Ich kaufe, also bin ich

Feindbilder Oktober: Kontostand 5.700 Soll ...

Oktober: Kontostand 5.700 Soll

Manche Leute lassen sich tätowieren, um zu fühlen, dass sie noch am Leben sind. Wenn ich etwas kaufe, ist das ähnlich.

Ich arbeite nicht. Von Leuten, die arbeiten, weiß ich, dass ihre sozialen Kontakte durch die tägliche Verpflichtung in Mitleidenschaft geraten. Arbeit macht asozial. Ein Kellner fällt in der Prüfung durch, wenn er kein Feuerzeug in der Tasche hat - ein Kellner ohne Feuerzeug ist ein schlechter Kellner. Was sind das für Maßstäbe? Das ist aber nicht der Grund dafür, dass ich es nicht tue. Ab und an tue ich es ja auch, aber nur ein bis zwei Mal im Monat. Mein Hals schnürt sich selbst dann schon zusammen, wenn ich weiß: Morgen ist dieses eine Mal, morgen gehe ich arbeiten. Morgen gehe ich Geld verdienen.

Was ist eigentlich so schrecklich daran? Man bekommt eine Tätigkeit, zu der man befähigt ist, ausgezahlt. - Ganz klassisch. Es ist auch nicht die Arbeit an sich, es ist das Ausgezahltwerden. Jedes Mal würde ich mich liebend gern unterm Tresen verstecken. "Nein danke, gut gemeint, ist schon o.k., hab´ ich doch gern´ getan ..." Aber dann zerren sie einen unterm Tresen hervor, drücken einem Scheine in die Hand - und lassen einen damit allein. Allein mit dem Geld. Gehört das zum "Erwachsensein", Verantwortung zu übernehmen für bedruckte Scheine? Alleine mit Geld fühl ich mich noch einsamer. Irgendwie hilflos und ausgeliefert. Es gibt auch Leute, die können das genießen, ausgezahlt werden. Die fühlen darin eine Art Gerechtigkeit. Ich finde das ungerecht, wenn mich jemand allein lässt mit Geld.

Auf dem Nachhauseweg laufe ich an den großen Glasfenstern dieses Wahnsinns vorbei. Schuhe! Schöne Schuhe! Was kosten die denn? Sind die entzückend! Was, 249,-? Das ist aber billig, äh teuer, äh, was denn eigentlich? 249,- für ein gutes, entzückendes Paar Schuhe kann doch nicht viel sein - nicht, wenn man sie unbedingt haben will. Habenwollen ist ein unglaubliches Gefühl. Es durchschießt den Körper wie ein Blitz. Man hört sein Herz klopfen. Das ist wie Fremdgehen - nur in Ordnung. Habenwollen ist ein unglaublich legales Gefühl, das sich verboten anfühlt. Eine riesige Schlucht tut sich auf, zwischen Habenwollen und kaufen.

Am liebsten würde ich der Frau neben mir, die gerade die hübschen roten Schuhe probiert, mein Geld in die Hand drücken und sagen: "Nehmen Sie das Geld ... verhalten Sie sich unauffällig, gehen Sie zur Kasse, verlangen Sie die entzückenden, schwarzen Stiefeletten in Größe 40, bezahlen Sie, und wir treffen uns zur Übergabe vor der Tür ..." Aber das geht nicht. Ich muss Verantwortung übernehmen. Scheiße!

Ich rufe meinen Freund an. Einen jungen Mann, der mitten im Leben steht ... mit beiden Füßen. Er hat große Füße, wenn Sie wissen, was ich meine. Er fragt: "Wo bist du denn, Schatz?" "Frag´ nicht." "Oh nein, doch nicht etwa wieder im Schuhladen?" Wie ein kleines Mädchen beiße ich mir beim Ertapptfühlen auf die Unterlippe. Es ist so erniedrigend. Reicht es nicht, dass ich tatsächlich schon wieder hier sitze, muss er es mit vorwurfsvollem Ton erraten haben? Der Ledergeruch macht mich high, und ich will nur noch, dass er herkommt und mich erlöst. "Hab´ keine Zeit, muss arbeiten ..." "Bitte, bitte, nur ´ne halbe Stunde." Ich führe mich auf wie ein Kind. "Ne, geht nicht. - Hast du nicht genug Schuhe? Brauchst du die?"

