Vergiss, wenn du vergessen kannst

Nachbarschaften in Europa Deutschlands "verstümmelte" Identität - Polens moralischer Patriotismus

Nach dem Verschwinden der Blöcke in Europa 1990/91 wird die Aufnahme von zehn neuen EU-Mitgliedern am 1. Mai 2004 eine weitere entscheidende Zäsur im Verhältnis zwischen Deutschen und Polen bringen. Nimmt man es als "europäische Norm", dass benachbarte Staaten im Laufe ihrer Geschichte nicht nur Konflikte austrugen, sondern stets auch Objekte der gegenseitigen Durchdringung von Ideen und Kulturen waren, dann gilt das für Polen und Deutschland nicht nur in besonderem Maße - es erweist sich auch als besondere Bürde. Die polnische Historikern Anna Wolff-Poweska vertritt dazu mit dem Blick auf ein integriertes Europa eine Position, die in ihrem eigenen Land nicht unumstritten ist.

Entgegen verbreiteten Befürchtungen wurde die Wiedervereinigung Deutschlands ohne Pathos und nationalistische Ausbrüche vollzogen. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit Auschwitz hat die Deutschen vom Nationalismus kuriert, nur reibt sich gelegentlich das Vertrauen in die Stabilität der deutschen Demokratie mit der Angst vor deutscher Dominanz. So wird in Osteuropa der Wunsch, sich auf ein starkes Deutschland zu stützen, von der Sorge begleitet, die Deutschen könnten ihre Übermacht missbrauchen - während die einen das deutsche Engagement für die Osterweiterung der EU begrüßen, erinnern die anderen daran, dass dieser Teil Europas in der Vergangenheit deutsches Einflussgebiet war.

Der bedeutende Historiker Fritz Stern hat einmal bemerkt, die Deutschen würden lieber an die Zukunft denken, aber ihre Nachbarn dächten dauernd an die Vergangenheit. Für die Deutschen bedeutete daher europäische Integration bisher vor allem Selbstbeschränkung, um ihren Nachbarn die Furcht zu nehmen, das übermächtige deutsche Potenzial könne sie erdrücken.

Da sich die Deutschen unter diesen Umständen steter internationaler Aufmerksamkeit sicher sein können, müssen sie ebenso als treuester Bündnispartner des Westens wie als eifrigster Anwalt der Interessen der postkommunistischen Staaten in der EU in Erscheinung treten, was ambivalente Reaktionen hervorrufen kann. Für viele Deutsche ist diese Erfahrung der Andersartigkeit ein Teil der nationalen Identität, sie werden dadurch immer wieder zu Fragen angeregt: Wer sind wir, und wohin gehen wir? Was denken die anderen über uns? Für keine Gesellschaft ist gerade die letzte Frage so wichtig wie für die Deutschen. Indem sie auf die Stimmen von außen hörten, wurden die Deutschen kosmopolitischer als andere Nationen. Kein anderes Land hat so viel Geld ausgegeben, um die Verbreitung seiner Wissenschaft und Kultur in der Welt zu fördern wie die alte Bundesrepublik - dies auch in dem Bewusstsein, jenseits nationaler Sentimentalität nur mit den Nachbarn und nicht gegen sie überleben zu können.

Diese "verstümmelte" deutsche Identität stößt bei Kontakten mit Polen auf einen Patriotismus, der den Deutschen in seinem Charakter, seiner Zelebrierung wie emotionalen Überhöhung kaum verständlich ist und schon wieder den Verdacht des Chauvinismus weckt. Für die Polen wiederum gibt es heute nach Jahrzehnten des erzwungenen Schweigens die Möglichkeit, die Verbrechen des Stalinismus ohne Einschränkung zu erörtern, ihr betonter Patriotismus ist damit nichts anderes als eine moralische Reaktion und Offenlegung erlittenen Unrechts. Nicht immer haben wir Polen allerdings ein Gefühl dafür, wie leicht man die Grenze zwischen dem, was notwendig ist, und der Überbetonung eigenen Leids überschreiten kann. Dies wird um so mehr deutlich bei Feierlichkeiten von ungewöhnlich großer Zahl, bei denen nicht immer die Themen genügend Beachtung finden, die uns der Wahrheit über die komplizierte Nachbarschafts- und Kulturgeschichte der an Polen grenzenden Nationen näher bringen könnten.

