„Ich schreibe am eigenen Leben entlang“: Judith Hermann erkundet ihr Schreiben
Poetikvorlesung „Wir hätten uns alles gesagt“ von Judith Hermann ist eine faszinierende Erkundung über das Leben und Schreiben einer Schriftstellerin. Die einzelnen Geschichten sind Aneinanderreihungen psychoanalytischer Fallgeschichten
In Judith Hermanns „Wir hätten uns alles gesagt“ ist alles ein wenig mehr, als es im ersten Augenblick scheint
Foto: Imago/YAY Images
„Es berührt mich selbst noch eigentümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind“, lautet ein berühmtes Zitat von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Im Fall von Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen, die jetzt unter dem Titel Wir hätten uns alles gesagt als Buch erschienen sind, stellt sich die Lage umgekehrt dar. Erstmals erzählt Judith Hermann von sich und ihrer Herkunft. Es sei „unerwartet Privates im Text aufgetaucht“, heißt es im Vorwort. Die drei Vorlesungen sind autobiografische Erzählungen, die sich mitunter wie psychoanalytische Fallgeschichten lesen.
Das Buch beginnt mit einer Szene, über die jede, die eine Psychoanalyse gemacht hat, schon mindestens einmal
n mindestens einmal fantasiert hat. Wie wäre es, den eigenen Analytiker außerhalb der Praxis zu treffen? Wie sieht dieser Mensch, der mir jahrelang zugehört hat, den ich aber immer nur flüchtig gesehen habe, eigentlich aus? Was macht er, wenn er mir nicht zuhört? Judith Hermann erzählt, wie sie Dr. Dreehüs, zwei Jahre nachdem sie ihre Analyse beendet hat, auf der Berliner Kastanienallee zufällig wiedertrifft und ihm in eine Kneipe hinterhergeht. Der Analytiker lädt sie auf zwei Gin Tonic ein, sie unterhalten sich erstaunlich unangestrengt, sitzen freundlich nebeneinander an der Bar. Dann geht Hermann den langen Weg zu Fuß nach Hause, vom Prenzlauer Berg nach Weißensee, „ausgesprochen glücklich“. Es hat sich herausgestellt, der Analytiker ist kein Vollidiot.Diese nächtliche Begegnung erlaubt Hermann den Blick hinter die Kulissen ihrer Psychoanalyse. Die autobiografische Episode steht programmatisch am Anfang ihrer drei Vorlesungen, die im Nachdenken über das Schreiben immer neue Erzählungen zutage fördern und den Vorhang aufziehen. Sie geben die Sicht auf jene frei, die Hermanns Schreiben ermöglicht haben: die Familie, Freundschaften und eben auch das Selbstgespräch in der Analyse.Schreiben als AuslöschenDie erste Vorlesung geht vom nächtlichen Treffen mit Dr. Dreehüs in die Erinnerung an ihre zehn Jahre dauernde Psychoanalyse über, die Hermann in der Geschichte Träume fiktional bearbeitet hat, die 2016 in ihrem Erzählband Lettipark erschien. Hermann befragt das Geschichtenerzählen auf der psychoanalytischen Couch nach Gemeinsamkeiten zum Schreiben. „Wenn ich in der Analyse gesprochen habe, wie ich schreibe, dann habe ich das Eigentliche immer zurückgehalten.“ Das ist ein Schlüsselsatz. Er trifft ins Herz von Hermanns Poetik, die sich als eine Art negativer Poetik beschreiben lässt. Sie interessiert sich besonders für das, was nicht da ist, was ausgelassen wird. „Das Versäumnis wäre, wie eigentlich immer, der springende Punkt“, heißt es zu Beginn der zweiten Vorlesung. Schreiben wird negativ bestimmt als Auslöschen: „Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort.“ Entscheidend ist, was nicht erzählt wird, was die Erzählerin für sich behält. Daher auch der Untertitel der Vorlesungen: „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“.Die Abwesenheit verbindet Hermann zufolge Schreiben und Träumen. Das um Leerstellen kreisende Schreiben basiert auf der „Detailarbeit des Streichens“. Dieser Arbeit entspricht der psychoanalytische Umgang mit Träumen. Dr. Dreehüs empfiehlt Hermann, denselben Traum am Morgen nach dem Aufwachen und an den zwei darauffolgenden Morgen aufzuschreiben, die drei Versionen miteinander zu vergleichen und dabei auf das Detail zu achten, das in der dritten Fassung nicht vorkommt: Das „ist das Detail, für das der Traum geträumt worden ist“. Das Eigentliche, im Träumen wie im Schreiben, ist das, was fehlt.Den Rückblick auf ihre Psychoanalyse verschränkt Hermann mit der Erinnerung an Ada und Marco, zwei zentrale Figuren in ihrem Ostberliner Freundeskreis. Die Freundschaft ist das große Thema von Hermanns Literatur seit ihrem ersten Erzählband Sommerhaus, später, mit dem sie 1998 berühmt wurde. Ohne die Freundinnen und Freunde, einen „urbanen und weit verzweigten Stamm“, hätte Hermann, wie sie immer wieder in Interviews gesagt hat, nicht angefangen zu schreiben. „Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht“, steht in ihrer ersten Vorlesung, was vor allem ein Schreiben entlang ihrer Freundschaften meint.Der Ursprung von Judith Hermanns FigurenpoetikDas Personal, hinter dem sich die Freundinnen und Freunde vermuten ließen, blieb in Hermanns bislang veröffentlichten sechs Büchern bewusst unbestimmt. Die Leserin wurde mit der Frage, was genau das für Menschen sind, die ihre Geschichten bevölkern, allein gelassen. In ihren Vorlesungen charakterisiert Hermann dieses aussparende, antibiografische Erzählen: „Ich weiß etwas über die Figuren einer Erzählung, wenn ich sie schreibe, im Grunde weiß ich alles: Geburt, Herkunft, Kindheit, Jugend, Alter und Geheimnis, aber es ist in keiner Weise notwendig, das zu konkretisieren, im Gegenteil. Es stört.“ Hermann nutzt die Vorlesungen auch dazu, die Leserin an einen möglichen Ursprung ihrer Figurenpoetik zu führen.Zum ersten Mal verortet sie ihren Ostberliner Freundeskreis zeitgeschichtlich. Die Freundinnen stammten fast alle aus Frankfurt (Oder), einer vom Ende des Zweiten Weltkriegs „traumatisierten Stadt“. Diese Traumatisierung habe sich auf die nachfolgenden Generationen übertragen und erkläre, so zumindest die Deutung ihrer Freundin Ada, die Hermann referiert, die „Lebensunfähigkeiten“ der zur Wendezeit jugendlichen Freunde. Hermann, die in Westberlin geboren wurde, kam mit diesem Kreis Anfang der 1990er Jahre in Berührung, nachdem sie in den Prenzlauer Berg gezogen war.In ihrer zweiten Vorlesung erzählt Hermann von den rauschhaften Sommern, die sie mit den Freunden im Sommerhaus ihrer Familie am Meer verbrachte. Sie beschreibt die „Wort- und Sprachlosigkeit“, die das Zusammensein prägte: „Es war nicht üblich, sich etwas zu erzählen, dem anderen eine ernsthafte Frage zu stellen, die Antwort abzuwarten, anzuhören und zu bedenken, eine neue Frage zu stellen oder etwas Eigenes hinzuzufügen – es wurde auf eine Weise unentwegt und auf eine andere Weise überhaupt nicht gesprochen.“ Das Gespräch der Freunde beruhte auf einem Schweigen, das möglicherweise Symptom ihrer psychischen Beschädigung war. Sie waren sich nah, ohne Worte darüber zu verlieren, ohne viel voneinander zu wissen: „Aber hätte einer über den anderen sagen müssen, woher er eigentlich kam, wo er zuvor gewesen war, hätten alle passen müssen.