Es regnet nackte Männer

Boom Bislang spielte Virtual Reality in der Kunst keine große Rolle. Jetzt entdecken Kuratoren und Entwickler die technischen Möglichkeiten
Ausgabe 29/2017

Zwischen Berlin und Düsseldorf liegen 478 Kilometer Luftlinie. Die werden nun mir nichts, dir nichts mit einer Virtual-Reality-Brille vor den Augen und einem Controller in der Hand überwunden. Landepunkt ist das oberste Stockwerk des NRW-Forums Düsseldorf, das der Künstler Manuel Roßner originalgetreu nachgebaut hat. Die Pforten kann der 27-Jährige auch von seinem Atelier in Berlin-Schöneberg aus öffnen. Ein Blick nach oben, unten, eine Drehung um die eigene Achse: Ich bin vollständig von der virtuellen Welt umgeben. Okay, der Raum flimmert ein wenig, die Oberflächen wirken etwas glatt, trotzdem fühlt es sich erstaunlich echt an. Nur der eigene Körper fehlt. Aber vor mir schwebt ja der Controller. Mit dem kann ich nach Dingen greifen und mich von einer Stelle zur nächsten beamen, hat Roßner zuvor noch erklärt und mir den virtuellen Anbau von außen auf seinem Computerbildschirm gezeigt. Über dem Museumsgebäude schwebt eine silbern glänzende Seifenblase mit Ausbuchtungen. Darin befindet sich die Ausstellung Unreal.

Über eine Treppe geht es in die Seifenblase hinein. Dort liegen vier Kugeln. Sie sind die Eintrittsportale zu den einzelnen VR-Werken. Das Künstlerduo Banz & Bowinkel hat eine Dachterrasse nachgebaut, die nur im ersten Moment realistisch erscheint. Denn wie soll der Hunderte Jahre alte Baum hier hochgekommen sein? Eine Gruppe Läufer joggt auf mich zu. Soll ich ausweichen? Schon sind sie durch mich hindurchgerannt. An anderer Stelle explodiert eine riesige Skulptur, dann regnet es nackte Männer. Durch einen unterirdischen Gang gelange ich in einen Turm. Wände und Boden sind mit Leiterbahnen überzogen, die sonst in einer Festplatte zu finden sind. Der Turm steht für den Computer-Tower, der zugleich Herz und Hirn dieser künstlichen Welt ist. Als ich hinauffahre, habe ich das Gefühl, tatsächlich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Oben schwingt ein riesiges Pendel zwischen den Begriffen „true“ und „false“. Was ist stärker: Die Echtheit der gemachten Erfahrung oder das Wissen um ihre Künstlichkeit?

Drin in der neuen Welt

Menschen, die ein VR-Headset abnehmen, wirken orientierungslos. Sie blinzeln, schauen sich suchend um, so als ob sie sich vergewissern müssten, dass sie auch wirklich wieder zurück sind von ihrem surrealen Trip. In meinem Fall: zurück in Roßners Atelier, das in der Schöneberger Galerie Import Projects untergebracht ist und nichts mit einem Atelier im herkömmlichen Sinn zu tun hat. Hier gibt es keine beißenden Farbdämpfe und Leinwände, sondern eine cleane Atmosphäre, die an das Büro eines jungen Start-ups erinnert. In der Mitte des Altbauzimmers sitzen junge Männer über ihre Laptops gebeugt. Vor der Flügeltür baumelt die VR-Brille, genauer gesagt ein Head-Mounted Display, mit deren Hilfe ich eben noch in Düsseldorf war. Gleich daneben Roßners Arbeitsplatz.

Wenn Manuel Roßner von seiner Arbeit erzählt, spricht er leise und lächelt geheimnisvoll. Studiert hat er an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, zunächst schuf er Skulpturen, bis er vor ein paar Jahren auf Virtual-Reality-Art umstieg. „Mich haben die unbegrenzten Möglichkeiten der neuen Technologie gereizt“, erklärt er. Die Bedienung der komplizierten Softwareprogramme hat er sich selbst beigebracht. 3-D-Programme, die vor allem von der Film- und Computerspielbranche benutzt werden und unter seinen Händen Tastaturbefehl für Tastaturbefehl virtuelle Kunstwerke und Räume entstehen lassen.

In Roßners Atelier treffe ich auch Tina Sauerländer. Die 36-Jährige ist Kuratorin für digitale Kunst. Sie trägt ein Tattoo auf dem Unterarm, das an das Zepter der Mangafigur „Sailor Moon“ angelehnt ist, ihre Haare schimmern rosa. Auf die Frage, was sie unter VR-Kunst versteht und wie sich diese von anderen virtuellen Erfahrungen wie Spielen, Pornos oder touristischen Erlebnissen abgrenzen lässt, antwortet sie: „Jede Sparte hat ihren eigenen Anspruch. Im Gaming geht es darum, dass du bestimmte Level durchläufst, Punkte sammelst und einen Endgegner hast. VR-Künstler aber wollen unsere Welt politisch, soziologisch oder psychologisch reflektieren und eine Aussage über die Gesellschaft treffen.“ Dass VR-Kunst auf eine lange Historie zurückblicken, kann von der Erfindung der Zentralperspektive über Bildschirmkunst bis zum Eintauchen in einen virtuellen Raum, davon soll eine von ihr kuratierte Ausstellung ab September in der Galerie Priska Pasquer in Köln erzählen.