Wollen nun Deutsche und Polen eine gute Nachbarschaft, so ist eine demokratische Kultur des Kennenlernens wie des Wissens über die Vergangenheit, die man nicht mehr ändern kann, unverzichtbar. Dieser Kultur liegt die Vergebung zugrunde, die nach Leszek Kolakowski ein bürokratisches, ein psychologisches und metaphysisches Fundament haben muss. Den eigentlichen Wert schreibt Kolakowski dabei der zweiten Kategorie zu. Welchen Wert aber haben Bitten um Vergebung, die sich in den vergangenen Jahren zu einem ständigen Kanon der politischen Kultur entwickelt haben? Kann man im Namen des Volkes um Verzeihung bitten oder vergeben? Geht mit diesen symbolischen Gesten die Bereitschaft zum Erkennen eigener Irrtümer einher und das Verlangen nach der vollen Wahrheit? Wenn nicht, bedeutet dann das "Ich bitte um Vergebung" mehr als einen billigen Versuch, sich moralische Autorität zu verschaffen.

Die künftige Zugehörigkeit zur EU sollte daher Polen - auch die Tschechen - von ihren Komplexen gegenüber ihrem "großen Nachbarn" befreien, was auch bedeutet, auf Privilegien zu verzichten. In einer Situation der Normalität ist es überflüssig, auf den Nachbarn zu schielen und zu grübeln, was er wohl von einem halten mag. Das Bild vom Nachbarn widerspiegelt auch das eigene Ich, und insofern könnten vor allem politische Stabilisierung und Wohlstand zu natürlichen Voraussetzungen für einen Wandel unseres Bildes vom Deutschen werden.

Ohnehin wirkt sich der Generationenwechsel bei den Eliten aller drei Länder auf das Verhältnis untereinander aus - darin liegt eine Chance. Als die Nachkriegsgeneration zur politischen Einigung Europas aufbrach, war das eine Frage von Krieg oder Frieden - mit Pathos und Romantik verbunden. Heute braucht Europa eher Wissen und konkretes Handeln, die Bereitschaft zu Verzicht und Solidarität. Eine europäische Gemeinschaft lässt sich nur dank gegenseitiger Wertschätzung errichten. Dies bedeutet auch, dass die europäischen Nationen aufhören sollten, ihren deutschen Nachbarn Tag für Tag mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Damit die Deutschen sich ihrerseits vom Misstrauen gegen sich selbst befreien können, müssen sie die Sicherheit gewinnen, dass sich die anderen Nationen von der Angst vor ihnen gelöst haben. Das Spannungsverhältnis zwischen der Macht der kollektiven Erinnerung und der heutigen Realität kann nur durch das Wissen voneinander und ein Europa allmählich überwunden werden, in dem partnerschaftliche, gleichberechtigte Beziehungen die Basis von Loyalität, Vertrauen und innerer Freiheit sind. Diese Freiheit hat viele Gesichter und bedeutet nicht zuletzt, sich in eine andere Nation oder in einen anderen Menschen mit seinen Erfahrungen hinein zu versetzen. Deswegen ist das wichtigste Vermächtnis der Geschichte für jene Nationen, die in der Vergangenheit verfeindet waren, sich endgültig von der - sich auf den Nomadenstamm der Amalekiter auf der Halbinsel Sinai beziehenden - alttestamentarischen Aufforderung "Vergiss nicht, was Amalek Dir angetan hat, als Du auf dem Wege nach Ägypten warst!" zu verabschieden. Das 20. Jahrhundert lehrt, es ist an der Zeit, uns von dem ererbten Syndrom, wonach Nachbarschaft zugleich Feindschaft bedeutet, zu befreien.

Professor Anna Wolff-Poweska ist Direktorin des West-Instituts Poznan. Der Text basiert auf einer gekürzten Fassung ihres Vortrags zum 10. Jahrestag der Potsdamer Zeitschrift WeltTrends, siehe auch: Welttrends Nummer 40/2003 und www.welttrends.de


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