Die Griechen, die während der Militärdiktatur Exil in der DDR gefunden hatten, brachten ein anderes Licht in unsere Sprache, ein Mittelmeerlicht, von dem wir nicht glaubten, es jemals zu sehen. Sie übersetzten uns die Gedichte von Odysseas Elytis, Giorgos Seferis, Konstantinos Kavafis, Jannis Ritsos. Und vermittelten uns mit der Literatur die Musik von Mikis Theodorakis, der Texte fast aller dieser Autoren vertont hat, auf andere Weise, als wir es bis dahin kannten. Daran musste ich oft denken in den letzten Wochen, wenn ich mich geschämt habe angesichts des von Überheblichkeit geprägten Bildes, das die deutschen Medien über „die Griechen“ vermittelten.
Die in den 50er und frühen 60er Jahren in der DDR Geborenen lassen sich einteilen in die, die in der Schule Solidaritätspostkarten an Mikis Theodorakis und die, die an Angela Davis ins Gefängnis schreiben mussten. Als ich schreiben lernte, war Angela Davis gerade aus dem Gefängnis entlassen und Theodorakis in Ungnade gefallen, weil er gewagt hatte, die Sowjetunion zu kritisieren. Später versuchte die FDJ, ihn und seine Musik wieder zu vereinnahmen, ihn zu umarmen, was hieß, ihn ungenießbar zu machen für jene, die ihre Ideologie ablehnten. Theodorakis hat sich da nicht besonders wohlgefühlt, aber er hat es auch nicht verhindert. Ostberlin war eine Station auf seinem Weg um die Welt. Seitdem wird er von Asteris Kutulas, einem jener in der DDR aufgewachsenen Exilgriechen, begleitet, als Übersetzer, Produzent und Filmemacher, der zusammen mit seiner Frau Ina Kutulas unzählige Texte griechischer Autorinnen und Autoren ins Deutsche übertragen und herausgegeben hat. Ein „deutscher Grieche“, wie er sich selbst nennt.
Am Vorabend von Theodorakis’ 90. Geburtstag stellt Kutulas in einem plüschigen alten Kino in der Athener Innenstadt sein work in progress vor, den Film Dance Fight Love Die. Es ist eine Collage aus Spielszenen, Backstage-Videoschnipseln, Interviews mit Theodorakis und Aufführungen in aller Welt. Der Film rekapituliert auch das Leben des oft umstrittenen Komponisten, der nie nur Künstler war, sondern immer auch einer, der sich eingemischt hat in die Politik, was ihm Folter, Gefängnis, Verbannung, Exil und zuletzt, vor vier Jahren, eine Augenverletzung durch einen Tränengasangriff bei den Protesten auf dem Syntagma-Platz eingebracht hat. Theodorakis war sein ganzes Leben ein intellektueller Freigeist, eine autonome Republik im besten Sinne des Wortes. Nun, am Ende seines Lebens, muss er konstatieren, dass nichts besser geworden ist in Griechenland, dass nach Faschismus, Bürgerkrieg, Junta und korrupten Regierungen der Neoliberalismus das Klima vergiftet und die Würde der Griechen verletzt.
Zur Voraufführung des Films sind Freunde und Weggefährten des Komponisten gekommen, Musiker der Theodorakis’schen Entourage, junge Schauspielerinnen, Übersetzerinnen und Cutterinnen, griechische und deutsche Dokumentarfilmerinnen und Dokumentarfilmer und sogar ein junger Pianist vom Kreuzfahrtschiff Europa 2, der den Komponisten erst vor kurzem für sich entdeckt hat und nun auf hoher See spielt.
Schäuble-Analyse im Taxi
„Als sich in jenen Tagen die schlechten Nachrichten in der Hauptstadt häuften“, heißt es in meinem Lieblingsstück von Mikis Theodorakis, Axion Esti, mit dem Text von Odysseas Elytis. In Athen ist es still. Eine Stille vor Erschöpfung aus Vergeblichkeit. Das OXI des Referendums hat sich über Nacht ins Gegenteil verkehrt. Alles schmeckt nach Niederlage. Sisyphos liegt am Fuß des Bergs unter seinem Stein, er weiß, dass es nichts bringt, ihn wieder hochzurollen. Demnächst kommt die Treuhand und nimmt ihm den Felsbrocken weg, um ihn zu verkaufen, als Beitrag zu den 50 Milliarden Euro, die in einem Treuhandfonds gesichert werden sollen. Dann hat er noch nicht einmal mehr Arbeit. Die Troika ist zu viert zurück und müsste eigentlich Quadriga heißen. Der Ausgang der Krise ist ungewiss. Ein in die Länge gezogenes Sterben, sagen die, mit denen ich gesprochen habe, einhellig.