“ Die Figuren in ihrem literarischen Werk sprechen genauso, wie Hermann das im Freundeskreis erlebt hat, nämlich „genau an den Dingen vorbei“, wie es in einer Erzählung aus ihrem Band Alice heißt.In die Geschichten von den Freunden, die im Text auch als „Wahlfamilie“ auftauchen, ist die Erzählung ihrer Familiengeschichte eingewoben. Die Passagen, in denen Hermann vom Aufwachsen mit einem psychisch kranken Vater, einer abwesenden Mutter und einer ihrer Enkelin zärtlich zugewandten Großmutter erzählt, sind bewegend. Sie lesen sich wie das Lüften eines Geheimnisses. 25 Jahre nach Sommerhaus, später führt uns Hermann vor, woher der Sound ihrer Geschichten kommt, die dafür gefeiert wurden, „wie mit halb geschlossenen Lidern“ erzählt zu sein.In ein Trauerhaus geborenHermann erinnert sich an das Aufwachsen in einer großen, staubigen Altbauwohnung in Berlin-Neukölln, die im Chaos zu versinken drohte, überquoll von Büchern, Kisten, Schränken, leeren Flaschen, alten Zeitungen. Ihr Vater hörte bei zugezogenen Vorhängen laut Mozarts Don Giovanni und zerstörte in Anfällen von Jähzorn Möbel. Ein buchstäbliches Irrenhaus, oder, wie die Großmutter zu ihrer Enkelin sagte: „Du bist in ein Trauerhaus hineingeboren worden.“ Über die genauen Umstände, die das Haus dazu gemacht hatten, wurde nicht gesprochen. Schweigen und Geheimnisse galt es auszuhalten. Die Atmosphäre, die damit einherging, beschreibt Hermann so: „Unser Haus war ein Haus der Stimmungen, Ahnungen und Verfassungen, es war unsicher, unverständlich und für ein Kind absolut unberechenbar.“In Hermanns Porträt des Elternhauses sind die zentralen Verfahren ihres Erzählens angelegt: die Weigerung, Verhältnisse zu erklären; der Hang zum Geheimnisvollen; die Sensibilität für Stimmungen, die bei ihr oft wichtiger sind als die Handlung; die atmosphärische Bedeutsamkeit von Räumen und Dingen. Auch der Minimalismus ihrer Erzählungen wird verständlich angesichts der Überfülle der elterlichen Wohnung. Judith Hermann schafft im Erzählen Ordnung. Schreiben heißt demgemäß, Leere zu erzeugen. Wie sie an einer Stelle in den Vorlesungen über die Erzählung Träume sagt: „Die Geschichte ist – aufgeräumt.“Die dritte Vorlesung kehrt in die Gegenwart zurück. Ein neuer Freund namens Jon ist in das Leben der Erzählerin getreten. Gemeinsam haben sie die Zeit der Pandemie auf dem Land verbracht. Jon durchkreuzt das Prinzip vom Schweigen und Verschweigen. Er macht Hermann einen Vorschlag: „Wir könnten doch aufmachen. Er will sagen, wir könnten uns doch aufmachen. Einander mitteilen, offen sein, es geht ums Vertrauen in den anderen und in sich selbst.“ Vielleicht hängt es mit dieser Begegnung zusammen, dass sich Hermann, nachdem sie das Verhältnis zu ihren Eltern und ihren Freunden durchgearbeitet hat, am Ende ihres Buches für ein anderes Schreiben öffnet. Die Inspiration dazu kommt ihr durch einen kleinen Wortwechsel mit Jon. Sie fragt ihn: „Was hast du bisher heute gemacht, und er antwortet, ich habe die Schlehen beschnitten.“ Das Wort „Schlehen“ erscheint auf der letzten Seite ihrer Vorlesungen als Bild für ein neues Schreiben, das „alles Persönliche hinter sich gelassen hat“.Auf den Versuch, den Judith Hermann damit machen wird, darf man gespannt sein.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1