Eine Geschichte im nächtlichen Freibad zu beginnen ist keine schlechte Idee. Die handelnden Figuren präsentieren sich nackt und bloß, es gibt die Schüchternen und die Draufgänger, die Wasserscheuen und die Bahnenzieher, Dicke und Dünne, man kann Rollwenden, Bauchklatscher und Peepshow-Elemente einbauen und die Widerstandskraft der in die Büsche Geflohenen testen, in dem Moment, wenn die Polizei kommt und die Klamotten einsammelt. Denn natürlich ist im Sommer 1989 in Dresden das Betreten des Freibads außerhalb der Öffnungszeiten verboten, das Nachtbaden ist ein Abenteuer in einer ansonsten recht reizarmen Jugend.
Als wir träumten
„Man kann wirklich nicht sagen, dass wir keinen Spaß gehabt hätten im letzten Sommer des Sozialismus, jedenfalls gilt das für S., für mich und alle, die sich nachts im Freibad trafen.“ Der da aus dem Off spricht, ein namenloser Ich-Erzähler in Peter Richters autobiografischem Debütroman 89/90, erinnert sich Jahrzehnte später an das Jahr, als er 16 wurde. Die Polizei ist am Anfang der chronologischen Erzählung noch eine Ordnungsmacht und ein Jahr später, wenn sie endet, dabei, wieder eine zu werden, aber in einem anderen Staat mit neuen Uniformen. Dazwischen ist das „wunderbare Jahr der Anarchie“, wie es später heißen sollte. Bei Peter Richter ist es nicht nur wunderbar, sondern auch schmerzhaft.
Ein Roman, der zwischen Sommer 1989 und der Wiedervereinigung 1990 in Dresden spielt und dessen Erzähler bis zum Beginn der Handlung wohlbehütet in einem Ärztehaushalt in einer Villa auf dem Weißen Hirsch wohnt (obwohl der Name nie fällt, ist die Verortung doch ziemlich eindeutig), hat mehrere Klippen geschickt zu umschiffen. Zum einen muss er sich in jeder Hinsicht von jenem anderen Roman abheben, mit dem bildungsbürgerliche Leser in der Bundesrepublik seit ein paar Jahren sozusagen authentisch das Leben in dieser Dresdner Enklave vor der Wende verbinden, Uwe Tellkamps Der Turm. Zum anderen hat Clemens Meyer in seinem Roman Als wir träumten (2006), der gerade von Andreas Dresen verfilmt wurde, eine ähnliche Geschichte erzählt, die zur gleichen Zeit unter fast gleichaltrigen Jungen spielt, nur dass es Leipzig ist und nicht Dresden und es etwas subproletarischer zugeht.
Mädchen sind in beiden Romanen eher Staffage, die Flamme des Ich-Erzählers in 89/90 brennt in der Mitte von Richters Roman mit einem sowjetischen Säbelzahntigerdompteur durch. Die Abgrenzung zum „sandsteinernen Tellkamp-Text“ (aus Richters wunderbarem und unbedingt lesenswertem Essay Schlund über Pegida in Dresden) gelingt 89/90 spielend, steigt doch der Held im Herbst 1989 vom Berg herab und entfernt sich dieses eine Jahr so weit wie möglich von seinem Herkunftsort, was hier heißt, in die Dresdner Neustadt zu den Autonomen, wo er sich, in Lederjacke, mit Dreadlocks, Palästinensertuch und ungeputzten Springerstiefeln, brutale Kämpfe mit Skinheads und selbsternannten Gauleitern aus den Plattenbaugebieten der anderen Uferseite liefert.
Zu Clemens Meyers Werk ist die Abgrenzung schon schwieriger. Der Dani in Als wir träumten ist dem Ich-Erzähler in 89/90 ziemlich ähnlich. Die Weggefährten von damals sind tot, vorbestraft, verschollen oder handeln mit Immobilien, aber einer ist da, der Zeugnis ablegen kann über diese Zeit, ein Überlebender, der im Epilog noch die Verluste anzeigt. Clemens Meyer ist der selbstbewusstere Erzähler, der der Wirkung seiner Sprache blind vertraut. Peter Richter bleibt auch als Romancier immer auch Kulturkorrespondent. Im Fernsehen würde das, was er macht, unter dem Namen Dokufiktion laufen, eine bebilderte und personalisierte Chronik der Wende mit Spielfilmeinschüben. Dabei hat der Roman vor allem im zweiten Teil starke Szenen. Der dritte Teil erzählt in kurzen Blitzlichtern, wie heftig die Gewalt rechter Skins war und wie sehr die Polizei in diesem Jahr versagt hat, was die meisten von uns, die damals dabei waren, längst wieder verdrängt haben, trotz der Enthüllungen über den NSU.
