Eine dicke grauweiß getigerte Katze sitzt im Fenster und begrüßt den Wanderer, der sich ans Ende der Hertzstraße in Pankow Wilhelmsruh verirrt. Ali Jindeel öffnet die Tür. Alte Dielen sind glänzend blank gewienert, auf Stangen hängen wie gehäutete Schmetterlinge zarte und bizarre Kleidungsstücke. Mäntel, Jacken, Blusen, Röcke. Aus Samt, Teppichen oder alten Fahnen genäht. Auch wenn die Temperaturen im November beinahe gegen Null gehen, Jindeel trägt Badelatschen an den nackten Füßen. Er nickt zur Begrüßung. Unter einer Strickkappe lugt kurzes dunkles Haar hervor. Eine Katze mustert den Eindringling und tippelt, uns voran, hinüber in die Werkstatt, wo ein überdimensionaler Schneidertisch den Raum beherrscht. Schnitte baumeln unter der Decke, dutzende, hunderte kleine Plastikboxen mit Knöpfen und Garnrollen stapeln sich an den Wänden, auf Regalen uralte Koffer, seltsame Nähmaschinen und ihre Artefakte. Über eine schmale Treppe folge ich Jindeel weiter ins Kellergeschoss. Nähmaschinen für das Säumen und Ketteln stehen auf Tischen, Regale sind mit Bordüren, Handtaschen und abermals Knöpfen gefüllt. In zwei weiteren Räumen türmen sich Ballen von Flies, Seide, Wolle und Fellimitat. Jindeel ist ein Sammler. Es ist nicht zu übersehen. Er lacht, als er erzählt, dass er vor acht Jahren mit nur einem Koffer nach Deutschland kam.
Wieder hinauf ins Atelier gelangen wir über eine andere Treppe, bevor ich die Luke schließe, blitzen mich zwei grüne Augen aus einem Stoffballen an. In Wänden und Türen erlauben unzählige Klappen den Katzen Rundgänge durch Jindeels Labyrinth. "Ich mach Kaffee", ruft er und flitzt eine weitere Leiter hinauf. Ich bemerke sie erst jetzt. Etwas Finkes durch eine Luke, während ich zögernd nach oben kraxele. Bald sitzen wir an einem großen Tisch, ringsum schöne kleine Details, verputzte Nischen, Barhocker in mintgrün. Das Wasser brodelt. Wir blicken hinaus in den herbstlich gefärbten Garten.
Das Haus haben Jindeel und seine Mitbewohner gemeinsam saniert, erzählt er, während er den Kaffee aufbrüht. Mindestens drei der Nachbarn sind Architekten, andere wollen es werden. Stück für Stück haben sie das Gebäude so gestaltet, wie es ihnen gefiel. Ali hat sich sein dreistöckiges, verwinkeltes Häuschen hineingebaut. Das Haus und seine Bewohner sind eine Familie für ihn. Seine leibliche Familie lebt in aller Welt verstreut. Jindeel ist im Süden Iraks geboren und aufgewachsen. Seither ist viel geschehen, was sie in alle vier Winde zerstoben hat. Er möchte es nicht benennen. Jindeel hat viele Stationen passiert: nach einem halben Ingenieurstudium im Irak geht er nach Jordanien, dort malt er und entwirft erste Kleider. Im Sudan arbeitet er als Wasserbohringenieur. Die letzten Stationen heißen Frankfurt, Aschaffenburg, Nürnberg, Berlin. Eigentlich hatte Jindeel nicht vorgehabt, nach Deutschland auszuwandern, erinnert er sich. Er hatte nach Kanada fliegen wollen und war auf halber Strecke in Frankfurt am Main auf dem Flughafen hängengeblieben. Dort kam ihm ein Film in den Sinn, den er als Kind gesehen hatte. Es war ein deutscher Film, und damals, als Junge, hatte er sich vorgenommen, eines Tages in dieser Sprache zu sprechen. Heute beherrscht er sie. Er legt den Kopf schief und streichelt zärtlich seinen Keramiktopf, in dem der Kaffee kalt wird.
In Berlin angekommen, arbeitet Jindeel in einem türkischen Stoff-Großlager, unter anderem. Genäht und entworfen hat er damals wie heute. Mittlerweile kann er von seiner Mode leben. Er lädt Kunden zu sich ein und beschneidert sie nach ihren Wünschen. Wir steigen wieder hinab ins Atelier, wo Jindeel mit melancholischer Geste die Schätze zeigt, die unter seiner Schere entstehen. Das Zuschneiden ist das wichtigste, erklärt er mir, seine Ideen entstünden nicht als Zeichnungen, sondern, wenn der Stoff auf dem Tisch liegt. Am Schnitt erkennt man den Mut des Schneiders. Jedes Kleidungsstück, das er fertigt, muss eine Geschichte erzählen. Wie die Handarbeiten, die Frauen in arabischen Dörfern sticken, denen Jindeel an den Farbnuancen ansehen kann, aus welchem Dorf sie stammen. Die Erfahrung, die in ihnen verarbeitet ist, machen ihre Schönheit aus. Manchmal trennt Jindeel Details aus diesen Stickereien und näht sie Blusen oder Mänteln an. "Ich habe eine Liebe zu den Menschen, die meine Sachen tragen werden", sagt er, und man glaubt es ihm. "Harmonisch und schön" sollen seine Kleider sein."
