Manfred Fischer ist Pfarrer einer Kirche, die auf dem Todesstreifen stand. Damals versuchte er, seine Gemeinde zusammenzuhalten. Heute traut er Paare aus Ost und West
Aus dem Treppenhausfenster des Gemeindehauses Bernauer Straße 111 kann man die Mauer sehen. Einen kleinen Ausschnitt, vielleicht zehn Meter breit, mit einer Röhre auf der Oberseite, die verhindert, dass die Hände Halt finden, sollte jemand versuchen, auf die andere Seite zu kommen. Auf dem grauen Beton war mal eine Inschrift, die weggewischt worden ist. Nur ein "daß" ist noch zu entziffern. Man könnte meinen, im falschen Film gelandet zu sein. Oder in einem Alptraum, in dem man sich nicht auf der Seite befindet, die bunt bemalt ist, sondern auf der anderen, der grauen. Und noch mal alles von vorn.
Aber es beginnt nicht von vorn. Das von zwei Stahlplatten gerahmte 70 Meter lange Stück "Grenzmauer 75" mit Todesstreifen und Hinterlandmauer, ist eines von drei Teilen der Gedenkstätte Berliner Mauer. Im Gemeindehaus befindet sich das Dokumentationszentrum, auch die Kapelle der Versöhnung auf der anderen Straßenseite gehört dazu. Auf dem geharkten Teil des Todesstreifens sprießt Gras. An der Hinterlandmauer bewegen sich 20 bunte Regenschirme.
Fast könnte man sagen, auch der Pfarrer der Versöhnungsgemeinde, Manfred Fischer, sei Bestandteil der Gedenkstätte. An diesem grauen Oktobermontag hat er die Jalousien in seinem Büro heruntergelassen, damit ihn an seinem Ruhetag niemand stört. Das Haus wurde 1965 als Zentrum der Versöhnungsgemeinde gebaut, sagt er. "Bewusst als Gemeindehaus. Nicht als Kirche." Denn die gab es ja schon. Nur war sie unerreichbar für ihn und die Kirchengemeinde.
Manfred Fischer, der heute Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Vereins Dokumentationszentrum Berliner Mauer ist, wurde 1975 als junger Pfarrer in die Versöhnungsgemeinde berufen, deren Name damals mit dem Gegenteil verbunden war: mit der Unversöhnlichkeit der Systeme. Fischer traf auf eine ungewöhnliche Situation. Seine Weddinger Gemeinde hatte eine Kirche, die sie nicht betreten konnte, denn sie stand auf der anderen Straßenseite der Bernauer und gehörte zu Ostberlin. Und seit dem 13. August 1961 lag sie zudem auf dem Todesstreifen. Die Bilder dieses Tages kennt jeder. Den Grenzsoldaten, der mit einem Sprung den Stacheldraht überwindet, die Menschen, die sich über die provisorische Stacheldrahtsperre hinweg zuwinken oder aus Fenstern auf die Bernauer Straße springen. Denn die Häuser der Ostseite gehörten zwar zum sowjetischen Sektor, die Gehwege jedoch lagen im Westen.
Als Fischer ankam, war die östliche Seite der Bernauer Straße eine Geisterhäuserzeile mit zugemauerten Fenstern. Gegenüber begann gerade der Abriss des alten Wedding. Pfarrer in dieser Gegend zu werden, war nicht gerade ein Traumjob. Seine Vorgänger waren gerade an dem Versuch gescheitert, die Kirche durch Veranstaltungen mit Alkoholausschank wieder attraktiv zu machen. Wer wollte schon in einer Gegend wohnen, die auf drei Seiten von der Mauer umgeben war, in der die Betriebe dichtmachten und die Kneipe der Gipfel der Kultur war? "Kaum hatte ich mich bei den Leuten vorgestellt, waren sie auch schon weggezogen, ins Märkische Viertel oder in die Gropiusstadt", erzählt Fischer. Seine Hauptarbeit war damals, die Gemeinde zusammenzuhalten. "Am Anfang nahm ich mir vor, alle drei Tage ein Foto der Straße mit den Grenzanlagen und der Kirche zu machen. Aber ich kam nicht dazu, weil ich Tag und Nacht zu tun hatte." Die Situation der Grenze mit ihren Suchscheinwerfern, Hundelaufanlagen und von Kaninchen ausgelösten Alarmanlagen wurde ihm vor allem dann bewusst, wenn Besuch aus der Bundesrepublik fragte, wie er es hier bloß aushielte. Vom Alltag des Grenzgefühls erzählt in Fischers Augen am deutlichsten ein Foto aus seiner Ausstellung: Es zeigt einen älteren Herrn und eine Diakonissin am Bushaltestellenhäuschen gegenüber dem Gemeindehaus in den siebziger Jahren. Während hinter ihnen Grenzsoldaten dabei sind, die Mauer zu erneuern, warten sie gelangweilt auf den Bus.
Eines Tages, es war der 28. Januar 1985 und Fischer war gerade in den Vereinigten Staaten, sah er im Fernsehen der Sprengung seiner Kirche zu. "Ich schalte an und sehe, wie mein Kirchturm umfällt. Gerade in diesem Moment. Als ich wieder nach Berlin kam, lag nur noch ein Haufen Steine da." Eine Fotoserie über deren Schreibtisch bildet das Unglaubliche ab, wovon Fischer gerade erzählt: der Kirchturm, der Bild für Bild weiter nach rechts kippt und schließlich in einer Staubwolke verschwindet.
