Beschwingten Schrittes komme ich am frühen Nachmittag aus meiner Stammkneipe, die ich vor allem deshalb so schätze, weil sie auf einer Anhöhe liegt, man in der Sonne sitzen und einen wundervollen Ausblick auf eine äußerst belebte Kreuzung genießen kann.
Vergnügt pfeifend suche ich meine Wohnungsschlüssel, freue mich, dass ich schon beim zweiten Anlauf das Schlüsselloch treffe und lasse mich erschöpft in einen Sessel fallen. Geschafft! Neun bunte Zeitschriften durchgeackert, fünf große Bier und ein mittelprächtiges Bauernfrühstück verkonsumiert - Sonne macht durstig und hungrig -, zwei Verkehrsunfälle beobachtet - leider nur Blechschaden - und ein wenig mit der freundlichen Wirtin geplaudert. Was ist das Leben doch spannend und amüsant!
Mein Blick fällt auf den kleinen schwarzen Kasten neben dem Telefon. Ich liebe meinen Anrufbeantworter. Lässig tippe ich auf die Taste ganz links. Ich war berühmt, von mir sprach man in ganz Spanien ... Heute sitze ich allein zu Hause und gieß Geranien ..., schmettert er mir entgegen. - Manche Leute rufen kaum noch an, weil sie das Lied nicht mehr hören können. Eigentlich schade. Ich bin nach wie vor entzückt. Was hat die Wende uns doch für wunderhübsche Dinge beschert!
Ich schaue auf das Display an der Stirnseite des Apparates. Eine rote Sechs blinkt aufgeregt ins Zimmer. Erwartungsfroh betätige ich die Taste »Replay«. Ein bisschen stolz bin ich schon, wie weltfraulich mir diese ausgeklügelte Technik so von der Hand geht.
»Knirsch brrr krrch roch knarr ...« Aus Erfahrung weiß ich, das geht jetzt eine Minute lang. Das ist zwar etwas unangenehm, aber leider nicht zu ändern. Nach wochenlangen vergeblichen Versuchen, die Telekom für mein Problem zu interessieren, erbarmte sich dann ein hilfsbereiter privater Entstörer. Das läge an der maroden Ostleitung, die eben deshalb ununterbrochen knattere und röchle. Nun sei dieser wunderbare kleine Westapparat an dergleichen natürlich nicht gewöhnt und halte dieses Knattern und Röcheln für Suaheli oder Mongolisch; jedenfalls für eine Sprache.
Vorschriftsmäßig spult das Gerät sein Band ab. Zwei herzzerreißende Hilferufe meiner leicht debilen Tante Ilse - ich möge ihr doch umgehend mitteilen, wann in diesem Jahr Weihnachten wäre -, danach eine aufgebrachte Männerstimme, die mich drohend auffordert, die angelieferten Gartenmöbel endlich zu bezahlen - ich besitze überhaupt keinen Garten -, dann wieder eine Minute Knattern und Röcheln. Schon will ich mich enttäuscht abwenden, da dringt eine fremde Frauenstimme an mein genervtes Ohr. »Anne, entschuldige, dass ich dich störe. Hier ist Editha. Du bist doch eine erfahrene Frau ... Ich brauche dich. Ich bin völlig verzweifelt. Kannst du morgen? Ich warte um 14 Uhr im Kalkutta auf dich. Du bist selbstverständlich eingeladen.«
Bei dem Gedanken ans »Kalkutta« läuft mir das Wasser im Munde zusammen: Lamm Biryani oder Chicken Korma mit Blumenkohl-Pakoras als Vorspeise, zum Dessert vielleicht gebackene Banane auf Haselnusseis, garniert mit Cashewkernen ... Dazu einen gepflegten Weißwein, womöglich Edler vom Mornac, zum Abschluss einen Mango-Likör ... Leider kann ich mir solche Köstlichkeiten aus eigener Tasche nicht mehr leisten. Aber morgen! Editha, ich werde da sein. Eine erfahrene Frau kommt zu dir geeilt! Breite deine geschundene Seele vor mir aus, und zwischen Lamm und Mango-Likör wird dir jeder erdenkliche Rat zuteil werden. Was mag es sein, was die gute Editha bedrückt? Sicher Liebeskummer. Frauen haben ständig Liebeskummer. Editha, dein wundes Herz ist bei mir in den besten Händen. - Tandoori-Hühnchen mit Basmati-Reis wäre auch nicht zu verachten.
Plötzlich durchzuckt ein Gedanke mein biertrunkenes Hirn. Wer, zum Teufel, ist Editha?
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Pünktlich um 14 Uhr betrete ich das »Kalkutta«. Ohne Vorwarnung werde ich an eine üppige Brust gepresst. »Anne, Liebes, dass du gekommen bist! Ich warte bereits seit einer Stunde auf dich ...« Hoffentlich hat sie nicht schon gegessen, ist alles, was mir im Moment einfällt. Antworten kann ich nicht, da ich die wenige Luft, die mir verbleibt, zum Atmen benötige.
Just in dem Augenblick, in dem ich fürchte, ohnmächtig zu Boden zu sinken, werde ich von zwei kräftigen Händen in einen Sessel gedrückt. Vor meinem Gesicht schwingt in bedrohlicher Nähe eine massive Goldkette. Entsetzt schließe ich die Augen. Erst als mir liebevoll ein Kognak eingeflößt wird, wage ich es, meine Umgebung zu sondieren. Vor mir sitzt eine Frau gewaltigen Ausmaßes. Rubens wäre vor Begeisterung der Pinsel aus seiner begnadeten Künstlerhand gefallen. - Das also ist Editha!