Ob ich die brauche? Er versteht nicht, worum es hier geht. Alle rationalen Gedankengänge sind hier ausgeschaltet. Betäubt vom Geruch des neuen Leders. Es geht hier nicht darum, ob ich irgendetwas brauche. Wenn es danach ginge, hätte ich vermutlich seit drei Jahren keinen Laden mehr betreten. Hier geht es um Bares! Es geht darum, sich auf schnellstem Wege des Geldes zu entledigen. Sich rein zu waschen. "Du hast doch so viel Schulden bei der Bank. Bring doch dein Geld aufs Konto." Das kann ich nicht. Da hätte ich ja dann wieder mit Geld zu tun.

Weil mir keiner helfen kann, weiß ich, dass ich das hier alleine durchstehen muss. Die Verkäuferin hatte mir vor zwei Monaten Ladenverbot erteilt, weil ich so viele Schuhe gekauft hatte, dass selbst sie meinte, es wäre doch nun genug.

Ich sitze auf der schmalen Bank, genieße die Ruhe vor dem Sturm, das Rascheln der Verpackungen, die Geräusche der Absätze beim Probelaufen. Ich sammle mich. Das ist wie die Gewissheit, seine letzte Stunde in diesem Laden zu verbringen. Dieser Zustand ist schwer zu beschreiben. Wie in Trance sitze ich da, fange an zu schwitzen. Adrenalin spritzt mir durch die Adern, als ich mich auf die Kasse zu bewege. Ich meine, ich kann den Leuten hier keinen Vorwurf machen, der Laden ist wunderbar gemütlich eingerichtet, die Kasse sehr unauffällig. Bezahlen wird hier sehr diskret behandelt ... und dennoch, ich weiß, was gleich auf mich zukommen wird. Ich versuche zu lächeln. "Die sollen es sein? Gute Wahl, Sie werden sehr viel Freude damit ..." Ja, ja, Schnauze jetzt, ich muss mich konzentrieren!

Eine Wahnsinnsspannung baut sich auf. Ich bin Opfer und Täter gleichzeitig. Diesen Zustand fühle ich sonst nie. Opfer und Täter vor mir selbst. Ich schiebe die Scheine über die Theke, schaue dabei nach oben, wie bei der Blutabnahme. Höchste Spannung. Ich spüre, wie jemand auf der anderen Seite an den Scheinen zieht, ein erlösender Schmerz, wie wenn die Nadel eindringt. Es ist gleich überstanden, höre ich eine innere Stimme, wie eine Krankenschwester flüstern. Sie streicht mir über den Kopf, als ich den Karton in Empfang nehme. Das war ein sauberes Geschäft, würden Verbraucherzentralen kommentieren. Aber ich fühle mich beschmutzt und geschwächt.

November: Kontostand: 6.700,- Soll

Ich habe ein zweites Konto eröffnet. Berliner Volksbank, 1.000 Dispo - ohne Diskussion. Visa, Master ... alles, was dazugehört. Seit zwei Tagen habe ich keinen Cent Bares in der Hand. Ich fühl´ mich wohl. Nie hätte ich gedacht, dass man ohne Bargeld so weit kommt. Superspar: EC, Douglas: VISA, H Master. Ich bin so frei! Ein kleines Hochgefühl macht sich breit. Es kratzt mich einfach überhaupt nicht, was ich, wann, wo bezahle, solange die Kreditkarten nehmen.

Ich habe den Kontakt zu meinem Geld abgebrochen. Habe eine lange, nervenzehrende Beziehung beendet.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden