KEHRSEITE Einmal beschließe ich, einen Ausflug zu machen. Die Sonne scheint fast frühlingshaft und ich will endlich wissen, wohin meine Straßenbahn ...
Einmal beschließe ich, einen Ausflug zu machen. Die Sonne scheint fast frühlingshaft und ich will endlich wissen, wohin meine Straßenbahn verschwindet, wenn sie mich Prenzlauer Alle/Danziger Straße ausgespuckt hat. Ich erwarte Plattenbauten, aber scheinbar habe ich da etwas verwechselt. "Heinersdorf" steht auf der Bahn, und als wir nach verblüffend kurzer Zeit dort ankommen, ist es wirklich höchstens eine Kleinstadt! Eine Hauptstraße, um die sich die Häuser reihen, nur halb so hoch wie zu Hause. Eine Dorfkirche, aus Sandstein, die mit Mauer und Nebengebäuden aussieht wie eine possierliche kleine Festung. Gegenüber der Kirche die Sparkasse, daneben ein Friseur und der unvermeidliche Schlecker-Markt, wie sich das für einen solchen Ort ge
gehört. Nur sieben Minuten vom eng-grau-großstädtischen Prenzlauer Berg entfernt!Ich will mehr sehen und suche mir eine besonders sonnenbeschienene Seitenstraße aus. Mein Staunen nimmt kein Ende. Kopfsteinpflaster, Bürgersteig, dann Zäune, die Gärten einrahmen. Richtige, alte Gärten, mit hohen Bäumen, da hinten laufen sogar Hühner! Ich bin auf dem Land. Großartiger Einfall: ich ziehe nach Heinersdorf. Landleben ein paar Minuten vom Kiez entfernt, tagsüber Tratsch übern Zaun mit den Nachbarn (gerade sehe ich in dem Hühnergarten eine Frau, pausierend auf eine Harke gestützt, im Plausch mit der Frau von nebenan), abends zum Feiern an den Helmholtzplatz. Gefällt mir, die Idee. Die Häuser hier gefallen mir auch. Die sind schon älter, Einfamilienhäuser der Vorkriegszeit, verwinkelt teilweise mit Erkern, Veranden und Sprossenfenstern. Kann sich wahrscheinlich kein Mensch leisten.Ich gehe die Straße hinunter, da sehe ich etwas Seltsames. Die gepflegte Kleinstadtidylle wird gestört: ein völlig verwahrlostes Grundstück zu meiner rechten. Ein zugewachsener Gartenweg, ansonsten keine Zeichen menschlicher Ordnung. Dann sehe ich das Haus. Gleich fällt es zusammen, ganz sicher. Von den Wänden bröckelt der Putz, den Fenstern fehlt die Hälfte der Scheiben, dem Dach die meisten Ziegel. Es ist dunkelgrau, bis auf ein paar Graffitis hier und da. Leerstehende Ruinen sind unheimlich. Aber die Sonne scheint so hell, vielleicht kann ich mich ein bisschen näher wagen. Das verrostete Gartentor steht offen. Ich gehe durch das hohe Gras. Auf dem Boden liegen seltsame schwarze Klumpen, erst als ich hochsehe, bemerke ich den Apfelbaum, dessen Früchte hier unbeachtet verrotten.Hinter dem Haus liegt ein verwilderter, dennoch wunderschöner Garten. Im rechten Winkel zum Wohnhaus ein verfallenes Nebengebäude, der ehemalige Stall? Die Garage? Werkstatt oder Lagerraum? Es ist ein Backsteingebäude mit Heuluken in zwei Meter Höhe, aus den unteren Türen quillt der Müll tonnenweise. Alte Kühlschränke, Matratzen, Holzlatten, Eisenstangen, ein Werkzeugkasten, bis oben hin gefüllt mit Regenwasser und vermoderndem Laub. Im letzten Raum des Schuppens parkt hinter einem verrosteten Heizkörper ein Trabi. Hellblau, ohne Scheiben, die Motorhaube hochgeklappt, der Motor ist noch drin. Sieht eher beerdigt als nur geparkt