"Harmonisch" und "schön" sagt Jindeel oft und setzt die Begriffe in Kontrast zu "Politik" und "Militär", die er verabscheut, weil sie mit dem Verlust von Freunden und Heimat verbunden sind. Die Intensität dieses Gefühls von Verlust findet er in Gedichten wieder. Deshalb versucht Jindeel, Gedichte in seine Mode umzusetzen. Aus den siebziger Jahren stammt ein Poem von Mahmoud Derwisch für einen toten Freund, das ihn sehr berührte. Er schneiderte, den Klang der Worte im Ohr, eine Jacke aus azur schimmerndem Stoff. "Wie ein trauriges, blau glänzendes Gedicht", sagt er. Über die Patchworkarbeit gleiten silberne Spiralen, verspielte Nähte auf dunklem Grund.
Jindeel liebt seine Kleider. Seine Hingabe ist fast physisch zu spüren. Wenn er sich erregt, muss er aufstehen und herumgehen, oder was ihn umtreibt wenigstens mit Armen und Händen unterstreichen. "Für mich ist es mit der Mode wie mit dem Exil, kaum jemand versteht, was mich bewegt", sagt er. Was ihn beschäftigt, ist zum Beispiel, was mit all den Kleidern in der Welt geschieht. "Fährst du bei Karstadt die Rolltreppe hoch, ist da eine ganze Etage voller Kleider. Das macht mir Angst!" fährt er auf und hat sich schon wieder vom Stuhl erhoben. "Wer hat das alles gemacht? Und wo soll das alles hin?" Er würde gern Kleidern kleine Chips anhängen, wie Ornithologen sie Zugvögeln anklemmen, um herauszufinden, wo sie landen. Nach einem Jahr, ist er sich sicher, ist mehr als die Hälfte in Mülltonnen verschwunden, verottet, auf Unrathalden vermodert. Jindeel hat sich wieder gesetzt und streicht mit flachen Händen über den Tisch. Seine Katzen, sagt er, tragen ihr Fell doch auch seit dem ersten Tag und bleiben schön. Genauso sei es mit einem guten Kleidungsstück. Viele glaubten, was sie eben gekauft haben, sähe bald nicht mehr gut aus. Aber es sei nicht das Kleidungsstück, das sich verändert. Es fehlte den Leuten der Blick für die Kleider. "Man muss lernen, wie man sich wohl fühlt, in welchem Stoff, in welcher Farbe. Man soll Selbstvertrauen in seinen Schritten spüren. Wissen, welche Schuhe man trägt."
Jindeel hat seine Profession nie studiert, weil seine Familie es verboten hatte. Modemacher sei kein Beruf für einen Mann. Heute ist er froh, dass er niemals Regeln erlernt hat. "Ich arbeite ohne Regeln", sagt er. "Ich mache, was ich will." Aus einem Damenkleid mit handgestickten Blumen näht er ein T-Shirt für einen jungen Mann. Ein zitronengelbes Shirt mit nach außen gewendeten Nähten. Über Bauch, Brust und Schulter rankt sich die Stickerei. Er schüttelt den Kopf und verengt die dunklen Brauen. "Eine schreckliche Vorstellung, dass so ein Junge in den Krieg geschickt wird. Er wird Frauen und Kinder umbringen und dann in eine Gesellschaft zurückkehren, die so etwas auch noch normal findet!" Männer sollten feiner gemacht werden, findet Jindeel. Sich trauen, Farben zu tragen. Jindeel ist überzeugt, dass der Zauber der Kleider die Menschen verändern könnte. Trüge ein General ein Hemd von ihm, würde er keine Kriege führen. Er dächte an Kunst.
Jindeel verarbeitet alte Kleidungsstücke, an die Erinnerungen geknüpft sind, zu neuen. Wenn eine Frau ihren Mann wirklich liebt, führt er aus, füttert sie ihn. Er wird immer dicker, sodass er nicht mehr in seinen Anzug passt. Den Anzug kann man umschneidern, so dass aus dem alten ein neuer wird. Man kann ihn mit anderen Stoffen kombinieren, mit Teilen eines Abendkleids vielleicht, das seiner schönen, aber ebenfalls fülliger gewordenen Frau zu eng geworden ist.
Aus DDR-Fahnen hat Jindeel eine Jacke mit großer Kapuze genäht, sie erinnert ein wenig an ein Harlekinkostüm. Hammer und Zirkel schmiegen sich an die Brust, gelbrot prangen Ärmel und Kapuze. Auf alten Karteikarten sind seine Übersetzungen der Derwish-Gedichte notiert und Jindeel schiebt mir die Nummer 24 zu; "Wenn wir siegen, werden wir unsere schwarzen Banner auf Wäscheleinen hängen / danach machen wir Strümpfe daraus." Wir lächeln beide und betrachten die Katze, die wieder ihren Lieblingsplatz im großen Schaufenster eingenommen hat, unter einer Schneiderpuppe, die einen schottisch rotkarierten Zauberermantel trägt.
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