Fremd und vertraut -Alltag auf dem Land

Ansichten Eines Tages habe ich genug von der Stadt und ziehe wieder aufs Land, nördlich von Berlin, noch 30 Kilometer bis Polen. Ein alter Bauernhof, Weiden ...

Eines Tages habe ich genug von der Stadt und ziehe wieder aufs Land, nördlich von Berlin, noch 30 Kilometer bis Polen. Ein alter Bauernhof, Weiden und Wald hinter der Scheune, eine Kastanie vorm Fenster - das hat mir gefehlt.

Als der Alltag los geht und ich das erste Mal im Dorf einkaufen gehe, bin ich eine Fremde. Ich sehe in neugierige, durchaus freundliche Gesichter und hoffe, dass man hier gnädig ist mit zugezogenen Wessis. Denn auch die Zeit in Ost-Berlin ändert nichts daran, dass ich aus dem Westen komme und dass der Westen weit weg ist, hier in Brandenburg. Aber leider, freundlich ist man gerade mal zwei Tage, am dritten werde ich im Konsum schon kaum noch gegrüßt. Was habe ich falsch gemacht? Ich habe doch nett guten Morgen gewünscht, das Wetter gelobt und den Käse, aber scheinbar war das nicht genug. Dabei ist das etwas, was ich von früher kenne: man redet übers Wetter, die Kinder und die Arbeit. Ich frage meine Mitbewohnerin um Rat, und sie will wissen, ob ich mich auch vorgestellt habe. Nein, habe ich nicht. Ich kann mich wohl kaum in den Laden stellen und um Aufnahme in den Kreis der anerkannten Kunden und Dorfbewohner bitten? Doch, ich kann, ich muss sogar.

Gleich am nächsten Tag gehe ich wieder hin, um es hinter mich zu bringen. Das Schicksal meint es gut mit mir. Als ich die Kassiererin sozusagen als Aufwärmübung frage, welcher Bäcker eigentlich die köstlichen Brötchen liefere, ist sie es, die das Eis bricht: »Entschuldigen Sie«, wendet sie sich an mich, »sind Sie eigentlich die Schwester von der Frau Lindemann?« Ich lächle sie, dankbar für das Stichwort, an. »Nein, sehe ich so aus?« Ja, ich sei ja nun auch schon ein paar mal da gewesen, und eben hätte ich so geguckt, also, sie hätte schwören können, ich sei mit der Frau Lindemann verwandt. »Nein«, sage ich so nett wie möglich, »bin ich nicht, aber mir ist auch gerade aufgefallen, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe.« Sie ist gespannt wie ein Flitzbogen, ich kann es ihr ansehen. Dann, endlich, sage ich meinen Namen und dass ich gerade hergezogen sei, in das Haus vorne in der Kurve, wo die Ökos wohnen. Aaaaaach so! Ja, DIE kennt sie! Nette Leute. DA wohnen Sie? Zur Untermiete? Ich bejahe und sie ist zufrieden, auch die dazu geeilte Kollegin scheint fürs erste keine weiteren Fragen zu haben, freundliches Lächeln, danke, 12 Mark 80, bitte, bis zum nächsten Mal, auf Wiedersehen!

Am Nachmittag sitze ich mit einer Tasse Tee vorm Haus in der Sonne. Eine alte Frau, weißes Haar und Kittelschürze, geht gemächlich die Dorfstraße entlang. Sie kommt direkt auf unser Haus zu, besieht sich die frisch eingepflanzten Sträucher an der Ecke und grüßt freundlich; sie wolle das schöne Wetter ausnutzen für einen kleinen Gang. Ich erfahre von ihr, dass sie seit 50 Jahren im Dorf wohnt, aus Schlesien eigentlich, wie so viele hier, gleich nach dem Krieg muss es wild hergegangen sein mit Alteingesessenen und Umquartierten. Nächsten Monat zieht sie weg, erzählt sie wehmütig, zu ihrem Sohn, drei Dörfer weiter, der hat dort jetzt gebaut. So stehen wir da und plaudern, und sie erfährt von mir auf Nachfrage, dass ich NICHT die Waschküche als Bad benutze, sondern mir eines mit meinen Vermietern teile, und dass ich nicht verheiratet, aber auch nicht solo bin. Die Frage nach meinem Zivilstand stellt sie mit verschmitztem Lächeln und ganz offen: »Ach, wissen Sie, alte Frauen sind ja immer so neugierig ...« Deshalb beantworte ich sie gern.

