Jesu militärischer Arm

ALLTAG Suppe, Seife, Seelenheil sind die drei klassischen Waffen der Heilsarmee. In den über hundert Jahren ihres Bestehens sind moderne hinzugekommen

Die Mitglieder der Heilsarmee verpflichten sich durch ein Gelübde, den Menschen zu helfen und das Evangelium zu verbreiten. 1865 traten die Soldaten Gottes, damals noch unter dem Namen "Christian Revival Mission", in London an, um "die Bevölkerung der Elendsquartiere zu retten, die in einem Meer von Ausschweifungen, Trunksucht und Laster unterzugehen drohte". Seit 1879 begleiten Uniformen und die blau-gelb-rote Fahne die Heilsarmee. Die einfachen Mitglieder heißen "Soldaten", die ordinierten Geistlichen "Offiziere". Richtschnur ihres Handelns ist die Bibel.

Mann, is ja wie Weihnachten." Der Junge hat Turnbeutel und Rucksack fallen lassen und schiebt sich die zweite Packung Kekse zu den Balistostangen unter die Jacke.

Aus einem Lieferwagen vor dem Berliner Ostbahnhof verteilt ein grauhaariger Mann Kuchen, Süßigkeiten und Suppe unter einem Pulk von Kindern. In respektvoller Entfernung unter der Galerie des Kaufhofes stehen zwölf Männer und eine junge Frau. Ausgerüstet mit Bierflaschen und umschnüffelt von Hunden. Zwei kommen heran, zum Kaffee- und Suppe-Fassen, einer holt Nachschlag. Für die Hunde.

Am Wagen lehnt Werner Schmidt. Um die Fünfzig ist er, gelernter Dachdecker und zur Zeit arbeitslos. Er hat einen Packen Zeitungen unter den Arm geklemmt. "Darf ich Ihnen unsere Zeitung mitgeben?" wendet er sich an einen der Hundehalter. Der linst zwischen dunklen Haarsträhnen auf das grüne Heft, wo sich über dem Titel Der Kriegsruf Mutter und Kind im Arm halten. Dann greift er zu, murmelt ein Danke und schlurft zurück unter die Galerie. Die Gruppe johlt.

Werner Schmidt und Rudi Magnor, der Mann im "Speisewagen", verteilen unbeeindruckt weiter Kuchen und Suppe.

Wie jeden Mittwoch sind die beiden Männer als "Freunde der Heilsarmee" mit dem Bus unterwegs zu "Bedürftigen". Start 16 Uhr, Berlin-Mitte, Kastanienallee 71. Hier befindet sich das neueröffnete Gemeindezentrum des Korps Mitte. Im Oktober hat die Kapitänin Anne-Florence Tursi zu Gott gebetet, er möge ihr Menschen zeigen, die bei der Heilsarmee mitarbeiten. Der schickte die Ehepaare Magnor und Schmidt in die Kellergewölbe des roten Backsteinbaus. Einer von neun Stützpunkten der Division Ost.

Die Division Ost umfasst das Gebiet der neuen Bundesländer. Hier leistet die Heilsarmee Aufbauarbeit. Der Osten ist Brachland, die Heilsarmee war zu DDR-Zeiten verboten. Das internationale Hauptquartier in London schickt Geld und erprobte Offiziere an die Ostfront.

Zum Beispiel die Kanadier David und Marsha-Jean Bowles. Sie leiten das "Brücke-Café" in Leipzig. Eine Begegnungsstätte, vor allem aber ein Jugendtreff, in der Neubausiedlung Paunsdorf. Als Jugendtreff finanziert die Stadt Leipzig das Café seit 1996. Hier spielen in der Woche so um die 90 Teenager Kicker und Tischtennis. Zu den Bibelstunden kommen im Schnitt acht. David Bowles ist nicht beglückt über den Zuwachs an Bekehrten in den zehn Jahren, seitdem die Heilsarmee in Leipzig Fuß fasste. Die Leute seien misstrauisch, sagt er, gegenüber der Kirche an sich und gegenüber der Uniform. Die Uniformen sind Relikte aus Dickens' England, wo sich die Heilsarmee gründete. Und so sehen die marineblaue Montur, die Schirmmützen und Bowlerhütchen auch aus. Sehr englisch, sehr steif.