»Na, Anne, da staunst du? Hast mich nicht erkannt, gelle? Weil ich so fett geworden bin, stimmt´s?« Editha lacht, dass die Gläser auf den Tischen im Umkreis von mehreren Metern zu scheppern beginnen. Ängstlich blicke ich mich nach der Bedienung um. Hoffentlich schmeißt man uns nicht schon vor dem Essen raus. Zwei Kellner stürzen zwar herbei, jedoch nur, um dezent einige Gläser in Sicherheit zu bringen und uns die Speisekarte zu offerieren. Ich registriere es mit Erleichterung.
Anne, rufe ich mich zur Ordnung, jetzt hör´ mal auf, an die Fresserei zu denken. Interessiere dich lieber dafür, wer Editha ist und woher du sie kennst. Regelrecht leidgeprüft wirkt sie eigentlich nicht. Nach dem Anruf hätte ich eher erwartet, ein in Tränen aufgelöstes zartes Geschöpf vorzufinden, aber nicht diese dröhnende Wuchtbrumme.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, versuche ich mich vorsichtig heranzutasten. »Das kann man wohl sagen.« Editha nickt heftig. Hm. Sehr ergiebig ist diese Antwort nun gerade nicht. Wenn ich bloß wüsste, ob ich mit ihr mal ... Nee, kann nicht sein. Eine Frau von knapp zwei Zentnern gehörte unter Garantie nicht zu meinen Eroberungen. Obwohl, früher war sie ja noch nicht so ausladend. Hat sie selbst zugegeben. In meiner Sturm- und Drangzeit könnte sie mir schon mal untergekommen sein. Warum kann diese fette Person nicht einfach klipp und klar sagen, dann und dann und dort und dort sind wir uns begegnet. Na gut, sie tut es einfach nicht. Vielleicht bringt mich die Frage nach ihrem werten Befinden der Lösung näher.
»Was hast du denn auf dem Herzen?« versuche ich meiner Stimme einen mitfühlenden Tonfall zu verleihen.
»Ach, Anne, es ist immer dasselbe. Du weißt schon.« Ihrem bebenden Busen entweicht ein langer Seufzer, und eine feuchtwarme Hand landet auf meinem linken Knie. Ich bekomme einen mordsmäßigen Schreck. Gottlob werden im nächsten Moment meine Samosas mit Pfefferminzsauce und Edithas Vorsuppe serviert. Während Editha mit dem Löffel versonnen in ihrer Suppe rührt, beschäftigt sich ihre andere Hand weiter intensiv mit meiner Kniescheibe. Die Samosas wollen mir nicht recht munden. Ich setze alle Hoffnung auf den Hauptgang. Tandoori-Hühnchen muß man einfach mit beiden Händen essen!
Und richtig. Mit Messer und Gabel fuhrwerkt Editha durchs indische Geflügel. Dankbar wünsche ich ihr guten Appetit. - Zu früh gefreut. Unterm Tisch entwickelt sich ein reges Treiben. Editha hat sich offenbar ihrer Pumps entledigt und ist mit zunehmendem Erfolg damit beschäftigt, ihre seidenbestrumpften Füße in meine Hosenbeine zu zwängen. Verzweifelt rücke ich meinen Sessel näher zur Wand. Das verschafft mir ein wenig Abstand, dummerweise komme ich nun aber nicht mehr an meine Sieben Indischen Kostbarkeiten. Ich spiele mit dem Gedanken, den Teller auf den Schoß zu nehmen. Vergiss es, sage ich mir, dann hättest du was anderes bestellen müssen. Sieben Indische Kostbarkeiten kann man nicht auf einem Schoß unterbringen.
Auf Banane mit Haselnusseis habe ich auch keinen Appetit mehr. »Willst du noch etwas zu trinken, Liebes?« flötet Editha. »Ja«, sage ich, »einen Kognak, am besten gleich einen dreifachen.« Sekunden später steht eine Flasche »Napoleon« vor mir. Na los, sagt meine innere Stimme, sauf sie dir schlank. In diesem Augenblick packt Editha meine Hand, um sie in eine der vielen Speckfalten unter ihrer Brust zu stopfen. »Fühlst du, wie mein Herz schlägt«, stößt sie röchelnd hervor. Ich reiße mich los und flüchte aufs Klo. Der Ausgang ist gleich daneben.
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Diesmal ist ein großer Möbelwagen umgestürzt. Kein Wunder, schließlich ist er mit Karacho in eine vollbesetzte Straßenbahn gerast. Die Fahrgäste verlassen taumelnd die Bahn, der Fahrer des Möbelwagens steht staunend vor den etwa zweihundert Einzelteilen eines ehemals intakten Schlafzimmers. »Na«, sagt die freundliche Wirtin, während sie mir ein großes Bier hinstellt, »Essen wie immer?«
»Logisch«, sage ich. Sie lacht mich an und verschwindet hinter der Theke. Eine nette Frau, konstatiere ich und vertiefe mich wieder in meine bunten Journale.
»Darf ich Sie mal was fragen? Sie lesen so viel, und da denke ich mir, Sie sind doch eine erfahrene Frau ...«
Vor Schreck fällt mir fast das Bierglas aus der Hand. Entgeistert blicke ich auf die freundliche Wirtin. Geht das schon wieder los?
»Wissen Sie vielleicht, wie man eine Steuererklärung ausfüllt?«
»Klar«, sage ich euphorisch, »das ist eine meiner leichtesten Übungen.«
Ist es nicht schön, hier in der Sonne zu sitzen, bei Bier und Bauernfrühstück, und keine feuchtwarme Hand auf den Knien. - Und jetzt ist auch noch ein Mercedes auf die ramponierte Straßenbahn aufgefahren.
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