Belogen zu werden ist Scheiße. Je näher einem der Lügner gestanden hat, desto unangenehmer wird es. Aber man kann den Schuldigen zur Hölle schicken und sich neue Freunde suchen.
Was dagegen mache ich, wenn ich unerwartet mich selbst als Lügnerin enttarne? Wenn ich merke, ich habe mich unermüdlich belogen? Mir bleibt nur der Trost, mich endlich durchschaut zu haben: es war alles gar nicht wahr, und jetzt bin ich Germanistin.
Nein, noch nicht wirklich, aber der Tag, an dem man mir diesen fragwürdigen Titel verleihen wird, rückt so unheimlich nah. Wo hatte ich denn all die Jahre meine Augen? Meinen Sinn für Realität? Mit 20 ist ein Mensch noch ein Kind, das ist immerhin eine Entschuldigung.
Ich war mit 20 ein Kind mit Abitur, das gerne las, immer
ur, das gerne las, immer schon gerne gelesen hatte. Bücher waren zum Wegträumen gedacht, für den voyeuristischen Blick in fremde Welten, Hauptfiguren sollte man lieben dürfen.Zugegeben, diese Art von Lesen war an der Schule weder möglich noch erwünscht gewesen. Es galt, Günter Grass und Siegfried Lenz zu interpretieren - so sollte die Welt sein? So wollte ich sie nicht. Menschen sollten nicht so kompliziert und seltsam und deprimiert sein.Ich vergaß also den Deutschunterricht, denn ich wollte die Welt einfach.Ich wollte nicht, dass man einen Beruf erlernen muss, weil man Geld verdienen muss, weil das Leben es verlangt. Ich wollte einen Beruf, der Spaß macht, nicht anstrengend ist und mich nicht vom Träumen abhält. Also erst mal gar keinen.Dazu die Eltern: Hauptsache, du wirst glücklich, Kind, du musst dich selbst verwirklichen, tu nichts, was dir entgegenstrebt - die Worte vor allem von Müttern, die sich selbst erst viel zu spät entdeckt haben, als sie schon da saßen mit Mann und Kindern und Haushalt. Ich sollte es anders machen, besser selbstredend. Und wo ich doch so gerne las? Das Germanistikstudium war die perfekte Lösung.Die Studienordnung macht es möglich, dass man sich zunächst hauptsächlich mit Büchern beschäftigt, die einen persönlich interessieren, das übrige Pflichtprogramm sitzt man gelangweilt ab.Ich lerne Mädchen kennen, deren Mütter ihnen ebenfalls die Aufgabe der Selbstverwirklichung übertragen haben. Mädchen, für die Literatur auch vor allem etwas Persönliches ist: Aus der Literatur kann man fürs Leben lernen. (Warum hat uns nie jemand gesagt, dass man auch aus dem Leben fürs Leben lernen kann?)Zu Anfang des Hauptstudiums sitze ich dann mit meinen Freundinnen in Seminaren, in denen plötzlich die reden, die schon in der Schule Günter Grass und Siegfried Lenz toll fanden. Sie haben inzwischen noch mehr gelernt, die meisten sind junge Männer: ernst, wichtig und unattraktiv, aber unheimlich kompetent, und manche finden ja, dass das reicht. Diese Jungs haben bereits vor dem ersten Semester gewusst, dass es zahlreiche Literaturtheorien gibt, und spätestens jetzt wissen sie endlich genug darüber, um in die Fanclubs der verschiedenen Professoren aufgenommen zu werden und somit immer ganz vorn sitzen und wichtig diskutieren zu dürfen. Die Professoren sind natürlich auch meist Männer, wissen alles und haben gleichzeitig Null komma Null Ahnung, warum ich hier sitze. Das ist gut so, macht sie mir aber nicht sympathischer.Meine Freundinnen und ich schreiben die Hausarbeiten im Hauptstudium nach wie vor geschickt über unsere Lieblingsthemen, umkurven gekonnt den Einsatz jedweder theoretischer Ansätze und haben irgendwann alle Scheine zusammen. Den Rest der Zeit verbringen wir in Cafés und träumen immer noch denselben Traum: dass sich irgendwann die Realität zu unseren Gunsten ändern möge und wir fürs Kaffeetrinken und über-das-Leben-Nachdenken bezahlt werden.Fast fünf Jahre leben wir so, aber jetzt ist es aus. Jetzt werden wir ein halbes Jahr am Schreibtisch verbringen und eine Arbeit schreiben, die im wirklichen Leben einen Scheißdreck wert ist. Wir werden merken, dass man sich überhaupt nicht für unsere Lieblingsautoren interessiert da draußen, und wenn schon ein Germanist eine Stelle findet, dann einer von den langweiligen Jungs, die nach fünf Jahren Lesen endlich ALLES wissen.Und wir kriegen Angst und fragen uns, ob wir nicht doch lieber Jura, Medizin, BWL, Krankengymnastik oder Maschinenbau hätten studieren sollen. Aber jetzt ist es zu spät, und unsere Mütter sind ein wenig traurig, weil uns unsere Selbstverwirklichung nicht mehr gebracht hat als die Erkenntnis, dass wir, um nicht ins gesellschaftliche Aus zu geraten, möglichst bald einen von den jungen Rechtsanwälten, Ärzten oder Managern heiraten müssen.Unsere Töchter können es dann ja besser machen.