Kronleuchter verdunkeln sich. Gezeigt wird Brechts Parabel zum Kapitalismus: Der gute Mensch von Sezuan. Es ist der Auftakt des neuen Schauspieldirektors Tim Kramer am Theater Magdeburg. „Ich bin ganz gespannt, wie der Neue so ist“, flüstert eine ältere Dame in einer der vorderen Reihen. Drei Tage später hat Kramer vier Premieren hinter sich. „Das ganze Ding hat richtig gut funktioniert, muss ich sagen.“
„Der Neue“ empfängt in seinem Büro im obersten Stock, in direkter Nachbarschaft des Hasselbachplatzes, eine lange Allee entfernt vom Opernhaus. Er habe versucht, verschiedene Theaterästhetiken zu zeigen: theatraler Zugang, Performance, Theaterspaziergang. Tim Kramer wurde 1966 in Berlin geboren. Ein Wessi. Später ziehen seine Eltern mit ihm nach Hamburg, wo er mit Ballett anfängt. Bereits als Achtjähriger entschließt er sich, das schuleigene Internat der weltweit renommierten John Cranko Schule in Stuttgart zu besuchen, und wird angenommen. Kramer erzählt davon, als wäre so ein Karrieresprung direkt aus den Kinderschuhen das Normalste der Welt. „Natürlich hatte ich am Anfang Heimweh, aber es war einfach eine tolle Zeit.“ Er sieht aber auch die dunklen Seiten an dem Beruf und will dann doch kein Tänzer werden. Er hat seine Faszination für das Theater entdeckt.
Der andere Blick
Tim Kramer scheint seiner Zeit in Magdeburg positiv entgegenzublicken, trotz diverser Widrigkeiten: Momentan wird die Innenstadt durch langjährige Baustellenprojekte lahmgelegt. Für das Herzstück der Stadt, den Hasselbachplatz, wird ab 2020 ein „Nachtmanager“ eingesetzt (eigentlich war der schon für 2019 versprochen). Immer wieder kam es in dem Ausgehviertel nahe dem Schauspielhaus in den letzten Jahren zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Hat er nicht ein wenig Sorge wegen der politischen Situation? Die AfD hat im Land 24,2 Prozent der Stimmen gewonnen, forderte zuletzt sogar die Entlassung des Hallenser Opernintendanten. Es ist jetzt das erste Mal, dass Kramer aus der Routine fällt, sich fast ein bisschen in Rage redet über das „fehlende Selbstbewusstsein der Demokratie“, die ständigen politischen „Notstandsbekundungen“ und „hysterischen Reaktionen“ in Hinblick auf die AfD. In Österreich hat er den Rechtspopulismus jahrelang miterlebt, hier habe die Opposition aber auch wieder zugelegt, nach der Entzauberung. Außerdem: In Magdeburg treffe er auf Mitglieder einer „Zivilgesellschaft, die sich ihrer andauernden demokratischen positiven Entwicklung absolut bewusst sind und daran arbeiten, dass das weitergeht“. Der Schauspieldirektor will sich mit den gesellschaftlichen Problemen konstruktiv auseinandersetzen, er fragt: „Wovor habt ihr Angst?“ Womöglich vor einer Kulturpolitik, die Theater auf deutsche Texte deutscher Autoren verpflichten will? „Die Antwort ist, dass ich einen englischen Text aufführe.“
In seinem Leben nimmt Tim Kramer immer wieder verschiedene Rollen ein. Bis heute ist er Schauspieler, studiert hat er am Max Reinhardt Seminar in Wien. Vier Mal musste er vorsprechen. „Als Schauspieler geht man dorthin, wo sie einen nehmen. Und dann war das in dem Fall Wien. Für mich war das ein riesiges Glück, weil Wien durch und durch eine Theaterstadt ist.“ Es folgten Engagements als Regisseur und als Schauspieldirektor. Zuletzt leitete er zehn Jahre lang das Theater St. Gallen in der Schweiz. Seine Arbeit hier wurde in den höchsten Tönen gelobt. Er habe alles richtig gemacht und seine Sparte auf eine Höhe mit den traditionell starken Sparten, Oper und Musical, gebracht, schrieb die NZZ über seine Zeit im Haus.