aus. Ich lasse den Blick einmal in der Runde wandern. Dann setze ich mich auf einen Brunnendeckel unter eine alte Eiche, an deren Zweigen schon kleine Knospen zu sehen sind. Ich lasse das Bild wirken. Vor mir liegt eine alte Gartenbank, falsch herum, vermodert, sie würde mich wohl nicht mehr tragen können. Das Wohnhaus sieht von hinten fast schön aus, an den Fenstern weiße Läden, eine kleine Treppe führt zum Eingang. Die Sonne scheint und macht es leicht, sich hier etwas Lebendiges vorzustellen: Das Haus gelb gestrichen, der Müll weggeräumt, die Fenster repariert, der Garten voller Blumen. Ein gedeckter Tisch unter der Eiche, wo ich jetzt sitze, allein, und das allein Sein traurig finde. Hier wird wahrscheinlich niemals mehr eine Schar von Leuten einen schönen Sommerabend verbringen, eingerahmt von zwei hübschen, alten Gebäuden und ein paar Bäumen, sieben Minuten von der Großstadt entfernt.Jetzt wage ich es: Ich gehe ins Wohnhaus. Ich muss über Bauschutt hinwegsteigen, um überhaupt hineinzugelangen. Links die Küche - Zentralheizung gab's mal, die Heizkörper liegen auf dem Boden. Hinter der nächsten Tür ein Bad, sogar mit Badewanne und auf dem Klodeckel noch ein blauer Plüschbezug. Rechts führt eine Treppe nach oben, aber dafür reicht mein Mut nicht. Außerdem liegt ein alter Boiler im Weg und zahlreiche Bretter. Die stammen wahrscheinlich aus dem mittleren Zimmer nach vorne raus - dem fehlt komplett der Fußboden, man sieht direkt auf Lehm. Wer klaut einen Fußboden? Jemand hat an die Wand geschrieben: I love you and you love me - come on let's make a family. Das lässt mich an die denken, die hier mal gewohnt haben. Wer? Wann? Wie? Zumindest mit bunten Tapeten, soviel ist klar.In jedem Raum sind die Heizkörper von der Wand gerissen, liegen herum. Auch die beiden Zimmer nach hinten raus: bemalt, verrottet, zugemüllt. Aber sonnendurchflutet. Ich frage mich: Verfällt so ein Haus ganz von allein? Haben die letzten Bewohner noch mal so richtig die Sau rausgelassen, bevor sie gehen mussten? Oder war das eine gelangweilte Dorfjugend? Kann mir natürlich keiner beantworten. Ich bin auch schon wieder mit meinen Tagträumen beschäftigt: Was kostet so ein Haus? Eine Mark? Wo findet man jemanden, der einem sagt, dass noch nicht Hopfen und Malz verloren ist? Wie lange würde es dauern, den Müll wegzuschaffen, das Dach neu zu decken, den Fußboden neu zu belegen, die Fenster zu reparieren? Meine Vorstellungskraft versagt, ich wache wieder auf und beschließe zu gehen. Ich gehe mit einem guten Gefühl, wie nach einer schönen Begegnung. Voll von Hausgedanken treffe ich auf dem Bürgersteig eine Dame, die aussieht, als wüsste sie hier Bescheid. Ich spreche sie an, frage nach dem verfallenen Grundstück mit seinen Gebäuden. Sie ist wenig überrascht: "Jaaa, danach haben schon viele gefragt! Aber das wird abgerissen. Da baut das Bezirksamt Reihenhäuser hin." Reihenhäuser, aha. Ich muss noch mal zurück. Den Plan, dieses Haus Freunden zu zeigen, kann ich vergessen. Ich setze mich noch mal auf meinen Platz unter der Eiche. Präge mir das Bild ein und träume davon, in einem Film zu sein, in dem eine junge Frau unerwartet ihr Traumhaus findet.
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