In Berlin-Mitte treffen wir einen weiteren Akteur der VR-Kunstszene. Philip Hausmeier trägt einen Vollbart und ist ein Typ mit Sinn für Netzwerke, Geschäftliches und Kunst, natürlich. „Ich komme aus dem Händematschen“, sagt er. Bevor der heute 37-Jährige sich vor vier Jahren entschied, VR-Kunst zu machen, war er zehn Jahre lang Installationskünstler. „Meine Arbeiten waren schon immer immersiv mit dunklen Räumen, Spiegelkabinetten.“ Als er die erste Oculus Rift, ein VR-Brillen-Modell, ausprobierte, wusste er, wo es für ihn künstlerisch hingeht. „Boom, und ich war drin in dieser neuen Welt, in der all die Experimente möglich sind.“

Wenn Hausmeier spricht, benutzt er Begriffe aus der Gründerszene: Inkubator, Kickstarter. Das kommt daher, dass er vor nicht allzu langer Zeit seine eigene Kunst zurückgestellt und ein Start-up gegründet hat. Es heißt Metaphysics und ist auf die Umsetzung fremder künstlerischer Ideen in virtuelle Werke spezialisiert. Er wolle seine Kollegen für Virtual Reality begeistern, sagt er und gibt in Kunstakademien und Galerien Workshops zum Umgang mit der Technik. Außerdem ist darüber die Gruppenausstellung Nausea entstanden, die im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe im Rahmen der Schau Hybrid Layers zu sehen ist. Nausea zeigt Arbeiten von sechs Künstlern, die vorher nie etwas mit virtueller Kunst zu tun hatten und deren Vorstellungen Hausmeier mit einem Programmierer umgesetzt hat.

Darunter ist auch ein VR-Werk des Briten Jack Strange. Tina Sauerländer setzt sich Hausmeiers VR-Brille auf und betritt die Arbeit. Schon befindet sie sich mitten unter comichaften Figuren, die Sisyphosarbeiten erledigen: Eine bewegt sich im Hamsterrad, eine andere drückt abwechselnd zwei Gesichter, die den Raum schwarz und wieder weiß werden lassen.

Mit seinem Start-up nahm Hausmeier an einem Förderprogramm im Silicon Valley teil. „Da muss ja immer alles toll und cool sein. Ich fand es interessant, mal eine verstörende Geschichte reinzubringen.“ So richtig gut kam das im kalifornischen Hightech-Eldorado nicht an. „Viele hatten absolut kein Verständnis für Kunst, wie wir sie verstehen.“ Für sie sei VR-Kunst dekorative, kitschige Computerspielkunst. Die Verbindung zwischen Wirtschaft und Kunst ist in der Szene indes nicht unüblich. Die Impulse der Kreativen sind bei Unternehmen gefragt. Ende der 1980er gründete die kanadische VR-Pionierin Char Davies die Firma Softimage, die 3-D-Animationssoftware entwickelte, und verkaufte diese gewinnbringend. Das Unternehmen wurde bekannt, als es später die virtuellen Dinosaurier von Jurassic Park erfand. Doch auch Künstler profitierten von Ingenieuren, Filme- und Spielemachern, sagt Hausmeier, weshalb er alle zwei Monate ein Meet-up für all jene organisiert, die sich mit virtueller Technologie beschäftigen.

Die Technik wird günstiger

Virtuelle Kunst spielte in der Kunstwelt lange Zeit eine eher kleine Rolle, erhält aber zunehmend mehr Aufmerksamkeit. „Die Institutionen, die sich seit jeher mit digitaler Kunst beschäftigen, sind an vorderster Front mit dabei. Aber auch andere große und kleine Häuser ziehen nach“, sagt die Kuratorin. Marina Abramovic, Jeff Koons und Olafur Eliasson wollen im Herbst eine VR-Plattform eröffnen. Der Hype liegt auch daran, dass die Computergrafik immer besser und die Technik immer günstiger wird. Längst schon gibt es für wenige Euros das Google Cardboard, mit dem man unter Zuhilfenahme eines Smartphones VR-Erlebnisse haben kann. Head-Mounted Displays, also VR-Brillen mit integrierten Bildschirmen, kosten seit Kurzem nicht mehr Tausende, sondern nur noch ein paar hundert Euro. Und wer VR-Kunst sehen will, muss nicht in ein Museum oder eine Galerie gehen. Im Internet gibt es viele kostenlose virtuelle Ausstellungen, in die man mit dem richtigen Equipment auch von zu Hause aus eintauchen kann.

In Hausmeiers Wohnzimmer steckt Tina Sauerländer auf einmal in Jack Stranges Sisyphosarbeit fest. Technik spinnt eben manchmal. Sauerländer versucht mit den Controllern in ihren Händen das Portal zu öffnen, das zurück in den Eingangsbereich führt. Ohne Erfolg. Zum Glück gibt es ja immer noch den weniger eleganten Weg zurück in die Realität. Man muss nur die VR-Brille abziehen und – Hallo Welt.

Info

Unreal NRW-Forum Düsseldorf, bis 30. Juli 2017

Hybrid Layers ZKM Karlsruhe, bis 7. Januar 2018

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