Nachts im Taxi diskutieren ein griechischer und ein deutscher Theodorakis-Interpret über Wolfgang Schäuble. Der deutsche Pianist versucht dem Griechen die Mentalität der Schwaben zu erklären. „Sie waren früher sehr arm, dann sind sie durch Fleiß und Geiz reich geworden und nun haben sie permanent Angst, ohne eigenes Zutun wieder arm zu werden, weil alle anderen aus ihrer Sicht faul und verschwenderisch sind. Und das kalte, feuchte Klima dort spielt natürlich auch eine Rolle.“ Der griechische Geiger nickt, keine Ahnung, ob er damit wirklich etwas anfangen kann.
Im Hotel sehe ich nachts auf dem von Alexis Tsipras wiedereröffneten Staatssender ERT eine Talkshow mit Theodorakis, die so ganz anders ist als im deutschen Fernsehen. Die Diskutanten sitzen an langen, mit karierten Decken geschmückten Tischen, essen, trinken und diskutieren und ein Teilnehmer nach dem anderen steht auf und interpretiert einen Theodorakis-Song. Ich erkenne, weil ich kein Wort verstehe, nur an seinem Gesicht und dem Gestikulieren seiner Arme, ob er mit der Interpretation etwas anfangen kann oder nicht. Aber es ist eine große Konzentration im Raum.
Am nächsten Morgen bin ich zu einer Pressekonferenz ins Außenministerium eingeladen. Vorgestellt wird der Plan für ein Festival im Januar 2016, Hellas Filmbox Berlin, es soll ein Beitrag sein, um die vergifteten Beziehungen auf kulturellem Wege wieder zu verbessern und dem deutschen Publikum Einblick in das aktuelle künstlerische Filmschaffen Griechenlands zu geben. Dass das im Interesse beider Seiten liegt, zeigt die Tatsache, dass der Außenminister den Initiatoren, der Deutsch-Griechischen Kulturassoziation, einen Tagungssaal zur Verfügung gestellt hat und selbst anwesend ist. Auch der griechische Kulturminister ist gekommen und der Kulturattaché der deutschen Botschaft in Athen. Als eine junge griechische Journalistin ihn fragt, welchen griechischen Film er am meisten möge, bringt er die Notwendigkeit eines solchen Filmfests auf den Punkt, indem er einen amerikanischen Film, My Big Fat Greek Wedding, nennt. Die Griechen am Tisch nehmen es gelassen. Man kann die deutsche Botschaft ja, quasi als Weiterbildung, zum Festival einladen.
Am Abend seines Geburtstages ist es eher der aufrechte Grieche Theodorakis, der im Garten der Megaron-Konzerthalle von Tausenden Menschen gefeiert wird, als der Kosmopolit und Libertär, dessen ganze Breite seines Schaffens, die Lieder, Requiems, Sinfonien, Ballette in aller Welt aufgeführt werden. Es herrscht Volksfestatmosphäre, die Leute haben Campingstühle, Decken, Kinder, Hunde und Picknickkörbe mitgebracht, das Volksorchester Mikis Theodorakis spielt. Es wird geschwatzt, getanzt und mitgesungen und für einen Augenblick die ganze Krise vergessen. Nur das Geburtstagskind ist zu Hause geblieben. Asteris Kutulas berichtet, der Jubilar habe zu Hause in seinem Liegesessel das Basketballspiel Litauen-Türkei gesehen, im Hintergrund der Parthenontempel. Nur unwillig habe er sich zum Tortenessen überreden lassen und dann davon gesprochen, dass die ungeschriebene Musik in seinem Kopf ihn nicht ruhen lasse.
Beifall, der beschämt
„Höre, reine Sonne der Gerechtigkeit, gleichfalls du, gepriesner Myrtenzweig: Nie, ihr beiden, bitte nie, bringt mein Land in Vergessenheit“, singen die Menschen für Theodorakis im Garten unter den Bäumen. Zum Schluss kommt Konstantin Wecker auf die Bühne und entschuldigt sich für die deutsche Politik, bevor er zusammen mit einer Opernsängerin ein Lied aus dem Mauthausen-Zyklus interpretiert. Die Konzertbesucher spenden ihm lange Beifall. Ihre Großzügigkeit beschämt mich.
In Kutulas’ Film sagt Mikis Theodorakis am Ende, dass die Erde ohne Menschen besser aufgehoben sei. „Der Mensch ist ein Missklang. Er zerstört alles und wenn er alles zerstört hat, zerstört er sich selbst.“ Er erzählt es mit einer so heiteren Gelassenheit, dass es einem nicht wie eine Niederlage vorkommt. Auch wenn es in einer Welt ohne Menschen keine Musik gibt.
Spät in der Nacht setze ich mich in einen Straßenimbiss im Anarchistenviertel. Es sind immer noch 30 Grad. Aus den Lautsprechern kommt Theodorakis und auf zwei riesengroßen Flachbildschirmen läuft auf ERT 1 ein deutscher Film mit griechischen Untertiteln, in dem der Schauspieler Matthias Brandt von einer Frau windelweich geschlagen wird.
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