Meine Freunde fürchteten nichts mehr als den aufjaulenden Schlachtruf "ich will weinn", mit dem ich in den späten achtziger Jahren manchen Saufabend initiierte. Das bedeutete, die Hahn würde saufen wie ein Loch, soweit nichts Ungewöhnliches, dann würde sie irgendwann anfangen zu flennen, auch das nichts Ungewöhnliches. Doch an solchen Abenden gerieten die Dinge gern ganz und gar aus den Fugen. Ob wir am Ende von der Polizei durch die Grünanlagen der Innenstadt gejagt wurden oder kichernd beziehungsweise heulend im engen Versteck irgendeiner Kleiderkammer hockten, war letztlich egal. Exzess war angesagt. Nicht selten prügelten wir uns mit den Stinos, Poppern oder Langhaarigen um die letzten Weinvorräte auf Partys, oder wurden aus ihren Diskotheken entfernt, weil ich im Weinrausch jemanden aus der Bande angestiftet hatte, alle Hängelampen zum Schaukeln zu bringen. Oder dem Mädchen des tätowierten Türstehers in den Schritt zu fassen. Mal demolierten wir auf dem Heimweg Verkehrsschilder, dann klauten wir in der Morgendämmerung Brötchen aus duftenden Stiegen vor Bäckereien. Wir grölten und sangen. Pinschi, das einzig wirkliche Raubein unter uns, durchschwamm in solchen Morgenstunden auch gern die braunölige Elbe, durch unser Johlen von einer Brücke her angefeuert.
Wir konnten auch gepflegt trinken, so war das nicht. Mitunter saßen wir ganz zivilisiert einen Abend lang an einem Tisch und tranken, ohne weiter aufzufallen. Das konnte im Weinstudio, einer gehobenen Gaststätte mit Klavierbespielung, oder im Haus der DSF (Deutsch-Sowjetische-Freundschaft) geschehen, auch in den Theaterkantinen der Stadt wirkten wir eher kleinlaut.
Ich kam ziemlich spät dazu. Zu den Punks und Lebenskünstlern meiner tristen Heimatstadt Magdeburg und auch zum Trinken. Hatte ich meine frühe Jugend mit Lesen verplempert, suchte ich ab meinem 17. Lebensjahr alles andere um so schneller nachzuholen. Marken spielten nicht wirklich eine Rolle, Wein machte Kopfschmerzen oder machte keine, andere Getränke machten langsamer oder schneller betrunken. Unsere Mägen und Speiseröhren verdarben wir mit Lorken wie Eselsmilch und Stierblut. Schneller wirkte Gotano, der Bretterknaller-Wermut, der, süffig und schwer, sich nicht zum Verzehr eignete, wenn ein langer Nachhauseweg anstand. Am nächsten Morgen half gegen den wunden Hals, den dröhnenden Kopf und einen sich sauer aufbäumenden Bauch nur ein beherzter Schluck aus der halbvollen Gotanoflasche, die in Matratzenreichweite stand.
Wir tranken Wein. Ausnahmen waren die Sommersaison auf der Theater-Café-Terrasse und Gruppenreisen im Zug. Und die Proletarierkneipen. Hier war Trinkfestigkeit Überlebensgarantie. Im Alten Thiem geschah es dennoch eines Abends, dass wir kaum die Kneipe betreten hatten, als schon eine schwere Faust Kontakt zum Kiefer meines Kumpels Bastian suchte, der eben seine Lederjacke über einen Haken hängte. Bastian knallte auf den Boden, die Gespräche verstummten und wir starrten alle auf den schnaufenden Mann, dessen Faust auspendelte. Der glotzte blöd, schüttelte den Kopf und murmelte: "Tschuldijung, Varwechslung!" Wir verkrümelten uns.
Wenig später auch aus Magdeburg.
Anfang der neunziger Jahre eröffnete einer meiner Spießgesellen in Berlin eine Kneipe, was mich mindestens zwei Semester meines ohnehin überdehnten Studiums kosten sollte - aber sonst nicht viel. Ich habe bis heute einige Deckel offen, auf denen eigentlich nur ein Getränkename stand und darunter dutzende, ich fürchte hunderte Striche. Weißweinschorle. Wasser war wohl immer mit drin, der andere Teil schmeckte sauer, nach einer gewissen Anzahl ging es mir blendend und ich hielt oft bis zum andern Morgen durch. Leider lag die Kommandantur indirekt auf dem Weg zu meinem Studentenjob, den ich jeweils bis eine Stunde vor Schichtbeginn absagen konnte. Ich war Briefesortiererin bei der Post. Nicht so oft, wie ich eigentlich sollte. In der Kneipe gab´s ein Telefon.