Ins Jugendcafé kommt David Bowles in Jeans und Pullover. "Hier ist die Uniform nicht angebracht." Doch ablegen will er sie auf keinen Fall. Sie drückt seinen Status als ordinierter Geistlicher der Heilsarmee aus und sei in gewissem Sinne auch praktisch. "Sie ist wie ein Arztkittel, man wird erkannt, die Menschen, die Hilfe suchen, wissen, an wen sie sich wenden können."

Äußerst praktisch auch die roten Jacken von Rudi Magnor und Werner Schmidt. Die Feuerwehr hat sie der Heilsarmee auf unbegrenzte Zeit geliehen. Was vor Hitze schützt, ist auch optimal gegen Nieselregen und klamme Kälte.

Die Kinder am Ostbahnhof zerstreuen sich. Auf dem Betonparkplatz umstellen Polizisten einen blauen PKW. Da bahnt sich was Spannendes an. Schmidt dreht sich um: "Komm Rudi, die hier haben genug. Lass uns weiterfahren."

Die Menschen seien einfach satt, stellt Schmidt sachlich fest. "Nicht nur im Bauch, auch im Kopf. Wenn du Aufmerksamkeit haben willst, musste mit irgendwas locken." Das Gebäck ist zur Hälfte weg. Der Stapel Heilsarmee-Zeitungen ist genauso dick wie vor einer Stunde. Aufdrängen wollen sie die Zeitung keinem, aber auf jeden Fall unter die Leute bringen. "Wir vergessen bei der ganzen Sache natürlich nicht unseren Auftrag. Ja, eigentlich steht das fast im Vordergrund."

Suppe, Seife, Seelenheil sind die drei klassischen Waffen der Heilsarmee. In den über hundert Jahren ihres Bestehens sind moderne hinzugekommen. Die Heilsarmee organisiert unter anderem Bibelcamps, Sprachkurse und Seminare für Anbetungstanz. Im Auftrag des Herrn. Unter seiner Führung. Als sein Werkzeug.

Ein Dreikant wäre hilfreich. Vor der Auffahrt zum Alexanderplatz steht ein Pfosten. Schmidt ist ausgestiegen und kommt mit einem Polizeibeamten zurück, der das passende Werkzeug hat, um den Pfosten zu kippen. Der Heilsarmeebus kann vor dem Bahnhof Alexanderplatz parken. Neben einem Bratwurststand. Dort Bratwurst für 2,40 DM, hier Erbsensuppe umsonst. Die Heilsarmee ist klarer Sieger. Innerhalb von Minuten haben sich rund 20 Männer und Frauen mit dampfenden Plastikschüsseln um den Bus verteilt. Eine bunte Gruppe mit grauen Gesichtern. Ein Pärchen sticht heraus. Maria und Alex sind 19 und 18 Jahre alt und sehen aus, als kämen sie aus VIVA-Land. Aber sie kommen aus Nürnberg, waren davor in Hamburg und wohnen eigentlich in Thüringen. Wohnten - denn irgendwie ist alles schiefgelaufen. Alex ist eher verblüfft als verbittert darüber, wie schnell alles ging.

Eigentlich kommt er aus gutbürgerlichem Elternhaus, sein Stiefvater ist stellvertretender Bürgermeister von Saalfeld. Vor einem Jahr ist er zu Hause ausgezogen. Sein Lehrbetrieb ging Pleite, der Mitbewohner verjubelte die Miete - und jetzt ist er hier in Berlin inmitten von Obdachlosen und isst gespendeten Kirschkuchen.