Ich bin die Neugier gewöhnt, von früher, auf dem Land in Niedersachsen. Auch meine eigene Neugier. An einem Abend bringt sie mir die Begegnung mit einer dörflichen Männerrunde. Ich will nur noch einen Gang um den Hof machen, da sehe ich beim Nachbarn hinter der Kuhwiese ein Feuer, groß wie sonst nur zu Ostern. Es ist umringt von der örtlichen Feuerwehr, inklusive original DDR-Löschfahrzeug. Ich muss sofort wissen, was das ist. Einer der Brandschützer ist der Elektriker im Dorf, den kenne ich schon, das erleichtert den Anfang. Er stellt mich vor: »Ach, das ist die Neue vom Ökohof.« Ich erkundige mich, ob sie eine Brandübung abhalten und erfahre: Nein, der hier sei mein Nachbar, der verbrenne gerade die restlichen Balken einer abgerissenen Scheune. Der Nachbar ist sehr erfreut, mich kennen zu lernen, ich bekomme ein Bier und darf bleiben. Die Jungs von der Dorffeuerwehr helfen, weil er ihnen mal umsonst ein Gerüst vors Spritzenhaus gestellt hat zum Streichen. Nachbarschaftshilfe, fällt mir ein, wieder etwas Bekanntes. Dann stehe ich am Feuer und lasse mir vom Leben hier erzählen, erfahre, wer im Dorf jemanden anzeigt, der sonntags den Rasen mäht, und wer zum Unterwasseramt rennt, weil der Frosch im Gartenteich des Nachbarn so laut quakt. Diejenigen, die mir das erzählen, lassen sich aber nicht einschüchtern und bauen auch am Sonntag, morgens um sieben ihr Dach fertig. (»Und nach dem Richtfest hat Gaby mich nach Hause geführt, keine Ahnung, wie ich da ins Bett gekommen bin.«) Alles klingt so vertraut, und ich frage mich, ob denn 40 Jahre sozialistische Erziehung nichts gegen engstirnige Nachbarn, die einem den Frosch im Teich nicht gönnen, ausrichten konnten. Ich schätze aber, der Sozialismus hat damit gar nichts zu tun - das ist einfach ein Stück Deutschland. Und mir gefällt´s sogar, gerade weil ich hier neu bin und mir TROTZDEM alles so bekannt vorkommt.

Erst als sie von dem großen Brand in der alten Gaststätte erzählen, geht es darum, dass das hier mal die DDR war. Kurz nach der Wende, so erfahre ich, hat jemand das ganze Grundstück mit Haupthaus und allen Nebengebäuden gekauft. Er hat dem Dorf Arbeitsplätze versprochen, den Damen vom Konsum ein neues Ladenlokal mit doppelt so viel Platz. Zwei Jahre lang hat er dann die Gaststätte betrieben, alle nur irgend möglichen Subventionen eingestrichen und ist schließlich untergetaucht. Kurze Zeit später brannte aus bis heute nicht geklärten Gründen der Dachstuhl der Kneipe. Man hütet sich vor Schuldzuweisungen, aber es darf spekuliert werden. »Und«, sagt einer der Erzähler zu mir, »ick mein, du bis´ ja nu ooch aus´m Westen, aber det war so´n richtija Wessi, son Unternehmerwessi, der hier nur die Jelder einjestrichen hat. Det würden wa heute ooch nich mehr mit uns machen lassen, det kannste ma glooben.«

Ich fühle mich nicht angegriffen. Eher schon bemüßigt zu sagen: ja, solche kenn ich auch. Und es ist nicht viel mehr als eine gute Geschichte. Man erzählt sie und geht gleich wieder zum Alltag über.

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