Etwa in der Zeit, als die Kommandantur unter anderem wegen solcher Gäste wie mir ihre Pforten schloss, lernte ich in Jerusalem Cabernet Sauvignon kennen. Mein Bruder und ich hatten zehn Tage lang das Heilige Land befahren und ruhten am Abend vor dem Abflug aus. In unserer Hotelbar am Rande der Stadt wurden wir von weinselig grapschenden Österreichern immer weiter den Tresen entlang gedrängt, bis wir uns im letzten Winkel befanden, an der Wand. Neben uns auf dem Tresen standen verlockend aussehende kleine Rotweinflaschen, die nur 0,2 Liter fassten, aber über zwanzig Dollar kosten sollten. Wir entwischten mit fetter Beute. Die zwei Flaschen enthielten einen Wein, einen israelischen, der mir bis heute in Erinnerung geblieben ist. Wir saßen auf dem Fensterbrett des Hotelbalkons, hoch über den flackernden Lichtern einer schon im März schwülen Jahrtausendstadt. Der Wein schmeckte satt, samtig und geheimnisvoll. Ich kniff die Augen zusammen und sah allmählich glänzende Ritterrüstungen aus dem Dunkel steigen, von Fackeln fern erhellt. Irgendwann schoss mir durch den Kopf, ob das, was ich früher getrunken hatte, eventuell überhaupt kein Wein gewesen war. Damals wusste ich noch nicht, dass ich den wirklichen Wein, oder soll ich sagen den Geist des Weins, erst noch kennen lernen würde.
Dies geschah, als mich eines Abends eine Freundin besuchte, die mit mir eine Geisterbeschwörung ausprobieren wollte. Susanna steckte tief in einer okkulten Phase. Sie hatte noch ihre Freundin Beatrix mitgebracht. Am gleichen Abend tauchte auch mein Freund Bastian auf, mit seiner neuen Flamme Carina. Beide lachten, als sie von der bevorstehenden Beschwörung hörten und nahmen die Sache nicht ganz ernst. Bastian sagte, er habe etwas viel besseres im Gepäck, nämlich einen Wein. Wir wollen "ein" Glas davon miteinander trinken, bemerkte er, mit intensivem Blick zu mir. Das hier ist kein "Kipprunterwein", sollte das heißen. Er hatte mich schon Tütenweine kippen sehen und wusste wovon er sprach. Beleidigt räumte ich den Tisch frei und Susanna plazierte mit wichtiger Mine ihre Kärtchen. Das JA, das NEIN und das ? lagen in der Tischmitte. Die Zahlen von 1 bis 10 und alle Buchstaben des Alphabets bildeten den äußeren Kreis. Bastians Neue inspizierte die Wohnung, kicherte herum und krähte schließlich aus der Küche, sie wolle auch mitmachen, den Geist beschwören. Bastian hatte nur Augen für seinen Wein. Vielleicht hatte er ihn mitgebracht, um mich milde zu stimmen, da er fürchtete, ich könnte seine Wahl nicht gutheißen. Was für ein Monster muss ich sein. Bastian "lüftete" inzwischen den Wein, das heißt, er schwenkte die umgefüllte Flasche in einer meiner größeren Blumenglasvasen herum. Ich war am Verdursten. Beatrix stellte das kleine leichte Glas, das den herbeizurufenden Geist beherbergen sollte, mit dem Boden nach oben in die Tischmitte. Susanna entzündete feierlich die außerhalb des Kreises angeordnete Kerze. Bastian schenkte endlich ein. Wir tranken gespannt den ersten kleinen Schluck. Es war ein Wunder! Dieser Wein rollte rauchig die Kehle hinunter und verbreitete sich wie ein Nebelschleier dicht und silbern im ganzen Körper. Er erreichte den Bauch, die Knie, die Fingerspitzen und schließlich Kopfhaut und Zehen auf einmal und ließ den ganzen Körper leicht werden. Ich sah an ihrem Staunen, dass es den anderen auch so ging, nur Bastian schmunzelte wissend. Verzaubert setzten wir uns an den Tisch. Carina lächelte mich an und sah mir zum ersten Mal in die Augen. Susanna erklärte die "Spielregeln", mir wurde warm und wohlig und ich war gerne bereit, einen Finger auf den Glasrand zu legen, um dasselbe auf dem Tisch herumzuschieben. Man weiß ja, dass sich das Glas irgendwann bewegt. Keiner kann die Hand auf Dauer ruhig halten. Und so begann auch unser Glas zu wandern, bald flutschte es unter unseren Fingern über den Tisch, riss aus und drehte kühne Pirouetten zwischen Zahlen und Buchstaben. Der Geist, der darin geschlummert hatte, ließ sich offenbar nicht einmal durch Bastians hüstelndes Gekicher stören.