Den Kuchen hat Oliver Walz am Vormittag geholt. Eine Spende vom Bäcker. Dann hat er sich in die Küche gestellt und 22 Dosen Erbsensuppe warm gemacht. Immer schön rühren, damit nichts anbrennt. Oliver ist ein Jahr älter als Alex. Er hat seit November eine feste Stelle bei der Heilsarmee. Einen festen Platz in seinem Leben hat die Heilsarmee seit jeher. Sein Vater, Reinhold Walz, ist Kapitän der Division Ost. Oliver und seine fünf Geschwister sind als Jungsoldaten groß geworden. Die anderen Kinder aus Heilsarmeefamilien, seien eigentlich auch noch alle dabei.

Abwenden würde sich keiner. Aber wenn Mitglieder sterben, kämen zuwenig neue Leute, um die Reihen zu schließen. Zu wenig junge Menschen, es seien vor allem Männer und Frauen ab 45, die zur Heilsarmee fänden, sagt Oberstleutnantin Erika Siebel. Die Leiterin der Division West hat die Offiziersschule in Basel 1962 absolviert. "Damals", erinnert sie sich, "waren die Schüler so um die 18, 19 Jahre alt und noch jungfräulich." Die neun Deutschen, die in Basel zur Zeit das Evangelium studieren, sind im Durchschnitt 28 Jahre alt. Auch Ehepaare sind darunter. Wie begeistert man junge Leute für die Heilsarmee? Mit den öffentlichen Angeboten könnten sie eben nicht konkurrieren, meint Erika Siebel. "Wir können den Menschen nur den Schlüssel geben, aber um sie zu sich zu holen, da muss Gott selbst einen Teil beitragen." Für Erika Siebel ist die Heilsarmee eine Berufung. "Das ist der Weg, den ich gehen musste."

Übervölkert ist dieser Weg nicht. Die Mitgliederzahlen stagnieren in den meisten Gemeinden oder gehen zurück. In West-Berlin gab es 1970 noch über 2.000 eingetragene Mitglieder, jetzt sind es in ganz Berlin offiziell 170. In den neuen Bundesländern entwickelt sich das Gemeindeleben allmählich, aber die Leute engagieren sich lieber als ehrenamtliche Helfer, als Freunde der Heilsarmee. Die Zugehörigkeit zum Korps beinhaltet auch den Verzicht auf Alkohol, Zigaretten und außerehelichem Sex. Wer wartet schon auf das "erste Mal", bis er verheiratet ist? Für Oliver Walz, den 19-jährigen Jungsoldaten, ist das kein Problem.

Andreas Bargel, der das Berliner Pressebüro leitet, ist schon vorher in Versuchung gefallen. "Das war ein Fehler", bekennt der große Mann und streicht die lichter werdenden dunklen Haare zurück. Dann spreizt er lachend die Finger: "Nein, ich bin nicht verheiratet." Auch er kommt aus einer Heilsarmeefamilie. Aber so richtig zu Jesus gefunden habe er erst als Erwachsener. "Das war während einer Predigt. Der Pfarrer sprach über Masken, und plötzlich ist mir klar geworden, dass mein Christsein auch nur eine Maske ist. Da bin ich nach vorn gegangen und habe gebetet. ›Jesus, komm in mein Leben‹." Christen in Wort und vor allem Tat wollen die Heilsarmisten sein.

"Mit Reden kannste die Leute eh nich überzeugen", winkt Werner Schmidt ab. "Das beste ist, man lebt es vor." Er sammelt verstreute Plastikschüsseln ein. Rudi Magnor klappt den Ausschank hoch. Es ist 18.45 Uhr, der Himmel ist dunkel geworden, die Lampen vom Bahnhof Alexanderplatz werfen orangefarbenes Licht. Magnor und Schmidt fahren durch den Berliner Feierabendverkehr zurück zur Kastanienallee. Schmidt dreht sich zu Magnor hin: "War'n guter Tag heute, wa!? Viele Gespräche."

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