Mannigfaltig reifen
89/90 ist weniger „Coming of Age im Schatten der Weltgeschichte“, wie es im Verlagsmarketing ein wenig reißerisch heißt, sondern Bildungsroman par excellence und nach der altehrwürdigen Definition von Wilhelm Dilthey, als Roman eines Mannes nämlich, „wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er aber nun mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfaltigen Lebenserfahrungen heranreift“, um schließlich dann doch noch zu einem nützlichen Glied der (neuen) Gesellschaft zu werden. Ja, auch die „Reflexionen und Rückblicke an den Angelpunkten der Erzählung“ fehlen nicht, denn der Held geht aus der erzählten Zeit heraus und kommentiert das Geschehen ab und an aus der Gegenwart 25 Jahre später.
Ich werde als Leserin mit ebenso viel Erfahrung das Gefühl nicht ganz los, der Roman ist für eine bestimmte Gruppe von Leuten geschrieben, der ich selbst nicht angehöre. Leute, die nicht dabei gewesen sind und denen Richter jetzt die ganze Geschichte noch mal aus seiner Sicht erzählen will. Vielleicht hat er als gegenwärtiger Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York ja US-amerikanische Leser im Blick. Und damit die es nicht zu schwer haben, sind Anmerkungen als Fußnoten über den ganzen Roman verteilt, die zum hundertsten Mal Sachen wie Konsummarken, ABV oder Nationale Front erklären, sozusagen als Dienstleistung für Leser, die das sonst erst im Internet suchen müssten. Der Autor traut da seiner sprachlichen Stärke nicht, die er ja zweifellos hat? Vor 1989 haben die Dresdner auch Julio Cortázar und William Faulkner verstanden, ohne jemals in Buenos Aires, Paris oder den Südstaaten gewesen zu sein, weil diese Erzähler ihnen Räume geöffnet haben, von denen sie sicher waren, sie nie zu Gesicht zu bekommen. (Als man später dorthin reisen konnte, hat man sie auch meist nicht wiedererkannt.)
Peter Richters Ich-Erzähler braucht ein bisschen länger, um wieder in die ihm per Herkunft zugedachte Rolle zurückzuschlüpfen. Seine Freunde vom Weißen Hirsch sind im Sommer 1990 längst wieder zu Hause. „A. seufzte, so wie meine Mutter manchmal seufzte, wenn ich die Springerstiefel schnürte. Der wird schon wieder.“ Und W. schreitet mit Aktenköfferchen und Trenchcoat durch die Gänge der Schule „wie ein Unterhändler auf dem Weg zur Unterzeichnung des Einigungsvertrages. Dabei war sein Ziel nur das Klassenzimmer 115.“
Am Ende treffen sich eben noch erbitterte Feinde im Luftschutzkeller bei Techno und Stroboskopgeflacker. „Das, brüllte S. mir ins Ohr, das sei das Neue, das ist die Zukunft, das hier sind die Neunziger.“ Unpolitisch. Der Rave als Übungsfeld für die Turbogeschwindigkeit des Neoliberalismus.
Die Chronologie endet mit dem neuen Nationalfeiertag, den der Held mit Molotowcocktails verhindern wollte. „Wir trafen uns morgens um neun, fuhren mit der Bahn nach Bad Schandau und liefen an den Überresten der Feierlichkeiten vorbei. Deutschlandfahnen, Bierflaschen, Erbrochenes. Die Menschen schliefen jetzt. Wenn sie wieder aufwachten, würden sie arbeitslos sein, und wir fanden das gut und richtig.“ Das Freibad wird trockengelegt. „Heute ist ein Kletterpark auf dem Gelände. Die Leute können sich da an Seilen von Baum zu Baum hangeln, wenn ihnen das Spaß macht.“
Info
89/90 Peter Richter Luchterhand 2015, 416 S., 19,99 €
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