Meine Wohnung lag im Vorderhaus eines ehemals herrschaftlichen klassizistischen Gebäudes. Ich wusste nicht viel über dieses Haus in der Invalidenstraße, das in Sichtweite zur ehemaligen Staatsgrenze gelegen und lange von Militärs genutzt worden war. Als Susanna den Geist fragte, wer er sei, antwortete das Glas mit raschem Buchstabenantippen: "Geliebte, hier im Haus". Wir sahen uns überrascht an. "Wann", fragte ich sofort und Bastian setzte nach, "Wessen Geliebte?", und Beatrix: "Wie alt bist du?" ...
"Einer nach dem anderen", schimpfte Susanna, "sonst kommt sie ja durcheinander!", aber unser weiblicher Geist hatte sich schon zu einer Antwort entschlossen und begann, munter auf dem Tisch umherzukurven. "Oficier" schrieb sie, die Jahreszahl danach ließ uns erschaudern und erklärte gleichzeitig ihre kleine Rechtschreibschwäche. "1889". Wir starrten uns an, Bastian kippte sein halbvolles Glas Wein wortlos in einem Zug hinunter. Wir zögerten keine Sekunde, es ihm gleichzutun. Schon erschien uns die Möglichkeit, tatsächlich mit einer Offiziers-Konkubine zu kommunizieren, die hier in diesem Haus, vielleicht gar in diesem Raum vor über 100 Jahren heimliche Vögeleien betrieben hatte, durchaus glaubhaft. Überzeugend. Bastian war das Schmunzeln und Kichern vergangen, auch die Weinröte war aus seinen Wangen gewichen, als er seinen Zeigefinger vom Glas löste und meine Hand griff. "Was machen wir jetzt?", fragte er und wirkte tatsächlich ein wenig besorgt. "Na weiterfragen", antwortete ich, löste seine Hand von meiner und ermunterte die zögernde Carina mit einem Kopfnicken. Susanna hielt die Augen geschlossen und wiegte wie hypnotisiert den Oberkörper, ihr ausgestreckter Finger zitterte ein wenig auf dem Glas. Die Stille im Zimmer lastete auf uns. Der Wein gaukelte mir knarrende Dielen im Flur vor, meine Arme überzogen sich mit Gänsehaut. Bastian hatte inzwischen aus der Blumenvase nachgeschenkt, uns blieb nicht mehr viel vom Zaubertraubensaft. Im Kerzenlicht huschten Schatten über die Zimmerwände und ich sah plötzlich die Geschichte klar vor mir liegen, die sich genauso im Buchstabentanz bestätigte. Sie war ein Dienstmädchen, wohnte in einer Kammer zum Hof hinaus und liebte den Herrn Offizier und er sie. Bis sie im Alter von 23 Jahren an Tuberkulose starb und ganz in der Nähe begraben wurde.
Wir schwiegen alle vier betroffen. Beatrix bekam einen Schluckauf, der in unsere Stille patzte. Bastian lachte. Carina weinte im selben Moment los, als hätte jemand einen Stöpsel aus ihr gezogen. Wir ließen den Geist fahren und umsorgten sie. Carina schluchzte und schniefte, bebte und floss. Wir eilten nach Taschentüchern und Wasser, Bastian reichte ihr die Vase mit der Neige. Endlich atmete sie etwas ruhiger, trank in schnellen Zügen den Rest direkt aus der Vase, holte tief Luft und jaulte "Ich will weinn..."
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