Die Kunst des Neinsagens

Schweinehund Karl-Heinz Ott hat seinen zweiten Roman "Endlich Stille" einer unheimlichen Begegnung gewidmet

"Sechzehn Wege, das Nein zu vermeiden", heißt das Buch, das der namenlose Ich-Erzähler in Karl-Heinz Otts neuem Roman am Morgen in Amsterdam kauft, bevor er sich, mit einem kleinen Umweg über Straßburg, auf den Weg nach Basel macht, wo er an der Uni als Philosophiedozent mit Spezialisierung auf Spinoza tätig ist. Eigentlich weiß er auch nicht so recht, warum er das Buch gekauft hat, denn er beherrscht das Niederländische kaum, das Einzige, was er einigermaßen versteht, ist der Klappentext. Der aus dem Japanischen übersetzte Ratgeber richtet sich vor allem an Wirtschaftskräfte und Diplomaten, die lernen sollen, wie man ein "nein" zu verstehen gibt, ohne es direkt auszusprechen. Genau das wird das Problem des Erzählers werden. Denn ein paar Stunden später kommt es zu einer unerhörten Begebenheit, die das Buch, die Begegnung mit einem undurchsichtigen Musiker und ein Kinoticket, das im Buch steckt und den Erzähler an einen Film über einen perfekten Mord (oder war es ein Unfall?) erinnert, auf kunstvolle Art mit einander verbindet.

Der Erzähler war "diesem Menschen am Ausgang des Straßburger Bahnhofs begegnet, genauer gesagt, wir waren bereits auf dem Bahnsteig nebeneinander hergegangen, die Treppen hinab, die Treppen hinauf und durch die Eingangshalle immer noch nebeneinanderher, als gehörten wir zusammen, und als wir am Portal vor dem weiten, kahlen, von keinem Baum gesäumten Platz standen und wie auf eine choreographische Anweisung hin die Koffer im gleichen Augenblick abstellten und geradeaus starrten, als müsste jeder von uns einen Plan fassen, fragte er mich: ›Suchen Sie auch ein Hotel?‹" Es wird eine lange durchzechte Nacht, in der der Fremde sein Innerstes nach außen zu kehren scheint und der Erzähler mehr und mehr befremdet ist, und ihm am Ende eine falsche Adresse gibt. Vier Monate später, der Fremde hat ihn längst ausfindig gemacht, muss der Erzähler erkennen, dass diese Begegnung sein Leben stärker verändert hatte als alles zuvor.

Der Gegenspieler, Friedrich Grävenich, ist maßlos und ungeniert in allem, ob es nun Essen, Trinken, Frauen oder Musik sind. "Während ich immer noch an meinem ersten Glas nippte, hatte er bereits die zweite Flasche halb leergetrunken, und nur wenn er, wie ich es sonst noch bei niemandem beobachten konnte, mit einem einzigen tiefen Zug von der Zigarette einen ganzen Fingerbreit wegrauchte, sein Brustkorb sich dabei wölbte und erst nach einem intensiven Innehalten der Qualm durch die Nasenlöcher strömte, herrschte für eine Weile Stille an unserem Tisch."

Langweilig ist der unheimliche Gast nicht, im Gegensatz zu dem Spinozaforscher, der ein Leben in der Basler Altstadt zwischen Fakultät und Wohnung führt, aus der die Freundin gerade ausgezogen ist, in ein offensichtlich aufregenderes Leben. Des Forschers Beschäftigung mit dem Gegenstand ist längst zum Ritual immer wiederkehrender Seminarstunden erstarrt. Nun erst, in dieser sehr realen Begegnung, muss er über die Spinozasche Negation der individuellen Bestimmtheit ("omnis determinatio est negatio - Jede Bestimmung ist eine Verneinung") noch einmal neu nachdenken. Und über diesem Nachdenken verliert er nach und nach das Gefühl für das Naheliegende: den unheimlichen, ungebetenen Gast in hohem Bogen aus der Wohnung zu werfen. Denn dort hat der sich inzwischen eingenistet, schnarcht, massiert sein Gemächt, rülpst ins Marmeladenglas, lebt von fremdem Geld und redet, redet, redet.

Dass er nicht der ist, der er vorgibt zu sein, das hat der Wissenschaftler längst herausgefunden. "Ich wollte meine tote Mutter auferstehen lassen, um in den nächsten Tagen ihren Besuch zu erwarten, und Marie wollte ich in meine Geliebte zurückverwandeln, die bereits die Koffer gepackt hat, um erneut bei mir einzuziehen. Sollte er dann immer noch nicht gehen, würde ich seinen Kleiderhaufen vor die Tür werfen und ..." Letztendlich gelingt es ihm nicht - er ist zu feige, in einem bestimmten Moment Nein zu sagen, und später kann er es nicht mehr. Der sesshafte Professor aus einem Puppenhausbasel verwandelt sich mehr und mehr dem in den übelsten Absturzkaschemmen trinkenden Nomaden an, den er eigentlich loswerden möchte. Am Ende ist man geneigt zu fragen, ob die beiden Gegenspieler nicht eigentlich eine Person sind - der Philosoph und sein nach außen gekehrter Schweinehund, den es abzuschütteln gilt - koste es, was es wolle.

Da ist der Leser aber bereits reif für das, was geschieht. Man ertappt sich dabei, den Erzähler bei dem finalen Versuch, Grävenich loszuwerden, innerlich anzufeuern, auch wenn man längst registriert hat, dass der Fremde auch nicht mehr ist als ein armes, nervendes Würstchen ohne Identität.

1997 hatte Karl-Heinz Ott seinen ersten Roman veröffentlicht, Ins Offene, die Geschichte des Lebens und Sterbens der Mutter, der nicht nur bei Juroren große Beachtung fand. Für seinen zweiten Roman hat Ott sich glücklicherweise Zeit gelassen, auch wenn Autoren von Verlagen immer wieder suggeriert wird, ihr Name werde auf dem schnelllebigen Buchmarkt sofort getilgt, wenn sie nicht nach dem ersten Roman sofort den nächsten schreiben. Karl-Heinz Ott hat dem nicht nachgegeben, und es hat seinem Buch, das von der Gattungsbezeichnung her mehr Novelle als Roman ist (aber Bücher, auf denen Novelle steht, verkaufen sich nun mal schlechter) gut getan. Der Preis ist freilich hoch, denn wovon lebt ein Autor in der Zwischenzeit, wenn er nicht Philosophieprofessor in Basel ist?

Bei allem Lob möchte die Rezensentin doch zugeben, dass sie, müsste sie sich bei einer Flucht für eines der Bücher von Karl-Heinz Ott entscheiden, den ersten Roman Ins Offene mitnehmen würde. Denn bei aller sprachlicher Meisterschaft, den wunderbar langen Sätzen, die am Ende immer wieder am Boden ankommen, der an der Musik geschulten Rhythmik und der Komposition von Endlich Stille hat das Buch - verständlicherweise und dem Gegenstand geschuldet - nicht die Zärtlichkeit der Beschreibung, die dem ersten Buch innewohnt.

Karl-Heinz Ott: Endlich Stille Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, 208 S., 17,95 EUR


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