Zu diesem Zeitpunkt gehörte der Gemeinde das Kirchengrundstück nicht mehr. Sie hatte auf Bitten des Ostberliner Konsistoriums einem Tausch gegen ein Grundstück im Neubaugebiet Hohenschönhausen zugestimmt, auf dem ein evangelisches Gemeindezentrum errichtet werden sollte. "Wir haben kürzlich eine Studie in Auftrag gegeben, weil wir wissen wollten, warum die Kirche genau zu diesem Zeitpunkt gesprengt wurde. Leider weiß ich es nach der Lektüre immer noch nicht." Stattdessen erhob der Autor den Vorwurf, die Versöhnungsgemeinde und mit ihr Manfred Fischer sei mitschuldig an der Sprengung der Kirche, denn sie habe sich nicht lautstark gegen den Grundstücksdeal gewehrt und sich somit zum Handlanger der Diktatur gemacht.
Kontroversen ist Fischer gewohnt, die bleiben beim Thema Mauer und Gedenken nicht aus. Nun, da geplant ist, die Gedenkstätte um das gesamte Areal entlang der Bernauer Straße zu erweitern, so dass im früheren Grenzstreifen Spuren der Vergangenheit sichtbar bleiben, wird abermals Kritik laut. Ein Stadtplaner behauptete kürzlich, eine erweiterte Mauergedenkstätte verschärfe die soziale Trennung in der Gegenwart: Auf der einen Seite die "Plumpe", eine anrüchige und arme Gegend, dominiert von Satellitenschüsseln an renovierungsbedürftigen Betonbalkonen und auf der anderen Seite aufwendig renovierte Gründerzeithäuser und neugebaute Stadtvillen mit Penthäusern und großen Veranden. Der Austausch zwischen beiden Seiten sei nicht gerade rege. Eine Schneise zwischen den ungleichen Stadtvierteln käme den Anwohnern gerade recht.
Fischer widerspricht. Zu statisch ist ihm die Auffassung von der Freifläche als Schneise zwischen einem ewig "guten" und einem ewig "schlechten" Teil der Stadt. "Es ist ja nicht so, dass man auf der Weddinger Seite nicht wohnen kann", meint er. "Ich selbst tue das seit 33 Jahren. Außerdem können abgestürzte Viertel ein Labor werden, wenn junge Leute auf der Suche nach preiswerten Wohnungen zuziehen. Und das passiert hier im Moment." Für ihn ist die Kapelle der Versöhnung eine Brücke, auf der sich beide Seiten treffen können.
Der Grundriss der alten Kirche ist heute durch ein Kiesbett markiert. Zu ebener Erde stehen die geretteten Glocken. Die Kapelle wurde auf dem alten Chorraum und über der freigelegten Kellertreppe der alten Kirche errichtet. Wenn nicht gerade eine Gruppe Touristen hereinkommt, ist es ein Ort der Stille mitten in der Stadt. Der ovale Kern des Gebäudes ist aus Stampflehm. Die äußere Hülle aus Holzlamellen, die Platz für einen Wandelgang lässt, gibt dem Bau etwas Luftiges, als sei er im Gegensatz zur alten steinernen Kirche bei der nächsten Bedrohung durchaus in der Lage, abzuheben und einfach wegzufliegen.
Und wie sieht der Alltag aus in einer Gemeindekirche, die Teil einer gutbesuchten Gedenkstätte ist? Wie in allen Kirchen werden sonntägliche Gottesdienste gehalten, Paare getraut, Babys getauft und konfirmiert. "Es gibt viele Pärchen, die auf dem ehemaligen Todesstreifen heiraten wollen, weil der eine aus dem Osten und der andere aus dem Westen ist." Und manche Ost-West-Paare lassen ihre Kinder hier taufen. Sechsmal pro Woche findet in der Kapelle eine Andacht für je einen Mauertoten statt. Im Mittelpunkt der Andacht steht dessen Biographie. Jeden Tag bekommt so ein anderer Mensch "sein Gesicht zurück". Kritiker erheben den Einwand, man solle an dieser Stelle, an der Mauer, statt zu versöhnen, die Wunde offen halten. Fischer versteht diesen Vorwurf nicht. "Eine Wunde bewusst offen zu halten, hat doch etwas ganz Unmenschliches".
Fischer erzählt gestenreich, nichts hält still an ihm. Dass er auf die Sechzig zugeht, mag man nicht glauben. Und dass er von den Jahren spricht, die ihm in der Gemeinde noch bleiben. "Ich bin ein Jahrgang, der sein ganzes Leben lang in Reformen reingeraten ist. Schulreform, Studienreform, Kirchenreform. Der Mauerfall passte da gut hinein. Und die Kapelle ist das, was von mir bleibt."
Draußen will der graue, neblig-nasse Tag nicht aufhören. Bu, Cille und Lars haben ihre Namen in den Stahl des Denkmals gekratzt. Gleich nebenan mahnt eine Werbewand, dass es immer noch ein geteiltes Land auf der Welt gibt: Korea. Von weitem sieht sie in ihrer schreienden Farbigkeit aus wie ein Propagandafoto des Nordkoreanischen Informationsministeriums. Die bunten Regenschirme haben sich bis zum Zaun der Kapelle der Versöhnung vorgearbeitet. Dort kann man auf laminierten Blättern etwas über die Geschichte erfahren. Die Schirme wogen hin und her wie der Roggen, der bis zur Ernte auf dem ehemaligen Todesstreifen neben der Kapelle stand. Aus dem Mehl der Körner wurden Oblaten für das Abendmahl gebacken.
An der gleichen Stelle, wo einst die Diakonissin im Wartehäuschen der Bushaltestelle stand, warten an diesem Mittag sieben Spanier auf die Straßenbahn. Sie sind ungeduldig. Der Programmpunkt Mauer ist abgehakt, jetzt wollen sie zur Kastanienallee, wo die Cafés sind und die Geschäfte. Gegenwart eben.
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