Im Gegensatz zu den früheren Magdeburger Schauspielleitungen Wellemeyer, Jochymski und Crombholz stammt Kramer nicht aus der Region, er verbrachte Jahrzehnte in Österreich und der Schweiz. Kramer sieht darin einen Vorteil. „Es ist gut, dass wir Theaterleute von außen kommen. Das finde ich wichtig, weil wir einen anderen Blick haben.“
Von der Ostschweiz nach Ostdeutschland. Als letztes Jahr offiziell wurde, dass er die Direktion des Schauspielhauses übernehmen würde, betonte Kramer seine Freude über die Rückkehr in den „Kulturraum“, in dem er geboren wurde. Nimmt er unterschiedliche Kulturräume wahr? „Ja. Also ja und nein ... Es ist schon faszinierend, wie viele Dinge gleich sind, wie so eine Stadt dieser Größenordnung funktioniert.“ Kramer vergleicht die Situation mit Ein Volksfeind von Henrik Ibsen: „Da ist wirklich kein großer Unterschied, ob das Norwegen, die Schweiz oder Deutschland ist. Ich glaube, in Europa ähnelt sich einfach viel. Also es gibt den Bürgermeister, die linke Diaspora, die paar Aufsässigen und es gibt die Ewiggestrigen. Es ist schon vieles sehr gleich. Das ist schon fast enttäuschend.“ Überall das Gleiche also? Nein, anders seien ja immer schon mal die Sprache und die damit verbundene Art der Kommunikation. Um das zu veranschaulichen, verfällt er jetzt in den Wiener Dialekt: „Joa, das moach ma scho!“, das sei doch eine ganz andere Art des Sprechens als in Magdeburg und der Region. Eine wohltuende Direktheit sei das.
Neben der gefärbten Sprache gehört für Kramer auch der spezifische Humor jeweils zur regionalen Spezialität, im Stück sind das eine kokette Hausbesitzerin und ein taumelnder Kellner, zum Beispiel. Richtig Raum bekommen sie aber nicht, besonders die Idiomsache verliert sich in Spielereien. Das Bühnenbild hingegen ist reduziert, es wird Gitarre gespielt, auf Europaletten.
An die Strukturen will er nicht
Kramer tritt das Erbe der geborenen Hallenserin Cornelia Crombholz an, die das Theater fünf Jahre lang prägte, sich zuletzt wieder mehr der Regie zuwenden wollte und Ende Oktober mit 53 Jahren einer Krebserkrankung erlag. Unter ihrer Leitung war das Theater mehrfach prämiert worden, einmal als „bestes Theater abseits der Zentren“.
Was ist nun Kramers Mission in Magdeburg? Zunächst will er das Ensemble in den Mittelpunkt seiner Arbeit rücken, sagt er. Und er bringt seinen Ansatz auf diese Formel: „Grundsätzlich steht hier einfach nur zur Diskussion: Arbeitet man vornehmlich mit einem Ensemble oder nimmt man je nach Produktion einfach Schauspieler dazu?“ Ist es wirklich so einfach? „Jetzt verstehe ich. Es geht Ihnen um die Mitbestimmung des Ensembles!“ Es sei wichtig, betont Kramer, „dass man eine Stimmung herstellt, in der sich jeder traut, zu sagen, was er will“. An die Strukturen will er dafür allerdings nicht. Und er selbst will auch auf der Bühne stehen.
Es klingt nach Maß und Mitte bei Kramer, von Ronja Räubertochter bis zur Schönen Helena, nach einem selbstbewussten, diversen und ambitionierten Zugriff, nach Dialog und vielleicht nach etwas weniger Ostalgie, man darf gespannt sein.
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