazu.Upcycling, das klingt im ersten Moment wie Recycling, und es ist ja auch eine Wiederverwertung von Müll: Parkskulpturen aus rostigen Fahrradspeichen, Designerlampenschirme aus alten Glühbirnen oder Haute Couture aus Stoffverschnitt. Man kann da sehr erfindungsreich sein: Anders als beim Recycling, auch Downcycling genannt, wird jedoch darauf geachtet, dass erneute Luft- und Wasserverschmutzungen vermieden werden. Und: Es findet eine Wertsteigerung statt. Statt nach der Aufbereitung von Plastikflaschen einen minderwertigen Kunststoff zu erhalten, werden diese in einen neuen Kontext gesetzt.Das venezianische Künstlerkollektiv S.a.L.E. Docks beispielsweise hat 2012 auf dem Markusplatz nach dem Venice Sherwood Festival aus den angesammelten Einwegflaschen eine 60 Kubikmeter große Iglu-Skulptur errichtet. Aus den stehengebliebenen Kunstwerken der Biennalen 2009 und 2011 bauten sie Möbel für Studenten. Ressourcenschonend leben, das wollen inzwischen viele. Der Widerstand gegen die Vereinheitlichung von Kleidern, Wohnungen, ganzen Städten wächst. Kreative entwickeln Alternativen, machen aus Altkleidersammlungen Boutiquen und aus Sperrmüll Kunst. Auch bei „Kunst-Stoffe“ können gebrauchte Materialien wie Hölzer, Plexiglasverschnitt oder angebrochene Farbeimer kostenlos abgegeben werden. Aus dem Fundus können sich für wenig Geld alle bedienen, von Künstlern bis zu Schulklassen. Man kann zudem in Werkstätten vor Ort lernen, die gebrauchten Sachen kreativ weiterzuverarbeiten – wenn möglich umweltbewusst. Sperrholzplatten, Glas, Karton, Farbe, Stoffreste, Wolle, alte Computertastaturen oder ein Reitsattel. Eine Zeit lang gab es hier sogar beschlagnahmte Spraydosen von der Polizei, die waren heiß begehrt. Die Workshop-Räume sind vollgestopft mit zurückgelassenen Kinderfantasien: Eine Miniversion von Berlin aus Bierdeckeln und Kronkorken, an Heizungsrohren hängen Drachen und Roboter aus Putzmittelflaschen und Frottee.„Müll“ an Kreative weiterzuvermitteln, das wird in den Vereinigten Staaten schon lange praktiziert. Und auch Corinna Vosse, die das Zentrum in Berlin 2006 gegründet hat, brachte das Konzept von dort mit: In New York steht das bekannteste ReUse-Center, das Materials for the Arts. Erfunden haben die Amerikaner Upcycling allerdings nicht – in Mangelgesellschaften ist die Wiederverwertung bis heute ein wichtiger Teil der Überlebensstrategie. Aber die Amerikaner sind die Ersten, die das Ganze professionalisiert haben. Die USA sind schließlich das Land der Müllweltmeister.Nirgends drängt sich das Abfallproblem so sehr auf. Dem New Yorker Zentrum geht es gut. Die Stadt gibt sich großzügig, wenn es um Kultur und Umwelt geht. Seit 35 Jahren wird das Materials for the Arts von den New Yorker Ministerien für Bildung und Abfallentsorgung unterstützt. Der städtische Fachbereich für Kultur ist der Betreiber. „Kunst-Stoffe“ Berlin ist vom Rat für Nachhaltige Entwicklung zwar gerade zum dritten Mal ausgezeichnet worden. Nur kann von Urkunden niemand leben.Kein fließendes WasserEnde 2012 ist die letzte Förderung der privaten Stiftung „anstiftung & ertomis“ ausgelaufen. Seither muss sich der Verein allein tragen und kämpft ums Überleben. Das Workshop-Repertoire ist auf eine einzelne Fortbildung geschrumpft. 650 Euro Warmmiete, das ist viel für ein Abrisshaus, das sonst leer stehen würde. Bei „Kunst-Stoffe“ gibt es kein fließendes Wasser, in großen Tonnen auf dem Hof wird das Regenwasser gesammelt. Drinnen fängt man es ebenfalls auf, das Dach ist an vielen Stellen undicht. Neben der Toilette steht ein Eimer – statt zu spülen, schüttet man mit einem Plastikbecher nach. Beim Händewaschen schaut man nervös auf den dafür bereitgestellten Kanister.Bis 2011 war „Kunst-Stoffe“ in Garagen im Hof untergebracht, das Gelände gehört der Stadt und wird von dem Liegenschaftsfonds Berlin verwaltet. Als ein Einkaufszentrum Interesse an einem Teil des Grundstücks hatte, wurden die Garagen abgerissen. „Kunst-Stoffe“ zog zur Zwischennutzung ins Vorderhaus und könnte jeden Moment rausfliegen, das Projekt unterliegt der normalen Kündigungsfrist von drei Monaten. Diese unsicheren Verhältnisse gehen an die Substanz, besonders wenn man sieht, dass es auch ganz anders funktionieren kann.In Hamburg hat im Mai ein ähnliches Projekt (die „Hanseatische Materialverwaltung“) eröffnet. Es bekam 170.000 Euro von der Stadt und den Zuschlag für eine Lagerhalle in der Hafen-City.